Jeder kennt dieses Gefühl bestimmt: Morgens wacht man auf und spürt instinktiv, dass man einen super Tag vor sich hat, an dem alles super läuft, an dem man sich keine Sorgen machen muss und ganz viele tolle Sachen passieren. Die Sonne scheint einem beim Aufwachen aus einem wolkenlosen Himmel ins Gesicht und man fühlt sich einfach nur gut.
So fühlte ich mich jedenfalls am ersten Morgen, als ich in Paris aufwachte. Wir saßen noch im Zug, die meisten schliefen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würden Frau Lacombe und Herr Nowitzki durch die Abteile laufen und alle zum baldigen Ausstieg in Paris-Est aufwecken. Aber noch war alles wunderbar ruhig und schön.
Ich sah aus dem Fenster des Zuges. In der Ferne war der Eiffelturm bereits auszumachen. Ganz dezent zwar, aber man sah ihn. Der Zug fuhr gerade über einen Kanal.
„Hey, Aurélie!“ Ich rüttelte an der Schulter. „Guck mal!“
„Mmm, was ist denn los?“, brummelte sie ganz verschlafen.
„Wir sind fast da!“, teilte ich ihr mit. Da sprang sie sofort ans Fenster, guckte heraus und rief: „Wunderschön!“
Langsam wachten auch Anna und Lea auf. Genauso wie Aurélie und ich schauten sie begeistert aus dem Fenster. Mit unseren Blicken saugten wir alles auf, was wir durch das leicht zerkratzte Zugfenster sehen konnten. Ich war wirklich der Meinung, dass es sich schon dafür gelohnt hatte, auch wenn ich so etwas sonst nie so schnell dachte. Als ich das den anderen Mädels erzählte, sahen sie es ganz genauso. Besonders, natürlich, Aurélie.
„Welch wunderbares Land meine Ahnen bewohnt haben!“, schwärmte sie.
Doch wir sollten nicht mehr lange das Vergnügen haben, aus dem Fenster zu starren. Unsere Begleitpersonen durchquerten wie erwartet unser Abteil und forderten uns dazu auf, unsere Sachen zu nehmen und uns für die Ankunft bereitzumachen.
Als unsere Reisegruppe schließlich in der Gare de l’Est stand, guckten wir weiter durch die Gegend, mit aufgerissenen Augen und offen stehenden Mündern. Sicher haben wir ausgesehen wie die kompletten Idioten. Mir fiel auf, dass bei einigen männlichen Vertretern noch ausgesprochen verkaterte Blicke dazukamen. Wie viel die wohl im Zug getrunken hatten?
Doch nicht alle unsere Männer guckten müde durch die Gegend. Herr Nowitzki war, wie immer eigentlich, blendend gelaunt und schäkerte mit Frau Lacombe. Die lachte die ganze Zeit und machte überhaupt insgesamt einen glücklichen Eindruck.
Ich schaute sie prüfend an. Lag das jetzt daran, dass sie wieder in ihrem Heimatland war, oder lag es an ihrem jungen, man war versucht zu sagen knackigen Kollegen? Oh là là! Wozu das nur führen würde…
Ich drehte mich herum, weil ich das Lea und Anna zeigen wollte. Doch da fiel mir wieder etwas auf.
Freddy starrte mich wieder so an. In diesem Augenblick zuckte mir ein Gedanke durch den Kopf: Die Kraft von eindringlichen Blicken wurde in der modernen Psychologie eindeutig unterschätzt! Jedenfalls hatte ich so etwas noch nie erlebt und mir wurde auf einmal ganz anders.
Was hatte dieser Junge nur vor? Denn er musste etwas vorhaben, so viel stand fest. Freddy drehte sich mal ein wenig nach links, mal ein wenig nach rechts, aber seine Augen wendeten sich einige Minuten nicht von mir. Zum Schluss lachte er sogar.
Beunruhigt drehte ich mich zu meinen drei Lieblingsberaterinnen.
„Habt ihr das auch gesehen?“
„Was denn?“, fragte Aurélie, was hier eher wie ‚Waf benn‘ klang, da sie zum Frühstück ein Croissant mampfte.
„Freddy!!“
„Wieso, was ist denn mit ihm!?“, wollte nun auch Lea wissen.
„Er hat mich schon wieder angestarrt!“
„Mmm, schon wieder?“, fragte Lea, nun etwas anzüglich.
„Ja!“, antwortete ich. „Als wir gestern Abend am Gleis gewartet haben, hat er das gemacht! Ich würde nur zu gern wissen, wieso?“
„Na, wieso wohl?“, antwortete Anna in ihrer typischen Art mit einer Gegenfrage. „Der Junge ist in dich verknallt, ganz offensichtlich!“
„Oh, nein, bitte nicht!“
„Was soll denn an dem so schlimm sein?“, brummte Lea leicht geistesabwesend, weil dieser braunäugige Schönling von vorhin sich näherte.
„Ich bitte euch! Seht ihn euch doch nur mal an! Ich möchte gar nicht, dass sich so jemand in mich verliebt! Ohne ihn beleidigen zu wollen, aber ich könnte nie im Leben was anfangen!“
„Ja, ja, das stimmt wohl“, pflichtete Aurélie mir bei.
„Sagt mal“, meinte ich lauernd, „ihr habt nicht zufällig irgendwas mit Freddy und mir vor, oder?“
Und in diesem Augenblick ereignete sich eine Szene, wie man sie sonst nur aus Filmen kennt. Alle liefen, ohne mir auf die Glaubensfrage zu antworten, mit einer kleinen Ausrede weg.
„Oh, da kommt Alex, ich muss sofort zu ihm hin!“, rief Lea und beeilte sich, ihm entgegenzulaufen.
„Ich hab noch eine dringende Frage an Frau Lacombe!“, behauptete Aurélie und verschwand ebenfalls.
„Und ich muss dringend mit Marie reden, wegen heute Abend!“, schob Anna vor und husch, weg war sie.
Anna? Mit Marie reden? Wegen heute Abend? Was sollte das denn nun schon wieder? Ich war irgendwie noch verwirrter als vorher.
Aber gut. Meine Freundinnen und meine Schwester waren eigentlich nicht die Art von Mädchen, die mich mit einem Jungen verkuppeln würden. Anna würde mir in so einem Fall höchstens zureden, dass ich den Betreffenden anspreche, selbst aber keinen Finger rühren. Aurélie hätte wohl wieder ganz viele romantische Vorstellungen, würde aber auch eher Zuschauerin bleiben. Und Lea, hmm…, na ja, die war eh abgelenkt, da sie momentan selbst einen Kerl in Aussicht hatte.
Schon am ersten Tag in Paris ging es richtig rund. Nachdem wir unsere Jugendherberge bezogen hatten, gab es grad mal eine kleine Führung durch die Unterkunft und schon begannen unsere Streifzüge durch die französische Hauptstadt.
Natürlich standen die großen Touristenattraktionen ganz oben auf der Tagesordnung. Zum Eiffelturm sollte es gehen, danach würden wir uns zum Arc de Triomphe sowie zum Musée d’Orsay bewegen. Nach der Besichtigung der Kathedrale Notre-Dame hätten wir dann einige Stunden Freizeit, sollten aber nicht die Ile de la Cité verlassen.
„Na toll! Wo sollen wir denn da billig essen?“, rief Lea dazwischen, wurde aber von Frau Lacombe zurechtgewiesen: „Soyez silente, s’il vous plaît!“ Wieso bestand sie eigentlich immer darauf, mit ihren Schülern Französisch zu reden?
Herr Nowitzki erklärte uns jetzt – Gott sei Dank auf Deutsch – den Weg zu einem netten, kleinen Bistro, wo man laut seiner Auskunft günstig speisen könne. Dies steuerten wir auch in der temps libre, wie Frau Lacombe es genannt hatte, an. Nur befand sich dort, dank der Ankündigung von Herrn Nowitzki, die halbe Reisegruppe. Ich schaute mich im Bistro um. Isa erzählte etwas und fuchtelte dabei mit ihrem Besteck in der Luft herum, Sören beschrieb seinem Gegenüber anscheinend, wie voll derundder gestern Nacht gewesen war, und in einer Ecke diskutierten Jessica und Lisa über die neueste Pariser Mode.
„Das ist ja wie beim McDonald’s auf der Hamburgfahrt, wisst ihr noch?“, raunte Anna zu Aurélie und mir.
Wir nickten. „Also, ich habe keine Lust mehr, hier zu bleiben!“, rief sie. „Wer ist dafür, dass wir uns was anderes suchen?“
Aurélie und ich riefen sofort einstimmig: „Ich!“ Lea zögerte noch etwas. Offensichtlich wollte sie mit der Entscheidung noch warten, bis sie wusste, ob sich ihr braunäugiger Lieblingsmitschüler hier aufhielt. Suchend glitt ihr Blick über die zirka fünfzig Schüler und die paar anderen Gäste. Schließlich schien sie festzustellen, dass er nicht hier war.
„Okay, lasst uns gehen!“, meinte nun auch sie.
Wir wanderten noch ein bisschen auf der Ile de la Cité herum und sahen dabei noch einige zugegebenermaßen ganz hübsche Gebäude und Häuser. Irgendwann stießen wir auf ein kleines Lokal, in dem niemand saß und in dem es außerdem ziemlich billige Gerichte gab.
Wir orderten etwas, das der Kellner „petites pizzas“ nannte, und unterhielten uns. Aurélie schwärmte wieder, wie wundervoll Paris doch sei. „Diese ganzen Sehenswürdigkeiten waren einfach wunderschön! Ich finde, es hat sich wirklich gelohnt, mitzufahren.“
„Aber dieser Angeber von Lars!“, warf Anna ein. „Habt ihr das mit dem Goldenen Schnitt an der Notre-Dame mitgekriegt? Natürlich musste er wieder als Erster damit herausplatzen!“
Lea nickte. „Das ist wie bei unserem kleinen Bruder, der kann auch kaum was und ruft deswegen bei jedem neuen Buchstaben, den er lernt, wie toll er das kann.“
Ich kicherte.
„Ach, vergiss doch den Blödmann“, wischte Aurélie den negativen Punkt beiseite. „Von dem werden wir uns doch nicht die wunderschöne Fahrt vermiesen lassen!“ Verträumt guckte sie an die rosa bemalte Decke.
Oh Mann, dachte ich und warf Anna einen Blick zu. Die schien das Gleiche zu denken wie ich.
„Aber“, nun versuchte ich, einen wirksam negativen Einwand zu machen, „hast du die Bettler am Eiffelturm gesehen? Alle Touristen haben sie um Geld angehauen. Nur uns nicht, aber wir standen auch ziemlich weit weg.“
„Ja, dieser Gegensatz von Arm und Reich, das ist faszinierend…“, sagte Aurélie nachdenklich.
Verstört schauten Anna und ich uns an. Mittlerweile dachten wir nicht mehr, dass unsere gemeinsame Freundin ein bisschen zu sehr für Frankreich und seine Hauptstadt schwärmte, wir zweifelten ernsthaft an ihrem Geisteszustand. Auch Lea merkte langsam, wie Aurélie drauf war, denn sie fing ganz schnell ein neues Thema an.
„Ich habe übrigens mit Marie wegen heute Abend gesprochen“, informierte sie uns. Sofort dachte ich wieder an die Szene in der Gare de l’Est. Dann war das mit Marie also doch keine faule Ausrede gewesen…
„Heute Abend wollen wir auf den Zimmern Party machen“, hieß es. „Katja und Alex wollen alles besorgen.“
Die beiden waren sitzengeblieben und würden deswegen keine Probleme mit den Verkäufern bekommen, wenn sie Alkohol kaufen wollten. Sie waren achtzehn, bald sogar neunzehn. Aber wie wollten sie es anstellen, dass Frau Lacombe und Herr Nowitzki nichts bemerkten?
Als ich Lea das fragte, schien das überhaupt kein Problem zu sein. „Ach, das schaffen wir schon. Die Lacombe und der Nowitzki sind doch eh mit sich beschäftigt.“
Da hatte sie nicht ganz Unrecht…
„Irgendjemand hat gesagt, die machen heute Abend eine romantische Fahrt mit einem Bateau-mouche“, berichtete Anna. Das ‚romantische‘ betonte sie ganz besonders, damit auch jedem die Brisanz des Gerüchtes klar wurde.
„Cool, dann kann die Party heute Abend ja steigen“, freute sich Aurélie.
Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Nicht, dass ich Partys überhaupt nicht mochte, aber wenn es auf eine Saufparty hinauslief, bei der irgendwann nur noch alle in den Ecken hingen und ihren Mageninhalt ein zweites Mal studierten, sprich: kotzten, dann wollte ich heute Abend nicht dabei sein.
„Hey, Sara, wieso siehst du denn so griesgrämig aus?“; sprach mich Aurélie auf mein Gesicht an.
Wieso konnte man nicht einmal nicht lächeln, ohne gleich Unverständnis zu ernten?, dachte ich unwillkürlich.
Zaghaft wagte ich, Kritik an den Plänen zu äußern. „Muss das sein? Können wir nicht lieber irgendwohin fahren, zum Beispiel an die Place de la Concorde?“
Alle guckten schon ungläubig.
„Die soll sehr schön sein, ehrlich!“, schob ich hinterher.
Nachdem sie erst ungläubig geguckt hatten, brachen meine Freundinnen und meine Schwester nun in Lachen aus.
„Natürlich kommst du mit!“, befahl Lea, die sich als Erste wieder beruhigt hatte. „Das wird total lustig!“
Ich schaute immer noch skeptisch drein.
Nun schaltete sich Aurélie ein: „Ach, Sara, komm doch mit! Was sollen wir denn da ohne dich?“
Blöde Frage. Die Stadt besichtigen? Gerade du, Aurélie, solltest daran doch das größte Interesse haben, wo du doch so auf Frankreich abfährst!
„Wieso kommst du nicht mit? Es wird bestimmt total lustig, ehrlich!“
Und das sagte Anna? Gerade sie? Es war klar, dass wir hier über eine Saufparty redeten und sie hatte doch sonst nicht so viel mit Alkohol am Hut. Sie erzählte uns immer wieder, dass Alkohol überhaupt nicht nötig sei und trank höchstens mal an Silvester ein kleines Glas Sekt oder so.
Jetzt schauten mich alle Mädels erwartungsvoll an. Eigentlich hatte ich gar keine Lust, mit auf die Zimmerparty zu kommen.
Andererseits konnte es schon sein, dass es recht lustig wurde, wenn alle von uns versammelt waren. Zusammen hatten wir Mädels immer einen Riesenspaß. Hm.
„Na gut, ich überlege es mir.“
Ihre Gesichter hellten sich auf.
„Aber das heißt nicht, dass ich auch mitkomme! Verstanden?“, schob ich hinterher.
„Ja, ja“, war die einstimmige Antwort. Offensichtlich dachten Anna, Aurélie und Lea, dass ich auf jeden Fall mitkäme. Aber zu diesem Zeitpunkt stand meine Entscheidung noch nicht fest.