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Zum letzten Mal minderjährig, Teil 5

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Zwei Wochen später stand ich mit zirka hundert anderen Schülern, darunter meine Schwester Lea, sowie den Begleitpersonen an einem Gleis des Bahnhofs und gähnte herzhaft, denn es war schon ziemlich spät und ich hatte lange nicht mehr geschlafen.

Alle waren total aufgedreht. Besonders die männlichen Vertreter diskutierten angeregt über den Alkoholkonsum während der Fahrt. Wenn sie sich dabei bewegten, hörte man das Klirren der Bierflaschen in ihren Rucksäcken, die sie sich schon für die Hinfahrt besorgt hatten.

Die Hin- und die Rückfahrt waren jeweils in die Nacht gelegt, damit wir schlafen konnten. Die würden bestimmt alles andere machen, als Schlafen, dachte ich. Dabei galt die Parisfahrt als Schulfahrt, somit war Alkohol strengstens untersagt. Natürlich wusste jeder, dass sich so ganz vermutlich eh niemand daran halten würde.

Na ja, wie auch immer.

Wie ich gerade schon erwähnt habe, ist Lea auch mitgefahren. Über die genauen Gründe bin ich mir heute immer noch nicht so ganz im Klaren; vermutlich hatte sie unser Zuhause ebenfalls satt.

Es kann aber auch sein, dass es an diesem braunäugigen Schönling lag, der in ihren Deutschkurs ging und ebenfalls mitfuhr. Sie unterhielt sich gerade mit ihm und streute immer mal wieder ein Lachen oder ein geschicktes Schütteln ihrer Haare ein. Da hatten wir es wieder: Paris, die Stadt der Liebe. Hoffentlich würde sie nicht den Reinfall ihres Lebens erleben.

Bei Aurélie hofften Anna und ich ja darauf, damit sie endlich wieder normal wurde. Sie war am Aufgedrehtesten von allen und scheute sich auch nicht, die Lehrer mit ihrem gesamten Familienhintergrund zu beladen. Ich musterte ihre Gesichter. Beide versuchten, ihr Desinteresse gekonnt zu überspielen; Frau Lacombe durch gelegentliche Fragen und Herr Nowitzki durch sein altbekanntes charmantes Lächeln.

Wieso war Herr Nowitzki eigentlich die männliche Begleitperson? Soweit ich wusste, unterrichtete er doch gar kein Französisch. Ich ging mal kurz zu den dreien und fragte ihn: „Wie kommt es eigentlich, dass Sie auf dieser Exkursion mitfahren?“

„Nun“, antwortete mein Deutschlehrer, „von den anderen männlichen Lehrern hatte niemand Zeit. Und da ich zur Hälfte Franzose bin, habe ich mich bereit erklärt, mitzufahren. Ich wurde ja auch so nett gebeten…“ Hier drehte er sich zu Frau Lacombe um und lächelte sie an, worauf sie lachte.

Oh Mann, dachte ich, denn wie bereits erwähnt, sah sie meiner Mutter sehr ähnlich. Zu Hause würde es sicher nicht so locker-flockig abgehen wie hier am Bahnsteig. Bestimmt machten sich meine Eltern gegenseitig Vorwürfe, weil sie mir erlaubt hatten, mitzufahren. Lea hatte für diese Fahrt ja keine elterliche Erlaubnis mehr gebraucht, die Glückliche.

„Also, das finde ich ja unheimlich interessant, dass Sie zur Hälfte Franzose sind, Herr Nowitzki. Bei mir war es ja so, dass meine Oma…“ Und schon hatte Aurélie das Thema zurück auf die französischen Wurzeln ihrer Familie gebracht.

Wie würde sie wohl die Hauptstadt des Landes finden, auf das sie seit kurzem so abfuhr? Nicht, dass wir ihr etwas Schlechtes wünschten, aber ich hoffte wirklich, dass bei ihr die Situation eintreffen würde, die Anna bereits vorausgesagt hatte.

Ich ging zu Anna, die sich gerade einen Schokoriegel aus dem Automaten neben den Fahrplänen zog.

„Guck mal“, sagte ich und nickte zum französischen Trio herüber. „Jetzt, wo wir ihr unser Desinteresse gezeigt haben, nagelt Aurélie andere fest.“

Anna sah zum Grüppchen herüber. „Tja“, antwortete sie nur.

„Na ja, vielleicht macht sie das nur, weil sie beleidigt ist. Einfach stumpf wegzugehen, das war von uns wohl auch nicht so ganz in Ordnung.“

„Ja, das habe ich auch schon gedacht“, gab Anna achselzuckend zu. Wir setzten uns auf eine noch freie Metallbank, etwas abseits von den anderen.

„Am besten sprechen wir sie gleich mal an, wenn wir im Zug sitzen“, schlug ich vor.

„Okay“, stimmte Anna zu. „Ich bin mir sicher, sie versteht das, wenn wir es ihr erklären.“

Zehn Minuten später traf der Regionalzug ein, der uns nach Frankfurt am Main bringen sollte. Dort würden wir in den Nachtzug nach Paris umsteigen.

Anna und ich schafften es, als die Ersten einzusteigen, um uns gute Plätze zu sichern. Wir ergatterten einen Vierer und setzten uns so hin, dass ich nicht rückwärts fahren musste. Denn ich hasse Rückwärts-Fahren, vor allem im Zug.

Aurélie betrat den Zug und ging in unsere Richtung. „Hey, Aurélie, willst du dich nicht zu uns…“, rief Anna, doch Aurélie ging an uns vorbei, ohne uns auch nur anzugucken.

„…setzen“, beendete Anna den Satz und fuhr fort: „So viel dazu. Die ist sauer, hundertprozentig. Eine von uns sollte nachher mal hingehen und mit ihr reden.“

„Stimmt. Ich werde das machen, denn schließlich war es ja meine Idee, einfach wegzugehen“, schlug ich vor.

Anna warf ein: „Ich hätte dich aufhalten können“, und grinste dabei schief. „Wir sollten es beide machen.“

„Na gut.“

In diesem Augenblick betrat Lea den Zug. Sie besprach noch irgendeine letzte Sache mit diesem braunäugigen Schönling von vorhin, dann ging er nach hinten zu seinen Freunden und sie ging nach vorne, zu uns. Natürlich lächelte Lea ihn noch einmal besonders verführerisch an, bevor sie sich trennten.

Danach setzte sie sich auf den Platz, der eigentlich für Aurélie bestimmt gewesen war. „Ach, ist das schön, drei Tage von zu Hause weg zu sein“, seufzte meine große Schwester glücklich.

„Ich bin auch froh darüber“, meinte ich lauernd, „nur ist bei mir kein einsachtzig großer Kerl daran schuld.“

„Sei nicht so neugierig, kleine Schwester“, entgegnete Lea und gab mir einen Stups auf die Nase. „Du bist noch viel zu jung für so was.“ Sie lachte.

„Was heißt hier klein“, verneinte ich entschieden, „ich bin nur einen Zentimeter kleiner als du und anderthalb Jahre jünger. Genauer gesagt, ein Jahr, fünf Monate, drei Wochen, einen Tag, vier Stunden und drei Minuten.“

Lea und Anna fingen schallend an zu lachen. „Mit welchem Taschenrechner hast du das ausgerechnet?“, fragten sie zum Scherz.

„Ha, ha, ha. Aber ich bin so froh, dass ich von zu Hause weg bin, ganz ehrlich. Das Gezoffe hätte ich keinen Tag länger ausgehalten.“

„Das sehe ich ganz genauso. Ich hoffe übrigens immer noch, dass Mama das Angebot von ihrer Freundin nicht annimmt. Das würde doch die gesamte Haushaltsplanung durcheinander schmeißen.“

„Mir ist es relativ egal, wie sie sich entscheidet. Ich kann beides verstehen“, äußerte ich meine Meinung. „Hauptsache, es gibt hinterher keinen Streit.“

„Wenn eure Ma nicht wieder arbeitet, wird sie vielleicht für den Rest ihres Lebens darüber jammern, was sie für eine großartige Chance hatte, die sie nicht genutzt hat“, gab Anna zu bedenken.

„Auch wieder wahr“, antwortete Lea nachdenklich.

Überraschend kam Aurélie zurück. „Hi, worüber redet ihr gerade? Tut mir Leid, dass ich einfach an euch vorbeigerauscht bin, aber ich musste mir unbedingt eine Info über Europareisen besorgen.“ Auf dem Bild war der Eiffelturm abgebildet.

Anna und ich tauschten einen Blick. Es sah so aus, als hätte Aurélie das gerade ernst gemeint.

„Wir reden über zu Hause“, begann ich.

„Was war denn los?“, fragte Aurélie.

„Unsere Mutter hat ein Angebot von einer Freundin bekommen. Es geht darum, dass sie in deren Arztpraxis miteinsteigt, was bedeutet, dass sie wieder arbeitet.“

„Oh“, machte unsere Freundin.

„Ich bin total dagegen“, musste Lea natürlich gleich wieder ihre Meinung kundtun.

„Aber was meinst du dazu?“, wollte Aurélie wissen.

„Mir ist es relativ egal“, antwortete ich. „Das Einzige, was mir an der ganzen Sache nicht gefällt, ist, dass sich zu Hause alle deswegen zoffen.“

„Phh“, kam es aus Leas Ecke. Sie zog die Augenbrauen hoch. Zweifellos dachte sie an den Streit von vor ein paar Wochen. Seitdem herrschte bei uns zu Hause so dicke Luft, dass man sie mit dem Messer hätte schneiden können. Wenn wir uns sonst beim Abendessen trafen, hatten wir immer miteinander geredet, über Schule, Arbeit, die aktuelle Politik oder sonstwas. Jetzt wurde nur noch das Nötigste ausgetauscht.

„Lange hätte ich es zu Hause auch nicht mehr ausgehalten“, erzählte Lea. „Deswegen bin ich mitgefahren.“

„Stimmt. Aber das kann nicht der Hauptgrund gewesen sein“, bemerkte ich spitz und nickte währenddessen in die Ecke, in der dieser eine Typ von vorhin saß. Der schien sich auch tüchtig über diese Reise zu freuen, denn er guckte Lea die ganze Zeit an. Immer, wenn eine von uns zurückschielte, tat er so, als würde er nur eine Fliege beobachten oder so ähnlich.

„Ach, hör auf“, brummte meine große Schwester.

Im Zug von Wetzlar nach Frankfurt versuchten wir, ein wenig zu schlafen, was uns aber natürlich überhaupt nicht gelang. Der Hauptgrund dafür waren die Jungs, die irgendwelche Lieder sangen und ab und an ihre Bierflaschen klirren ließen. Natürlich so, dass Frau Lacombe und Herr Nowitzki es nicht bemerkten. Aber die waren ohnehin abgelenkt, denn sie schäkerten miteinander und lachten häufig. Grund Nummer zwei dafür, dass wir im Regionalexpress nicht schlafen konnten.

Na ja, nicht so schlimm. Die Fahrt dauerte eh nicht lange. Um drei vor elf, also drei Minuten zu früh, fuhr der Zug in den Frankfurter Hauptbahnhof ein.

Unsere Reisegruppe ging sofort geschlossen zum Gleis, an dem wir gleich in den Nachtzug einsteigen sollten. Da wir aber zu früh waren, stand der Zug noch nicht bereit.

Ermattet stellte ich meine riesengroße Reisetasche und den Rucksack erst einmal auf dem Boden ab und setzte mich dann auf denselbigen. Ich atmete aus.

Da hörte ich lautes Gelächter. Ich drehte mich zur Ecke, aus der es gekommen war, und erblickte unsere Begleitpersonen. Na, die verstanden sich ja immer noch prächtig. Das wunderte mich bei Herrn Nowitzki allerdings nicht wirklich. Mit seiner Art und seinem Aussehen schaffte er es einfach, jede Frau um den Finger zu wickeln.

Ich schaute mir Frau Lacombe genauer an und wieder einmal fiel mir auf, wie ähnlich sie meiner Mutter doch sah. Frau Lacombe lachte jetzt, für meine Mutter ging es zu Hause bestimmt nicht so lustig zu.

Wahrscheinlich würde Mama alles dafür geben, so eine, hm, lebenslustige Frau wie meine Französischlehrerin zu sein. Bestimmt sah sie den Wiedereinstieg in die Arbeit als ersten Schritt dahin an. So gesehen fand ich es echt schade, dass der Rest der Familie sich so gegen Mamas Arbeitswunsch stellte.

Na toll! Da hatte ich mich für Paris gemeldet, weil ich mich von zu Hause ablenken wollte, und hatte das genaue Gegenteil erreicht. Ich seufzte und drehte meinen Kopf traurig in die andere Richtung.

Da passierte etwas. Jemand hob meinen Blick auf und hielt ihn fest, wenn man das mal so sagen kann. Dieser Jemand war Frederik, in unserem Jahrgang besser bekannt als Freddy.

Er war ein ziemlich schräger Vogel. Seine Haare trug er raspelkurz und orange, er trug ständig irgendwelche Band-T-Shirts (von total unbekannten Bands), und es soll Leute geben, die ihn außerhalb des Unterrichts noch nie reden gehört haben. Außer seinen Freunden vielleicht.

Irgendwas irritierte mich an der Art, wie er mich anstarrte. Von der Seite, den Kopf leicht nach unten geneigt. Und außerdem ließ er meinen Blick wirklich nicht los, Freddy schaute mich die ganze Zeit an, ich verstand nicht, wieso und zog meine linke Augenbraue fragend hoch, doch Freddy erklärte nichts und wendete seine Augen auch nicht von mir ab.

Komisch. Irgendwo hatte ich diese Sorte Blicke doch schon mal gesehen. Wo war das nur?

Bevor mir die Antwort einfiel, fuhr der Nachtzug nach Paris auch schon ein und Freddy und ich setzten uns in zwei entfernte Abteile. Ich dachte über diese Situation am Gleis auch nicht weiter nach. Dazu war ich eh viel zu müde.

Über kitschautorin

Ich bin Früh-ins-Bett-Geherin. Im Internet zu Hause. Ehemalige Blutspendenanmeldungshilfe. Gelernte Übersetzerin für Englisch und Französisch. Gegen Atomkraft und sinnlose Verbote. Mitglied der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Politisch interessiert. Mutter. Schulbegleiterin. Pädagogin (B.A.). Auf Flickr zu finden: https://www.flickr.com/photos/100511533@N08/ Auf erklaerversucherin.wordpress.com ebenfalls zu finden. Ich blogge über alles, was mich bewegt. Und Kunst - aber nur die gibt es hier. Alles andere auf dem Hauptblog. Ich mag Bücher. Nudeln. „Hör mal, wer da hämmert“. Depeche Mode. Zitate. Meine Arbeit in der Schule. SpongeBob. Garfield. „Switch“. „Ein Herz und eine Seele“. "The Crown". Britischen Humor. Ich hasse Fremdenfeindlichkeit. Misogynie. Homo- und Frankophobie. Die meisten Sorten von Kohl (auch den aus der CDU, haha). Den Großteil des Fernsehprogramms. Armut. Arroganz. Springer. Leute, die anderen Leuten keine eigene Meinung gönnen. Das Wort „Gutmensch“. Fußball. Viele Politiker. Ich habe hier noch mehr über mich geschrieben: https://kitschautorin.wordpress.com/2011/04/16/alles-glanzt-so-schon-neu/ https://kitschautorin.wordpress.com/2012/01/17/11-fragen/ https://kitschautorin.wordpress.com/2012/07/22/immer-wieder-sonntags/ https://kitschautorin.wordpress.com/2012/03/07/mal-wieder-was-uber-mich/ https://kitschautorin.wordpress.com/2013/05/04/was-ich-unbedingt-noch-machen-will/ https://kitschautorin.wordpress.com/2014/04/11/fragebogen-zu-film-und-kino/ https://kitschautorin.wordpress.com/2014/04/15/nochn-fragebogen/

Eine Antwort »

  1. „denn wie bereits erwähnt, sah sie meiner Mutter sehr ähnlich. Zu Hause würde es sicher nicht so locker-flockig abgehen wie hier am Bahnsteig. „…..

    „Frau Lacombe lachte jetzt, für meine Mutter ging es zu Hause bestimmt nicht so lustig zu.“

    Ich lese immer noch gespannt mit und warte schon auf den nächsten Teil. aber hier habe ich eine Wiederholung entdeckt. Und die fällt richtig auf.

    Nicht böse gemeint, nur als Anregung für nächste Projekte zu verstehen. 🙂

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