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Monatsarchiv: November 2013

Krümelmonster, Teil 16

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As they drag me to my feet
I was filled with incoherence
Theories of conspiracy
The whole world wants my disappearance
I’ll go fighting nail and teeth
You’ve never seen such perseverance
Gonna make you scared of me
’cause haemoglobin is the key
Haemoglobin is the key
To a healthy heartbeat

Wo war ich? Ich lag an einem mir unbekannten Ort. Nachdem ich mühsam meine Augen geöffnet hatte, erkannte ich, dass mir eine Lampe ins Auge schien. Es war die Flurlampe vom Wohnheim. Ich lag neben der Zimmertür und über mir befanden sich einige Gesichter. Wer war das? Nach und nach erkannte ich drei Personen. Es waren Lea, Hannes und ein Mensch, den ich einfach nicht wiedererkennen wollte. Wahrscheinlich kannte ich ihn gar nicht. Ich fühlte mich total schwach und der Schweiß stand mir auf der Stirn. Als ich endlich einige Worte sagte, kamen sie wie ein Flüstern heraus:
„Hannes? Wer… wo bin ich? Was ist passiert?“
„Du bist einfach umgekippt“, berichtete Lea.
„Du hast wahrscheinlich seit ein paar Tagen nichts mehr getrunken“, informierte mich der unbekannte Mensch. Worauf Hannes rief: „Ich hab dich wiederbelebt.“ Der andere Typ schaute ihn an. Ziemlich lange, soweit ich das erkennen konnte.
„Was machst du denn für Sachen? Es reicht doch, wenn eine von uns in Ohnmacht fällt“, sagte Lea.
Da fiel es mir auf. Ich hatte tatsächlich vergessen, etwas zu trinken. Seit dem Mittagessen mit Anna in der Unimensa von vor zwei Tagen hatte ich nichts mehr getrunken. Omas Tee, den sie mir hingestellt hatte, hatte ich in der Aufregung nicht angerührt. Oh Mann. Dabei wusste ich doch, dass so etwas zweifellos zur Bewusstlosigkeit führte. Hatte ich das nicht sogar in der Bioprüfung beim Abi gehabt?
„Du brauchst jetzt auf jeden Fall Flüssigkeit, sonst wird es erst richtig gefährlich für dich“, erklärte der unbekannte Typ.
Ich nickte vorsichtig mit dem Kopf. Da stand Hannes auf. „Das übernehme ich. Kannst du aufstehen, Sara?“
„Aber…“, wollte Lea protestieren. „Wir sollten…“
„Ich glaube schon…“
Vorsichtig erhob ich mich und dabei nahm Hannes mich in seine starken Arme. Er nahm mich mit in sein Zimmer, in dem ich erst vor zwei Tagen zu Gast gewesen war. Ich wurde in sein Bett gelegt und Hannes bediente sich an einem kleinen Kühlschrank, der in der Ecke stand.
Nach und nach flößte er mir etwas zu trinken ein. Ich konnte nicht erkennen, was es genau war, aber eine Flasche Cola bekam ich auch.
Dabei hielt Hannes mich immer noch im Arm und ich fühlte mich total komisch. Nicht nur körperlich gesehen.
Was machte ich hier? Hatte ich mir nicht vorgenommen, den Menschen zu ignorieren? Er hatte sich wie ein komplettes Arschloch verhalten und mir damit voll weh getan. Und jetzt lagen wir hier und er sorgte dafür, dass ich wieder auf den Damm kam und ich wusste absolut nicht, was ich davon halten sollte.
„Wie kannst du einfach vergessen, zu trinken? So etwas passiert doch nicht einfach“, wunderte er sich.
„Doch, das passiert. Siehst du ja“, murmelte ich. „Verschiedene Leute haben mein Leben so durcheinandergewirbelt, dass ich einfach nicht mehr wusste, was ich tun sollte.“ Das klang jetzt irgendwie pathetisch, aber es stimmte ja doch.
Schuldbewusst musterte Hannes seine Schuhspitzen. War er wirklich schuldbewusst? Ich wusste es nicht.
„Wenn mich eine Frau so aus der Bahn wirft“, antwortete er schließlich, „kann so etwas vorkommen. Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte, ich bin schließlich noch in einer Beziehung.“
Wie schräg klang das denn? Noch in einer Beziehung. So nüchtern und kalt, Beamtendeutsch irgendwie. Das nahm ich ihm nicht ab. Ich ließ meine Augen durchs Zimmer wandern und entdeckte unter anderem zwei Paar Highheels.
„Wusste gar nicht, dass du Highheels trägst“, bemerkte ich trocken. Ich richtete mich auf. Es schien mir langsam wieder besser zu gehen.
„Ähm… Die gehören Kati…“, stammelte er.
„Wo ist sie?“
„Ähm, die ist noch einkaufen…“
Um elf Uhr abends? Na sicher doch. Welche Läden gab es denn hier in der Nähe, die so spät noch auf hatten? Ich kannte keine.
„Welcher Markt hat denn so spät noch geöffnet?“
„Sie ist zum Hauptbahnhof gefahren, da in der Nähe gibt’s einen, der bis Mitternacht auf hat…“ Hannes guckte überall im Raum herum.
„Ach was. Hannes, sei mir nicht böse, aber ich möchte jetzt gerne zu meiner Schwester gehen.“
„Ach, das war deine Schwester?“ Das hatte er nicht gemerkt? Armleuchter.
Ich richtete mich auf, doch er hielt mich zurück. „Nein, nein, du bleibst schön hier liegen.“
Jetzt nahm er meine Hand und schaute mir tief in die Augen. Mir wurde ja fast erneut schwindelig. Diese grünen Augen…
„Sara, es tut mir wirklich sehr Leid, wie ich mich verhalten habe. Ich weiß, ich war ein kompletter Idiot, und mir ist die ganze Sache nur passiert, weil mich das mit dir unheimlich nervös macht. Ich wusste einfach nicht, wie ich mich entscheiden sollte, aber jetzt weiß ich, dass ich nur mit dir zusammen sein möchte. Ich habe mich in dich verliebt.“
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Ich konnte es einfach nicht glauben. Soeben hatte ich die erste Liebeserklärung meines Lebens bekommen. Noch nie hatte jemand solche Worte zu mir gesagt. Und ich wusste nicht, ob ich das wirklich glauben konnte, denn sie kamen aus dem Mund des Mannes, mit dem ich erst geschlafen hatte und der mich danach komplett ignoriert hatte. Was ging denn hier ab? Hatten sich die himmlischen Drehbuchschreiber mal wieder einen Spaß mit meinem Leben erlaubt?
„Ich würde gerne wissen, wie du darüber denkst“, riss Hannes mich aus meinen Gedanken. „Natürlich musst du dich nicht sofort entscheiden.“
Ruckartig schwang ich mich aus dem Bett. „Ich brauche noch einige Zeit, um mir über meine Gefühle klar zu werden. Ich möchte jetzt zu meiner Schwester gehen. Gute Nacht.“ Und weg war ich.
Vor meiner Tür unterhielten sich Lea und der mir unbekannte Mensch immer noch. Als sie mich bemerkten, drehten sie sich ruckartig um.
„Gute Besserung“, sagte der Typ noch, lächelte mich an und verschwand dann um die Ecke.
„Wer war das denn?“, wunderte sich Lea und zeigte dabei auf die Tür von 215.
Ich gähnte. „Erzähl ich dir morgen früh, okay? Ich bin jetzt echt total müde.“ Ich schloss die Zimmertür auf, ließ mich auf mein Bett fallen und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.

Krümelmonster, Teil 15

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Drei Stunden später fuhr ich mit dem Zug wieder zurück. Mir ging es noch nicht richtig gut, aber bereits um einiges besser. Ich konnte es kaum glauben, dass ich mit meiner Oma über solche Dinge gesprochen hatte. Keine Ahnung, wie oft ich mich schon verknallt hatte, aber wenn das passiert war, hatte ich höchstens mit Anna und Aurélie darüber geredet. Ich war eigentlich der festen Meinung gewesen, dass mein Liebesleben meine Altvorderen nichts anging. Aber so schlimm hatte ich es jetzt gar nicht gefunden, mit meiner Oma über nichtsnutzige Kerle zu diskutieren. Lag das am Alter? Konnten wir uns langsam auf Augenhöhe begegnen? Ich wusste es nicht.

Jedenfalls kam ich um einiges befreiter und fünfzehn Minuten zu spät am Treffpunkt an. Anna saß bereits am Zaun vorm Haus und schlürfte einen Kaffee zum Mitnehmen. Die wurden auch immer moderner.

„Hi“, begrüßte ich sie. „Sorry, dass ich zu spät komme, aber ich bin noch spontan nach Hause gefahren.“

„Wieso das denn?“

„Mir war so danach. Nachdem Aurélie mich so angemacht hat, konnte ich einfach nicht mehr – da bin ich zum Bahnhof gelaufen.“

„Wie, sie hat dich angemacht?“, wollte Anna wissen. „Was ist denn nun schon wieder los?“

„Komm mit ins Haus“, forderte ich sie auf.

In meiner Bude setzte ich erst einmal Kakao auf, denn von all der Kälte da draußen war ich schon fast zur Eisprinzessin geworden. Mit der dampfenden Kanne und meinem Ich-bin-hier-der-Boss-Becher ließen wir uns am Tisch bei der Kochecke nieder.

„Nun, das war so“, eröffnete ich die Geschichte. „Ich war doch ziemlich durcheinander, weil Lea mit ’nem Baby im Krankenhaus liegt. Im Krankenhaus musste man doch sein Handy ausmachen und weil ich so durcheinander war, hab ich nicht mehr dran gedacht, es anzumachen. Und dann ist auch noch die Sache mit der CD passiert.“

„Welche CD?“

„Du weißt schon, diese CD, die ich in Paris gekauft hab, die mit den französischen Liedern“, erklärte ich ihr. Anna nickte.

„Nun, ich kam gestern Abend nach Hause und da lag diese CD in tausend Einzelteilen auf dem Bett und das Booklet war zerrupft. Und es stank permanent nach Kati.“

„Hä? Wieso das denn?“

„Na, Chanel Nummer fünf! Ihr Lieblingsparfüm. Das kann nur sie gewesen sein!“

„Aber wie kam die denn in dein Zimmer?“ Das verstand Anna nicht und ich genauso wenig. „Keine Ahnung. Aber das schafft die bestimmt irgendwie. Da muss sie nur vom Hausmeister den Pulli hochziehen und schwupps, gibt er ihr den Ersatzschlüssel.“

„Ich hab’s ja geahnt, als du mir erzählt hast, dass du mit Hannes geschlafen hast“, rief Anna. „Hättest du mal…“

„Ich brauch jetzt kein ‚Hättest du’!“, brauste ich auf. „Ich weiß selber, dass ich totalen Scheiß gebaut hab. Nie im Leben hätte ich meine Jungfräulichkeit an so einen Typen verschwenden sollen! Er ignoriert mich einfach.“

Lauernd fragte Anna: „Tut weh, was?“

„Ja, es tut weh. Aber ich hab mich einfach mitreißen lassen! Es tat so weh, als er gestern mit Kati im Café saß und den anderen Mädels hinterhergeguckt hat. Ich werde ihn wohl einfach ignorieren müssen.“

„Das ist wohl das Beste, was du im Augenblick tun kannst“, stimmte Anna zu. „Aber was war denn jetzt mit Aurélie?“

„Naja, ich war da doch gestern am Arbeiten und da brauste Aurélie auf einmal auf mich zu und brüllte mir ins Gesicht, was Freddy doch für ein Idiot wäre und dass ich so egoistisch sei und ihr nicht helfen wollte. Da hab ich zurückgekeift, was sie sich eigentlich einbilden würde und dass sie nicht der Nabel der Welt sei, und bin gegangen.“

„Au Backe.“ Da lehnte sich Anna zurück und rieb sich die Stirn. „Jetzt ist sie total eingeschnappt. Die war ja vorher schon auf hundertachtzig.“

„Ich weiß.“

„Jetzt brauchen wir dringend eine Lösung“, stellte meine beste Freundin fest und sprang auf. Sie setzte sich auf mein Bett.

„Ach was. Da wäre ich von alleine ja nicht drauf gekommen“, versetzte ich. Nachdem ich die Kakaokanne geleert hatte, setzte ich mich Anna gegenüber auf meinen Schreibtischstuhl.

Sie überlegte. „Warum genau läuft denn bei den beiden zur Zeit alles so schief?“

„Aurélie klammert sich voll an Freddy und er versucht, das mit fadenscheinigen Begründungen zu umgehen. Also denkt Aurélie, dass es daran liegt, dass er sie nicht mehr attraktiv findet und ergreift total schwachsinnige Maßnahmen, wie zum Beispiel das Blondieren ihrer Haare.“

„Ein überaus scharfsinniger Kurzabriss“, lobte Anna mich. Ich verbeugte mich.

„Irgendwie müssen wir die beiden zum Reden bringen“, meinte ich.

„Ja, aber wie?“, fragte Anna. „Die beiden schreien sich ja an, wenn sie sich nur sehen.“

Ich antwortete: „Das müssen wir irgendwie verhindern, sonst sprechen die sich ja nie aus. Eigentlich müssten wir unsere Freunde mal zusammen einschließen.“

„Hey, du bringst mich da auf eine Idee“, erwiderte Anna plötzlich mit einem verschlagenen Grinsen.

 

Ein paar Momente später hatten wir den perfekten Plan entwickelt. Wir würden unsere guten Freunde Aurélie und Freddy mal zu einem DVD-Abend einladen. Natürlich ohne das Wissen des jeweils anderen Partners.

Da Anna noch etwas für die Uni lernen musste, verabschiedete sie sich irgendwann gegen halb elf. Danach saß ich auch noch am Schreibtisch und ging die Vorlesungsunterlagen durch. Doch statt mich mit Staatsphilosophie zu befassen, schwirrten mir tausend andere Gedanken durch den Kopf.

War es leicht, einen anderen Menschen zu ignorieren? Ich besaß wahrscheinlich nicht die geistige Reife, das zu tun. Wie war es eigentlich dazu gekommen, dass ich so sehr im Rausch der Gefühle war, dass ich mit einem Mann schlief, mit dem ich kaum drei Sätze gewechselt hatte? So etwas hätte ich doch sonst nie getan. Das war Magie, sagten die Leute häufig. Etwas anderes konnte es auch kaum gewesen sein, denn ich war wie verhext. Meine Empfindungen waren wie durcheinandergewirbelt. Was empfand ich denn? War es Liebe? Verknalltheit? Sexuelle Anziehung? Oder alles zusammen? Ich vermochte es nicht zu sagen.

Von irgendwoher ertönten Geräusche. Hörte sich an wie ein Film. Das kam von nebenan! Aus 215!

Ich presste mein Ohr an die Wand. Ein Gespräch zwischen Mann und Frau. Sie schienen zu streiten und dann fing die Frau an zu weinen, der Mann wollte sie trösten. Leider verstand ich den Wortlaut des Gesprächs nicht.

Und so etwas sah Hannes sich an? Nein, er bestimmt nicht. Bestimmt hing Kati wieder bei ihm rum und sah sich so einen schnulzigen Liebesfilm an, in dem die Frauen immer Schuhe kauften und die Männer immer Fußball sahen, und währenddessen saß Hannes mit dem Laptop auf dem Bett und spielte Computerspiele.

Na super, so toll klappte das mit dem Ignorieren! Wie sollte man auch jemandem aus dem Weg gehen, der neben einem wohnte??? Das hatten all die schlauen Leute, die mir Ratschläge erteilen wollten, gar nicht bedacht!

Ich rief Anna an. Es dauerte eine Weile, bis sie ranging, ich mutmaßte, dass sie bereits im Bett gelegen hatte. Doch als sie sich meldete, klang sie hellwach.

„Hallo, Sara, was gibt’s?“

„Na ja… ähm… ich wollte fragen, ob ich morgen bei euch übernachten kann… aber das muss auch nicht! Ich wollte nur fragen…“

Anna lachte. „Na klar kannst du hier schlafen! Wieso bestehst du denn auf einmal darauf?“

„Na ja… Mir gefällt es hier grad irgendwie nicht mehr…“

„Wieso das denn?“ Doch da verstand Anna von alleine. „Ach so. Na gut, dann meld dich mal bei mir, wenn du vor der Tür stehst. Okay?“

„Ja, mach ich. Bye.“

„Bye.“ Ich legte auf.

Im selben Moment klingelte es an der Tür. Nicht an der Haustür, sondern an meiner Zimmertür. Komisch, das hatte noch nie jemand gemacht. Ich rappelte mich von meinem Liegeplatz neben der Wand auf und mir wurde auf einmal richtig schwindelig. Ich musste mich an der nächsten greifbaren Ecke festhalten. Klar, so etwas geschah schnell, wenn man zu schnell aufstand, das wusste ich. Benommen lief ich zur Tür und machte auf.

Vor der Tür stand Lea. „Hey, Sara, ich wurde aus dem Krankenhaus entlassen. Was ist los? Warum bist du denn so blass? Sara?“

Krümelmonster, Teil 14

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„Na, wenn du meinst…“ Oma sah mich mehr als skeptisch an. „Warum bist du denn so plötzlich hergekommen? Ist irgendetwas passiert? Brauchst du Geld von uns? Wie viel?“

„Nein“, wehrte ich ab, „finanzmäßig ist alles in Ordnung.“

„Was ist es denn? Ist es wegen Lea?“

Ruckartig hob ich mein Gesicht. Einen Augenblick lang musste ich selbst überlegen. War es wegen Lea? War es wegen Hannes? War es wegen Aurélie? Wirkte nicht alles irgendwie zusammen? Und was sollte ich ihnen davon erzählen? Ich wollte meiner Mutter und meiner trotz aller Entwicklungen doch noch relativ strengen Oma nicht von einem One-Night-Stand erzählen. Und ich wusste auch nicht, was Lea ihnen bereits über ihre Schwangerschaft gesagt hatte. Ob sie überhaupt schon davon wussten. Wie bereits erwähnt war ich mir nicht wirklich sicher, ob Lea sie informiert hatte oder bloß so getan hatte. Und wenn ich ihnen von Aurélie erzählte, wollten Mama und Oma sicher gleich den ganzen Rest wissen.

Schließlich ließ ich mich zu einem lahmen „Ach, ist nicht so wichtig“ hinreißen. Das hätte mir nicht mal ein Taubblinder abgenommen.

Oma wollte bereits etwas erwidern, doch da klingelte bereits das in der Küche deponierte Telefon. „Oh, das ist bestimmt Martin, der mir sagen will, wann ich ihn abholen soll!“, rief Mama und rannte aus dem Wohnzimmer.

Die Tür fiel zu.

„Mama muss Papa abholen?“, fragte ich.

„Ja, das eine Auto ist in der Werkstatt und dein Vater ist mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Also, was ist mit dir los? Ich sehe doch, dass du irgendetwas hast.“

Ich drehte und wand mich. „Eigentlich weiß ich nicht, ob ich es dir erzählen möchte“, gestand ich nach ein paar Sekunden.

„Na gut, musst du ja nicht. Soll ich dir einen Tee aus der Küche holen?“, bot Oma mir an.

„Ja, bitte.“

Oma ging aus dem Zimmer. Ich schaute aus dem Fenster auf den großen Garten, in dem wir als Kinder oft gespielt hatten. Lea und ich hatten Äpfel aus dem Garten gesammelt, im Baumhaus gehockt, geschaukelt und später auch Paul gezeigt, wie man Sandburgen baute. Ja, das waren noch Zeiten, wo wir einfach spielen konnten, ohne uns um irgendetwas Wichtigeres als das Einmaleins kümmern zu müssen. Wo wir uns noch nicht um solche Sachen wie Liebe kümmern mussten. Wo Freunde nach einem „Blöde Kuh!“ kapiert hatten, was Sache war, und wieder zur Räson kamen. Wo man nicht fürchten musste, plötzlich schwanger und dann noch vom Langzeitfreund verlassen zu werden. Ich seufzte.

„Hier ist dein Tee. Ich hoffe, er schmeckt dir noch. Er ist etwas kalt geworden, fürchte ich.“ Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Oma wieder im Raum war. Sie setzte sich in den großen Sessel, in dem normalerweise mein Vater saß und Zeitungen las.

„Ich kann einfach nicht mehr“, seufzte ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „Lea liegt da im Krankenhaus und ihr ganzes Leben ist total verändert. Ich weiß nicht, wie sie sich entscheiden will! Will sie das Baby behalten oder nicht? Bleibt Gero bei ihr oder nicht? Ich habe Angst! Und all das versteht Aurélie nicht. Die stürmt heute zu mir ins Café und brüllt mich vor versammelter Mannschaft an, warum ich ihr denn nicht bei ihren bescheuerten Liebesproblemen helfe. Die hat sie doch nicht mehr alle!“ Ich stöhnte. Ich konnte auch nicht glauben, dass ich meiner alten Großmutter das alles gesagt hatte.

„Wer war noch mal Aurélie?“, fragte Oma stirnrunzelnd.

„Die eine von meinen Freundinnen. So groß wie Mama, braune Haare, braune Augen.“

„Ach so.“

„Die hatte ein paar Probleme mit ihrem Freund und das nur, weil sie nicht einsieht, dass sie einige Dinge grundfalsch gemacht hat. Aber das wäre nicht so schlimm, wenn sie nicht behauptet hätte, dass ich total egoistisch wäre und ihr nicht helfen würde, weil ich ja mein dämliches Handy nicht angemacht hätte. So ein Mist!“ Ich haute aufs Sofakissen.

„Das hat sie bestimmt nicht böse gemeint. Weiß sie denn überhaupt, dass du bei deiner Schwester im Krankenhaus warst?“

„Nein. Woher sollte sie auch? Ich hab sie ja schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Und mein Handy hatte ich ja nicht angemacht! Das war doch verboten im Krankenhaus.“

„Ich bin mir sicher, dass deine Freundin nicht so sauer reagiert hätte, wenn sie gewusst hätte, dass du bei Lea warst.“

„Ja, vielleicht.“ Ich sah an die Decke. „Aber was machen wir mit Lea? Sie ist da ja in einen ganz großen Mist hineingeraten…“

„Das kannst du wohl sagen“, antwortete Oma. „Ich hab ja gleich gesagt, dass die beiden nicht einen Moment aufpassen können. Ich hab Lea ja gesagt, dass sie zu deiner Mutter gehen soll, als sie diesen Durchfall hatte. Da kann das ja nichts werden.“

„Moment mal, was meinst du damit?“ Ich war etwas unorientiert.

„Du weißt doch noch, dass Lea vor ein paar Monaten immer Durchfall hatte? Das lag wohl daran, dass sie die Pille nicht vertragen hatte. Aber davon wollte deine Schwester nichts wissen. Warum auch immer.“

„Ach so…“

„Warum ist Lea jetzt genau in Ohnmacht gefallen? Das hab ich immer noch nicht so genau verstanden. Und wieso ist Lea nicht zu deiner Mutter gegangen, sondern zu irgend so einem komischen Arzt in Frankfurt? Sie wollte sich wohl die Moralpredigt ersparen. Schön ausgedacht!“

„Nein“, versuchte ich, Oma etwas zu bremsen, „Lea dachte, sie hätte Diabetes. Weil sie doch pausenlos essen und trinken musste und ihr immer so schwindlig war. Und sie ist nach Frankfurt gefahren, weil sie euch nicht damit verrückt machen wollte.“

„Diabetes?“ Oma schaute verwirrt drein. „Wie kommt sie denn darauf?“

„Weil du ihr doch erzählt hast, dass Opa damals daran gestorben ist und weil Geros Mutter gesagt hat, dass man Diabetes auch vererben kann.“

„Ach herrje.“ Jetzt war es Oma, die ihr Gesicht in den Händen vergrub und seufzte. „Was hab ich ihr da bloß wieder gesagt? Wir haben sie doch extra durchchecken lassen. Dich auch! Weil wir wissen wollten, ob es euch auch erwischt hat. Auch deinen kleinen Bruder haben wir extra untersuchen lassen. Und keiner von euch hat je Diabetes gekriegt.“ Oma schaute mich an. „Und nur deswegen ist überhaupt rausgekommen, dass Lea ein Kind erwartet?“

In diesem Moment hielt Mama ihren Kopf in die Zimmertür. „Ich fahre jetzt los und hole Martin ab.“

„In Ordnung.“

Und weg war Mama wieder.

„Ich hoffe nur, dass deine Schwester sich richtig entscheidet“, sagte Oma und stand auf. Unruhig wanderte sie im Zimmer auf und ab.

„Ich weiß noch überhaupt nicht, wie sie sich entscheiden will. Davon hat sie mir noch nichts gesagt. Ist vielleicht auch etwas früh…“

„Guck mal“, rief Oma auf einmal hatte ein altes Fotoalbum herausgekramt. Sie zeigte auf ein altes Bild, das noch in Schwarzweiß gehalten war. Darauf waren eine junge Frau und ein kleines Baby zu sehen. Neben dem Bild stand Marie und ich.

„Ist das eins von deinen Geschwistern?“ Oma hatte viele Geschwister gehabt, das hatte sie mir mal erzählt.

„Nein, das ist deine Tante Marie.“

„Papas Schwester?“, fragte ich ungläubig. Tante Marie war Papas ältere Schwester und schon Ende fünfzig.

„Bei ihrer Geburt war ich gerade mal achtzehn Jahre alt. Ich war damals ein junges, lebhaftes Ding, genauso wie deine Schwester.“

Natürlich, aber warum war mir das nie aufgefallen? Ich wusste doch, dass Oma und Opa sehr früh geheiratet hatten und ein paar Monate später meine Tante zur Welt gekommen war.

„Man hat damals sehr früh Kinder gekriegt“, erzählte Oma, „aber ich wollte eigentlich noch gar keins.“ Sie stellte das Fotoalbum zurück ins Regal. „Ich musste mich auch ziemlich früh entscheiden, ob ich das Kind bekommen wollte oder nicht. Ich wollte Marie haben und habe das auch nie bereut. Aber es war ein ganz schön harter Kampf, das kann ich dir sagen. Denk ja nicht, dass es leicht ist, in dem Alter ein Kind zu erziehen!“

„Das hätte ich auch nie gedacht“, entgegnete ich.

„Wir wollen nur hoffen, dass deine Schwester und ihr Freund die richtige Entscheidung treffen“, gab Oma zu bedenken.

„Davon bin ich überzeugt“, entgegnete ich.

„Jaja, aber wird Gero Lea auch dann behalten wollen, wenn sie das Baby behält? Das weiß man bei diesen jungen Männern doch nie.“

„Ja, aber Opa ist doch auch bei dir geblieben. Und Gero machte nicht eben den Anschein, als wollte er Lea verlassen. Ich habe mit ihm gesprochen. Er liebt Lea sehr und stiehlt sich bestimmt nicht so einfach aus der Verantwortung.“

Die Tür ging auf und Papa kam rein. „Hallo, Sara! Das ist ja eine Überraschung!“ Er herzte mich und dann seine Mutter. „Was treibt dich denn hierher, Sara?“

„Ach, ich war gerade in der Gegend…“, antwortete ich.

„Soso!“ Er lachte. „Ich koche nachher Abendessen, was möchtet ihr haben?“ Oma schaute mich an.

„Ich hätte gerne Napoli“, sagte ich.

„In Ordnung“, entgegnete er und ging.

„Meinst du wirklich, Gero hat die nötige geistige Reife?“, fragte Oma.

„Auf jeden Fall. Nicht alle sind so drauf wie Hannes“, sagte ich und bereute es gleich darauf.

„Hannes?“, fragte Oma und wusste von nichts. Das sollte auch so bleiben, aber ich wusste, dass ich bereits zu viel verraten hatte. „Wer ist das?“, erkundigte sie sich neugierig. „Hast du dich etwa auch mit einem Typen eingelassen?“

„Nein, wie denn?“, regte ich mich auf. „Es hat ja geendet, bevor es wirklich angefangen hat. Er wollte gar nichts mehr von mir wissen.“ Traurig schaute ich auf den Boden.

„Habt ihr euch miteinander getroffen?“

„Ja, und jetzt ignoriert er mich einfach… Dabei hätte ich es wissen müssen, er hatte schließlich eine Freundin und schaut dauernd anderen Mädchen hinterher… Ich komme mir so idiotisch vor!“ Und wieder haute ich mit meiner Hand aufs Sofakissen.

„Oh je.“ Oma setzte sich neben mich. „Die erste Liebe ist immer die schwierigste, was?“

„Ich bezweifle, dass es sich bei allen so schlimm anfühlt wie bei mir…“, murmelte ich.

„Nicht bei allen, aber bei den meisten. Es fühlt sich immer schlimm an, wenn der Traummann nichts mehr von einem wissen will.“ Das stimmte wohl. Ich kam mir vor wie eine blöde Dreizehnjährige, die noch gar keine Ahnung von der Liebe hatte. Die hatte Oma zweifellos, aber wollte ich mit ihr wirklich darüber reden? Ich wusste ja nicht mal, ob sie mich verstand oder mir irgendeinen Rat geben konnte.

„Es fühlt sich so an, als würde es nie vorbeigehen. Letztlich muss da jeder für sich herausfinden. Aber wenn ich dir einen Rat geben kann: Ignoriere diesen Hannes einfach. So ein Kerl hat es einfach nicht verdient, dass du dich mit ihm abgibst. Wenn du ihm lange genug aus dem Weg gehst, denkst du irgendwann von selbst nicht mehr an ihn.“

„Leichter gesagt als getan…“

Krümelmonster, Teil 13

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Ich hatte einfach keine Lust mehr. Erst passierte mir die Sache mit Lea, dann ließ Hannes mich einfach links liegen, obwohl wir so eine schöne Nacht miteinander verbracht hatten, und zu allem Überfluss verhielt sich Aurélie total ignorant, so, als wäre ihr nur ihr eigenes Leben etwas wert.

Ich rannte aus der Uni, vorbei an mich verwundert anstarrenden Studenten und sonstigen Unileuten. Es war mir egal, was sie dachten. An der Straße hielt ich einmal kurz inne, weil ich überlegen musste, wo ich hinwollte. Wo wollte ich eigentlich hin? Das wusste ich nicht. Ich bog einmal in die der Sonne entgegengesetzte Richtung ab. Rechts, geradeaus, rechts, links, die Weihnachtslichter passierend. So dunkel war es doch noch gar nicht, wieso leuchteten all die Lichterketten bereits?

Stromverschwendung. Ich lief über einige Brücken und spürte die brennenden Blicke der Leute, die in den Straßen herumliefen. Konnten die sich nicht um ihre eigenen Leben kümmern? Es ging sie nichts an, was mir gerade passierte!

Die Luft war kalt und brachte meine Lungen fast zum Platzen, doch das bekam ich gar nicht richtig mit. Zu wütend war ich über diese ganze Situation. Warum musste immer mir so etwas passieren? Hatte ich mich irgendwie falsch verhalten? Ich war mir keines Fehlers bewusst, der den da oben im Himmel, wenn es ihn denn wirklich gab, irgendwie verärgert haben könnte. Ich wünschte mir, dass Lea wieder aus dem Krankenhaus käme, sie sich entscheiden würde, was das Baby betraf, Hannes mich endlich wieder wahrnehmen würde, und Aurélie endlich zur Vernunft käme, und wusste gleichzeitig, dass all das nie geschehen würde. Diese Zicke von zweitbester Freundin würde es niemals auf die Reihe kriegen mit Freddy und den anderen und selbst wenn meine Schwester bald aus dem Krankenhaus herauskäme, sie würde die Entscheidung bis zum letzten Moment hinauszögern. Und für den Mann, in dessen Armen ich vorletzte Nacht zum ersten Mal das Paradies erlebt hatte, würde ich auf ewig ein Niemand bleiben. Nur ein weiteres Häkchen in der Liste der von ihm vernaschten Frauen.

Ich fühlte mich wie eine Idiotin. Deutlich hörte ich Annas Worte im Ohr. Pass bloß auf, dass du dich nicht in den Typen verliebst. Der ist der reinste Fraueneroberer. Das hatte mich da nicht interessiert. Hätte es aber wohl sollen. Ich hatte doch an Lea gesehen, was passierte, wenn ein Pärchen im Feuer der Leidenschaft seine Selbstkontrolle verlor. Zwar war ich nicht schwanger (wir hatten ja zweifach verhütet, Pille und Lümmeltüte), aber dennoch war ich ein emotionales Wrack.

Ich lief weiter. Eine alte Oma saß auf einer Parkbank und fütterte Tauben. Sie rief: „Wenn Sie sich beeilen, kriegen Sie den Zug noch!“

Den Zug? Da sah ich das Hauptbahnhofsgebäude vor mir auftauchen. Ich steuerte es hastig an, ich wusste gar nicht mehr richtig, was ich tat. Ich lief einfach hoch zu den Gleisen und setzte mich in den erstbesten Zug. Hauptsache weg aus dieser Stadt.

Ich wollte hier nicht mehr bleiben. Mir war hier irgendwie zu viel Nervenaufreibendes passiert. Es war mir auch egal, wohin dieser Zug fuhr. Hauptsache, er fuhr mich aus dieser Stadt weg.

„Guten Tag, die Fahrkarten bitte!“, hörte ich auf einmal eine Stimme.

Da war ich wieder bei vollem Bewusstsein. Verdammt! Auch das noch! In welchem Zug war ich? Ich musste ganz schnell hier raus. Ich sah mich um. Es war ein Regionalzug.

„Dieser Zug, wohin fährt der?“, fragte ich eine Mitreisende. Die ältere Dame nannte den Namen einer mir unbekannten Stadt. „Und über welche Städte fährt dieser Zug?“, wollte ich wissen. „Über Wetzlar zum Beispiel, da muss ich hin.“

Wetzlar? Moment mal, hatte ich, ohne es zu wissen, den Zug nach Hause genommen? Wie konnte ich so etwas nicht wissen? Ich war höchst verwirrt und gleichzeitig total erleichtert. Mein Semesterticket galt bis dorthin noch und so reichte ich es dem mittlerweile bei uns angekommenen Kontrolleur, zusammen mit meinem Personalausweis. Der Kontrolleur bedankte sich und ging weiter.

„Sind Sie etwa in den falschen Zug gestiegen?“, fragte mich meine ältliche Sitznachbarin. Verwundert ob ihrer unerwarteten Ansprache zuckte ich zusammen. „Neinnein“, antwortete ich schnell, „ich bin hier richtig.“ Dann sah ich aus dem Fenster und betrachtete nachdenklich die vorbeiziehenden Häuser.

Nach knapp einer Stunde stieg ich in meiner Heimatstadt aus dem Zug. Der Schnee lag dick auf den Wegen und knirschte unter meinen Stiefeln, als ich langsam nach Hause ging. Es sah hier ganz anders aus und doch so vertraut. Ich lief durch die Hauptstraße und die Siedlung, vorbei am Metzger, einem Blumenladen und der Praxis meiner Mutter, die sich nur ein paar hundert Meter von meinem Elternhaus entfernt an einer Kreuzung befand. Ich bog in meine Straße ein.

Auf einmal ertönte laut Musik. They will not force us, they will stop degrading us… Das war mein Handy! Verwundert drückte ich auf die Annahmetaste.

„Hallo?“

„Hallo, Sara, hier ist deine Oma!“

„Oh, hallo, Oma…“

„Na, wie geht es dir?“

„Ganz gut…“

„Ganz gut?“ Oma lachte herzhaft. „Na, das klingt ja sehr begeistert. Was machst du denn gerade? Hast du Stress mit der Uni?“

„Naja, es geht, das Politikseminar ist jetzt vorbei, ich war gerade arbeiten…“

„Na dann. Aber pass auf, dass du immer schön lernst, damit du auch gute Noten kriegst.“ Ja, das war die alte Oma. „Wo bist du denn gerade?“

„Naja…“ Ich überlegte, was ich antworten sollte. „Eigentlich bin ich kurz vorm Haus…“

„Wie, vorm Studentenwohnheim?“

„Nein, guck mal aus dem Fenster…“

Ich sah zirka fünfzig Meter entfernt, wie Oma die Vorhänge zur Seite zog und aus dem Fenster blickte.

„Na, dann komm mal schnell her, Telefonieren zum Handy ist ja teuer!“

„Okay, bis gleich.“

„Ja, tschüss!“ Ich legte auf und ging schnell zur Tür. Dort drückte ich auf die Klingel.

Oma machte auf. Mama stand neben ihr. „Hallo, Sara, na? Schön, dass du wieder hier bist!“ Sie umarmten mich beide.

Ich trat ins Haus und legte meine Kleidung ab. Mir stieg ein wunderbarer Geruch in die Nase. Ich schnupperte. „Ist das etwa dein berühmter Apfelkuchen?“

„Nein, heute habe ich den gekauft, weil ich heute etwas früher zum Sport muss“, erklärte Oma. „Ist das schlimm?“

Ja. „Nein, das ist schon in Ordnung. Ich hab sowieso nicht so viel Hunger.“

Wir setzten uns aufs Sofa.

„Ist alles mit dir in Ordnung? Du siehst so blass aus.“

„Nein“, versicherte ich meiner Mutter. „Ich bin nur noch etwas müde von der Arbeit. Es war heute ziemlich anstrengend.“ Das war nicht mal gelogen.

Krümelmonster, Teil 12

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Verschlafen meldete Anna sich. „Hallo?“

„Na, gut geschlafen?“

„Haha, du Scherzkeks. Das war ’ne Höllennacht, wie hätte ich denn da schlafen sollen?“, grummelte sie.

„Jaja, ist ja gut. Sag mal, was war da eigentlich gestern los? Ich hab gestern ganze sieben SMS von unserer guten Aurélie gekriegt, und dazu dann noch drei von dir.“

Anna gähnte ausgiebig. „Ich erklär es dir. Du hast doch sicher mitgekriegt, dass es bei den beiden nicht mehr ganz so gut läuft?“

„Ja, das weiß ich.“

„Nun ja, Aurélie hat vermutet, dass Freddy sie einfach nicht mehr so anziehend findet wie am Anfang…“

„So ein Blödsinn!“, entfuhr es mir.

„Ja, das sage ich ja auch, aber Aurélie wollte mir ja nicht zuhören. Dann hat sie sich ja die Haare blond gefärbt, aber das hat Freddy überhaupt nicht gefallen. Gestern nun wollte sie ihn überraschen und hat sich in die schärfsten Sachen geworfen, die sie so hatte, und dann ab in sein Bett, Rosenblätter und den ganzen Kram.“

„Was? Wie ist die denn in sein Zimmer gekommen?“

„Keine Ahnung. Freddy kam dann jedenfalls nach Hause und hat sich erst mal tierisch erschrocken, er hat sie angeschrien, die beiden haben sich gezofft und er hat sie mehr oder weniger verlassen.“

„Wow…“ Ich atmete tief durch. „Das ist ja wirklich…“

„…kacke, genau“, beendete Anna meinen Satz. „Deswegen bin ich jetzt auch zu Hause geblieben, weil Aurélie mich die ganze Nacht genervt hat. Was hast du gestern eigentlich noch so mit Lea gemacht?“

Jetzt war alles wieder da. Ärztehaus, Krankenwagen, Krankenhausflur, das Zimmer, meine Schwester auf der Liege, weinend…

„Bist du noch dran?“, rief Anna.

Ich schluckte zwei Mal. Mein Hals brannte wie Hölle und ich bemühte mich um einen möglichst neutralen Ton: „Na ja… Lea ist im Krankenhaus…“

„Was?“ Auf einmal war meine beste Freundin hellwach. „Was ist mit ihr? Komm, sag schon!“

„Das war echt eine merkwürdige Geschichte… Wie soll ich das bloß anfangen?“

„Am Anfang, wenn’s geht.“

„Zum Brüllen komisch, weißt du? Ich hab dir doch erzählt, dass sie wie wild am Fressen und Trinken war und sich ständig saumüde fühlte, richtig?“

„Ja, hast du…“

„Lea hat auf Diabetes getippt und war richtig besorgt deswegen. Also sind Gero und ich mit ihr zusammen zum Arzt gegangen und dann wurde sie auf einmal ohnmächtig rausgetragen…“

„Oh nein, hatte sie etwa einen diabetischen Anfall? Das ist echt ’ne schlimme Sache. Also, meine Tante, die…“

„Nein“, unterbrach ich sie, „sie hat… sie wird… sie ist schwanger! Und sie ist ohnmächtig geworden, weil sie so geschockt war von der Nachricht!“

Einige Sekunden lang war es still. Jetzt hatte es Anna wohl die Sprache verschlagen. Ich hörte sie tief durchatmen. Als sie wieder reden konnte, sagte sie: „Das sollten wir wohl besser nicht am Telefon besprechen, hä?“

„Da hast du wohl Recht…“

„Wie lange hast du noch Uni?“

„Ich arbeite noch bis drei Uhr und dann wollte ich mal ein bisschen lernen, wie wäre es, wenn wir uns heute Abend um acht Uhr treffen?“

„Okay, willst du zu mir kommen oder soll ich zu dir fahren?“

„Komm du ruhig zu mir…“

„Okay, dann bis heute Abend. Ciao!“

„Auf Wiedersehen“, sagte ich und wollte schon auflegen, da fiel Anna noch etwas ein. „Warte mal, Sara!“

„Was gibt’s denn noch?“

„Nimm dich bloß vor Aurélie in Acht. Die ist heute ’ne echte Kratzbürste.“

„Ach was. Kommt sie heute zur Uni?“

„Ja, sie ist jedenfalls grad nicht zu Hause. Gott sei Dank.“

„Na dann, danke für den Tipp und bis heute Abend.“

„Bis heute Abend“, sagte sie und wir legten auf.

Gestärkt für den Rest der Schicht ging ich nach vorne. Jedenfalls fühlte ich mich schon bedeutend besser. Es tat gut, mit jemandem gesprochen zu haben, der nicht sofort nach dem Warum fragte, der einen nicht sofort verrückt damit machte. Und was Aurélie und Freddy anging, wusste ich zumindest schon mal über die Situation Bescheid –

„Einen Latte macchiato mit zwei Stückchen Giotto und eine Cola light bitte“, bestellte eine weibliche Stimme, die mir sofort ins Ohr schnitt, warum auch immer. Ich rief nur mein übliches „Kommt sofort!“ und sortierte erst mal weiter Flaschen in den Kühlschrank ein. Erst als ich mich wieder aufrichtete, nahm ich wirklich wahr, wer mir da seine Bestellung ins Ohr geschnottert hatte und vor allem: wen diese Person im Schlepptau hatte.

Kati und Hannes!

Sie setzten sich an einen Tisch ganz hinten. War das nicht der, den mir Gero gestern beschrieben hatte, mit dem fetten Herz drin? Sie umarmten sich und küssten sich so, als gäbe es kein Morgen. Wollte er mit seiner Zunge ihren Magen erforschen, oder was machte er da? Die beiden sanken auf ihrer Sitzbank zurück und ich fühlte mich, als würde mein Herz aus der Brust auf den Boden rutschen und dort zerplatzen wie eine Wasserbombe.

„Ich komm gleich zurück, Schatz, okay?“, bildete ich mir ein, von Kati zu hören, wie sie es zu Hannes sagte und sie ging Richtung Damentoilette. Natürlich nicht, ohne vorher noch an mir vorbeizustöckeln und zu zwitschern: „Und denk an unsere Bestellung, Sara-Schatz, okay?“ Und weg war sie.

Ich bekam Lust, die Schlange zu erwürgen, sie das Klo runterzuspülen und ihren Arsch so lange mit klebrigem Zeugs vollzustopfen, bis sie platzte, ich wollte sie auf tausend Arten quälen, diese Missgestalt, aber das sah man meinem Gesicht vermutlich nicht gerade an. Es stürzte ein und ich senkte meinen Blick auf den Boden.

Plötzlich ertönte aus der erst kürzlich fürs Studentencafé erworbenen Anlage eine laute Schrammelgitarre und kurz darauf eine männliche Stimme. Das Lied kannte ich doch irgendwoher, was war das nur für ein Lied?

My heart still has a beat

but love is now a feat

As common as a cold day in LA

Sometimes when I’m alone, I wonder

is there a spell that I am under

keeping me from seeing the real thing?

Love hurts…

Die Frage nach dem Lied konnte ich zumindest schon mal beantworten. Das Herzschmerzlied schlechthin. Wollte mich mit Love hurts eigentlich irgendjemand da oben im Himmel ärgern? Hatte ich das verdient? Womit bloß? Mir war grottenschlecht.

Hannes schaute irgendwelchen Damen hinterher. Der Mann, in dessen Armen ich neulich noch gelegen und an dessen Lippen diese unsägliche Kati gehangen hatte, schaute anderen Studentinnen auf die Hintern und die Brüste und ihm lief der Speichel dabei fast aus dem Mund heraus. Und jeder begehrende Blick veursachte mir erneute Stiche in den Magen und ins Herz.

Ich konnte meine Augen nicht von ihm lassen, obwohl mir sein mich völlig ignorierendes Verhalten so weh tat. Als Kati von der Toilette zurückkam, richteten sich seine Augen wie auf Kommando wieder auf sie und er lächelte sie an. Erst vor ein paar Tagen hatte er mich so angelächelt…

Meine Chefin lehnte sich neben mich an die Theke. „So wie die gerade herumgeknutscht hatten, müssten wir die eigentlich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses anzeigen, was?“ Sie lachte. „Machste eben die Latte und die Cola für die beiden fertig?“

Ich reagierte nicht. Ich konnte meine Augen nicht vom superverliebten Pärchen lassen und wünschte mich zehntausend Kilometer weit weg.

„Machst du das jetzt oder was?“, pflaumte meine Chefin mich an. Ich drehte mich um und schaute sie an. Keine Ahnung, wie beschissen ich ausgesehen hatte, jedenfalls zog sie nur die Augenbrauen hoch und sagte schnell: „Okay, ich mach’s eben selbst.“ Bevor ich auch nur blinzeln konnte, schrie auf einmal jemand meinen Namen in voller Lautstärke und ich erschreckte mich unheimlich. Mehrere Gäste drehten sich um.

„Saaaaaraaa!“ Und da erschien die Kratzbürste auch schon und wetterte so laut, dass ich nicht mal fragen konnte, was sie haben wollte. „Ich glaube, ich explodiere gleich! Da denke ich mir so eine tolle Überraschung aus und der Blödmann von Freddy, was tut der? Er schmeißt mich raus! Einfach raus. Der tickt doch nicht mehr richtig. Ich versuche wenigstens noch, irgendwas an unserer Beziehung zu ändern, aber der Trottel trifft sich nur mit seinen Kumpels und säuft sich voll. Ja, da brauchst du gar nicht so zu gucken, Sara, du hast es ja nicht mal für nötig gehalten, an dein Handy zu gehen. Obwohl ich echte Probleme hatte! Was guckst du denn so betroffen?“

Da piepste meine Armbanduhr drei Mal. Es hörte sich an wie das Piepsen, das in Filmen immer ertönte, kurz bevor eine Bombe platzte. Ich glaubte auch, selbst gleich zu explodieren.

„Was bildest du dir eigentlich ein?“, fuhr ich Aurélie an. „Du denkst, du hast Probleme und fragst nicht mal eine Sekunde lang, wie es mir geht? Lass mich doch in Ruhe mit deinem Geschwätz! Gott sei Dank muss ich dich jetzt nicht mehr bedienen, denn ich hab Schichtende!“ Wütend riss ich mir die Schürze vom Leib und nahm meine Jacke sowie die Handtasche an mich. „Ruf mich an, wenn du mich wieder eingeteilt hast. Bis dann!“, rief ich meiner Chefin zu und rannte aus dem Studentencafé. Einfach irgendwohin. Ich bildete mir ein, irgendjemanden hinter mir herrufen zu hören. Aber es war mir egal. Ob es jetzt Aurélie war, die Chefin, Kati, Hannes, der Weihnachtsmann oder alle zusammen, es war mir so egal.

Krümelmonster, Teil 11

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Wie lange war es jetzt her, dass ich die Uni verlassen hatte? Wie lange war es her, dass Lea plötzlich vor mir gestanden hatte und mich abholen wollte? Ich sah auf die Uhr meines Handys. Es waren fünf Stunden. Eigentlich kein so großer Zeitraum, und doch fühlte ich mich, als wäre ich von einem Güterzug überrollt worden. Von einem Güterzug, der aus dem Nichts aufgetaucht war.

Nie im Leben hätte ich heute Morgen, als ich in Hannes’ Bett aufgewacht war, gesagt, dass es an dem Tag so weit käme, dass meine Schwester im Krankenhaus lag und dass ich mich so schrecklich fühlte. Wie gesagt, als wäre ein Güterzug über mich drübergefahren. Mit längerem Aufenthalt auf meinem Kopf. Erst jetzt merkte ich, wie sehr er mir schmerzte. Während ich zur S-Bahn-Station ging, kamen noch Brustschmerzen dazu. Ich hatte mal gehört, wenn es einem sehr schlecht geht, kriegt man Brustschmerzen. Das schien sich jetzt zu bewahrheiten.

Ich hatte es gewusst! Ich hätte mein Glück nicht uneingeschränkt lassen dürfen. Ich hätte nicht uneingeschränkt glücklich sein dürfen. Denn immer, wenn ich das bis jetzt getan hatte, war mir danach etwas ganz Furchtbares passiert. Jedenfalls etwas, das mir auf die eine oder andere Art sehr schwer zusetzte. Und das tat die augenblickliche Situation zweifelsohne.

Ich kam an der S-Bahn-Station an und setzte mich dort in ein Abteil, das erstaunlicherweise fast leer war. Das passierte hier so gut wie nie. Normalerweise höre ich unterwegs immer Musik oder lese Texte für die Uni. An diesem Tag ließ ich mich einfach saft- und kraftlos auf den erstbesten freien Sitz fallen. Ich achtete nicht mal darauf, wer neben mir saß.

Irgendwann piepte mein Handy und kündigte damit das Eintreffen einer SMS ein. Es piepte zwei Mal, drei Mal. Es war mir egal.

Die Uni-Tasche, die ich immer noch trug, wog doppelt so schwer wie sonst. Als ich aus der S-Bahn stieg, brachte ich gerade so viel Kraft auf, dass ich vorwärts ging, nicht mehr. Der Riesenklotz, der das Studentenwohnheim war, befand sich vor mir und ich sah, dass mein Fenster erleuchtet war. Dann ging es aus. Was war denn da wieder los?

Auf einmal ganz wach, rannte ich die Treppen hoch und eilte zu meinem Zimmer. Und da sah ich es.

Meine CD mit den französischen Liedern war wieder da. Aber nicht so, wie ich sie gerne gehabt hätte. Sie war in viele kleine Teile zerbrochen. Das Textbooklet war in viele kleine Schnipsel zerrupft und die Hülle war kaputt. Über allem schwebte noch dieser extreme Parfümgeruch, der mir neulich schon aufgefallen war.

Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Dieses Parfüm, das war Chanel No. 5. Ein sauteures Parfüm und das Lieblingsparfüm einer Person, die ich kannte und die mich kannte. Es war Kati.

Ich wollte nicht mehr, ich konnte nicht mehr. Ich ließ mich mit dem Malheur, das ich in den Händen hielt, in Embryostellung auf den Boden fallen und weinte mein Innerstes aus mir heraus. So doll, dass ich keine Luft mehr kriegte.

 

Ich weiß nicht mehr, wie ich aufgestanden bin, nachdem mich die blendende Sonne, die mir in die Augen schien, geweckt hatte. Ich weiß nicht mehr, wie ich Zähne geputzt, mich mit Deo eingenebelt und die Tasche für die Arbeit gepackt habe. Und ich weiß nicht mehr, wie ich den Briefkasten geleert und die S-Bahn zur Uni genommen habe.

Ich fühlte mich wie eine leere Hülle. Meine Emotionen waren weg, ich empfand nur noch große Leere. Irgendwie kam ich schon am im Hauptgebäude gelegenen Studentencafé an, legte die Schürze um und tat das Wechselgeld in mein Portemonnaie. Aber ich weiß nicht mehr, wie.

Wie üblich nahm ich Bestellungen auf, kassierte ab und wechselte ein, zwei Worte mit den Gästen. Aber es fühlte sich überhaupt nicht echt an und es war große Kraft nötig, um das alles zu tun.

Meine Chefin, die im dreizehnten Semester an der Uni Soziologie studierte, merkte natürlich trotzdem, wie es mir ging. Den ganzen Vormittag, den wir zusammen hinter dem Tresen waren, schaute sie mich immer wieder von der Seite an. Als ich mich schließlich an einer Schranktür stieß und lauthals fluchte, sprach sie mich darauf an.

„Sag mal, hast du irgendwelche Probleme? Musste mir natürlich nicht erzählen.“

„Ach, Lea liegt im Krankenhaus“, antwortete ich knapp.

„Deine Schwester, richtig? Oh, äh, das tut mir sehr Leid. Dann mal gute Genesungswünsche an deine Schwester.“

„Danke“, murmelte ich und nahm flugs die nächste Bestellung auf.

Mein Handy piepste schon wieder. Verdammt, wieso piepste das nur ständig? Ich nahm es mal kurz aus der Tasche und sah, dass ich bereits 10 ungelesene SMS hatte. 7 kamen gestern von Aurélie und heute 3 von Anna. Konnte man denn nirgendwo alleine gelassen werden?

Ich wusste gar nicht, was ich denken sollte. Was war denn jetzt schon wieder los mit denen? Sieben Nachrichten von Aurélie innerhalb kurzer Zeit, das war schon ungewöhnlich. Und Anna hatte mir auch ziemlich häufig geschrieben.

Ich las die ganzen Nachrichten erst mal durch. Die erste kam gestern Nachmittag, so gegen ein Uhr.

Na, biste noch in der Uni?

Die zweite stammte von fünfzehn Uhr siebenundzwanzig.

Ich will mich mit Freddy treffen, hoffentlich klappt das!

Was sollte klappen? Ich würde es sicherlich bald erfahren.

Das Treffen war ein Desaster! Er will mich nie wieder sehen. Bitte komm gleich vorbei!

Ach herrje, und das hatte ich nicht gelesen? Na super, da blühte mir ja wieder was. Die nächsten drei SMS zeigten zwei entgangene Anrufe und eine Mailboxnachricht an und die letzte SMS, die gegen dreiundzwanzig Uhr fünf abgeschickt wurde, lautete folgendermaßen: Mach endlich mal dein Handy an, verdammt!

Schon wieder taten sich in meinem Kopf lauter Rätsel auf. Ich hatte nichts von eventuellen Plänen mitgekriegt, was ging denn da wieder ab? Bevor ich irgendetwas anderes tat, lieferte ich dem Mädel, das in den Vorlesungen von Professor Neumann immer neben mir saß, seinen Kaffee mit zwei Stück Zucker und las dann Annas SMS.

Die Frau macht mich wahnsinnig!, schrieb sie um fünf Uhr siebenunddreißig heute früh. Schon die ganze Nacht hört sie diese Scheiß-Filmmusik aus Amélie und nervt mich damit. Nichts hilft!

Amélie, damit war Aurélies Lieblingsfilm gemeint, dessen Protagonistin eine gewisse Amélie war. Ich kannte die Musik auch und konnte mir vorstellen, dass Anna eine höllische Nacht mit ihrer Mitbewohnerin durchgemacht haben musste. Oh herrlich.

Kommst du morgen zur Uni? Am besten treffen wir uns da, lautete die zweite SMS von sieben Uhr vier. Die letzte SMS von vor drei Stunden rief mich – freundlich – dazu auf, zurückzurufen.

„Darf ich mal kurz telefonieren?“, fragte ich meine Chefin. Sie gestattete es mir. Also verschwand ich mal eben in den Pausenraum und rief meine beste Freundin an.

Krümelmonster, Teil 10

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Eine halbe Ewigkeit später trat ein großer, älterer Mann im weißen Kittel aus der Tür. Gero sprang sofort auf und ließ mich damit fast auf den Nebenstuhl fallen. „Ist Lea wieder bei Bewusstsein? Wie geht es ihr? Nun sagen Sie schon!“

Ich spürte, wie mein Herz schlug. Der Arzt schüttelte ihn notdürftig ab und antwortete: „Die Patientin ist jetzt wieder bei Bewusstsein.“

„Geht es ihr gut? Was ist mit dem Baby?“, rief ich, nicht weniger alarmiert.

„Soweit wir das feststellen konnten, ist mit dem Kind alles in Ordnung. Es werden allerdings weitere Untersuchungen nötig sein“, erklärte der Arzt. „Sie dürfen jetzt zu ihr, allerdings bitte einzeln.“ Er ging davon.

Gero und ich sahen uns an.

„Möchtest du zuerst reingehen?“, fragte ich ihn.

„Ja, bitte.“

Ich wusste nicht, was ich denken sollte, als ich nun ohne Gero auf dem Flur saß. Ich winkelte meine Beine an und umschlang sie mit den Armen. Die Gedanken kamen und gingen im Halbsekundentakt, während irgendwelche namenlosen Ärzte und Krankenschwester über den Flur stratzten.

Heute Morgen war ich aufgekratzt gewesen vor Glück und jetzt war ich so niedergeschlagen, wie es nur ging. Die Angst um meine Schwester hatte mich krank gemacht, und der Umstand, dass plötzlich eine kleine Person aufgetaucht war, wirbelte die ganze Situation durcheinander. Und was würde unsere Familie nur sagen?

Mir lief es kalt den Rücken herunter. Die Familie! Sie würden nicht gerade vor Glück schreien, das war klar.

„Du bist doch selbst noch ein Kind!“

„Das war ja klar, dass du wieder nicht aufpassen konntest! Du und dein nichtsnutziger Freund!“

„Und woher wollt ihr das Geld dafür nehmen?“

So oder so ähnlich stellte ich mir die Reaktionen unserer Familie auf Leas Schwangerschaft vor. Wahrscheinlich würden unsere Eltern Lea aus dem Haus schmeißen und Oma würde sie enterben, sie würden ihr jegliche Unterstützung streichen, so malte ich es mir aus. Unsere Eltern wären nicht eben begeistert davon, mit Mitte 40 schon Großeltern zu werden, das wusste ich ganz genau.

Ich hasste dieses Warten, es machte mich krank! Immer wieder stierte ich zur verschlossenen Zimmertür. Was beredeten die da drin wohl gerade? Was dachte Lea gerade? Ich vermochte es nicht, es mir auszumalen.

Irgendwann ging die Tür auf und Gero kam heraus. „Lea möchte dich jetzt sprechen. Sag mir bitte Bescheid, wenn ihr fertig seid. Ich gehe mal in die Cafeteria.“ Und weg war er.

Auf wackligen Beinen ging ich ins Zimmer.

Meine große Schwester lag im Bett, mit ausgestrecktem linkem Arm, wegen der Infusion. Sie wirkte sehr blass und als ich neben dem Bett stand, merkte ich es: Sie weinte.

Wortlos nahm ich sie in den Arm und streichelte ihr den Rücken. Sie weinte wie ein Springbrunnen, bis das Licht orangefarben ins Zimmer scheinte.

Ich wusste gar nicht, was ich zuerst sagen sollte. Die ersten Worte, die mir dann über die Lippen kamen, waren: „Was hat er gesagt?“

„Wer?“, schniefte Lea.

„Dein Verlobter“, antwortete ich.

„Was meinst du?“, entgegnete Lea, zu Recht verwirrt.

„Er hat sich als dein Verlobter ausgegeben, damit er mitfahren durfte. Sonst hätten sie ihn doch nie im Leben mitkommen lassen.“

„Phh“, schnaubte Lea. „So verliebt hat er gerade aber nicht gewirkt. Die ganze Zeit rief er: ‚So ein Mist, was machen wir jetzt?‘ Und wollte nicht eine Sekunde wissen, was ich darüber denke. So ein Arsch!“ Wütend schmiss sie ihr Kissen mit dem unangezapften Arm an die Wand.

Wenn ich es bis jetzt noch nicht gewusst hätte, dann hätte ich spätestens jetzt gewusst, dass die Situation ernst war, denn nicht mal im schlimmsten Streit hatte Lea ihren Freund als Arsch bezeichnet.

„Was denkst du denn darüber?“, wollte ich von ihr wissen.

„Was ich darüber denke? Ich denke darüber, dass ich keine Ahnung habe, was ich machen soll, und ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll, dass ich nicht Diabetes habe, wie ich eigentlich dachte, oder ob ich mich ärgern soll, weil ich jetzt Mutter werde! So ein Mist, was machen wir jetzt? Ach, verdammt!“ Lea fing wieder an zu weinen.

Ich streichelte ihr über den Kopf.

„Und was werden erst Mama und Papa sagen? Die schmeißen mich doch aus dem Haus, wenn sie das erfahren!“, schluchzte sie.

„Das werden sie schon nicht tun. Das dürfen sie gar nicht!“, versuchte ich, sie zu trösten. „Als deine Eltern sind sie gesetzlich verpflichtet, dich zu unterstützen.“

„Selbst wenn…“ Lea wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Gero verlässt mich doch garantiert, solche Geschichten hört man doch immer wieder. Wieso sollte er denn jetzt noch bei mir bleiben? Er wirkte nicht gerade begeistert, als er gerade hier war.“

„Weil er dich liebt, zum Beispiel? So, wie er um dich besorgt war, gerade, wirkte er nicht, als wollte er dich fallen lassen. Also, wenn er dich nicht liebt, dann… weiß ich auch nicht. Denkst du wirklich, dass er dich wegen dieser Sache verlässt? Die fehlende Begeisterung kannst du ja wohl kaum zählen. Du weißt, dass die Situation ernst ist, und daran bist du ja wohl auch ein bisschen schuld.“

„Das weiß ich doch!“, fauchte Lea. „Es ist nur… Es kommt alles so schnell, von einer Sekunde auf die andere werden unsere Leben so schnell verändert und ich kann nichts dagegen tun…“

„Aber du kannst das Beste daraus machen“, fiel mir dazu nur ein. „Du und Gero, ihr werdet schon die richtige Entscheidung treffen.“

„Wenn du meinst… Du, bitte sei mir nicht böse, aber bitte geh jetzt, ich möchte irgendwie versuchen, es unseren Eltern beizubringen.“ Lea griff nach dem Hörer des Telefons, das neben dem Bett stand, ließ mich aber nicht aus den Augen.

„Na gut. Ich besuche dich morgen wieder.“ Ich umarmte meine große Schwester noch einmal kurz und schloss dann die Tür hinter mir.

Würde sie wirklich unsere Eltern anrufen oder nur in der Krankenschwesternstation anrufen und um ein Glas Wasser bitten? Ich wusste es nicht.

Auf dem Flur kam mir jemand entgegen. Es war Gero. Mir kam auf einmal diese Filmmusik in den Sinn, die Mundharmonika aus diesem einen Film, wie hieß der noch gleich? „Spiel mir das Lied vom Tod“, genau. Ich erinnerte mich an einen Augenblick vor ungefähr acht Jahren. Da musste ich elf oder zwölf gewesen sein, Opa hatte noch gelebt. Im Fernsehen hatte er sich diesen Film angesehen, und ich hatte währenddessen bei ihm auf dem Sofa gesessen und Hausaufgaben gemacht oder so. Der Film war erst ab sechzehn und als Mama das gemerkt hatte, wurde sie furchtbar böse. Ich schluckte.

„Du bist immer noch hier?“, sagte ich schließlich, als Gero und ich uns trafen.

„Ja. Wo sollte ich sonst auch hin? Wie geht es ihr jetzt?“

„So mittel“, antwortete ich. „Bitte sag mir Bescheid, ob sie unsere Eltern angerufen hat.“

„Mach ich, ich muss jetzt unbedingt zu ihr!“, rief er und eilte an mir vorbei.

Er hatte tatsächlich gewartet. Die ganzen Stunden, während Lea und ich im Zimmer gewesen waren, hatte er geduldig gewartet. Ich musste zugeben, dass mich das erstaunte. War das nun ein Zeichen seiner tiefen Liebe zu meiner Schwester? War das nun ein Zeichen dafür, dass er bei ihr bleiben und alle Widrigkeiten, die sie noch erwarteten, zusammen mit ihr durchstehen würde?

Ich verließ das riesige Krankenhaus.

Krümelmonster, Teil 9

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„Gehören Sie zu Frau Lehmann?“

„Ich bin ihre Schwester“, rief ich.

„Und ich ihr Verlobter“, rief Gero geistesgegenwärtig. Das ließ der Notarzt als angehörig durchgehen und ließ uns beide mitfahren.

„Ich hätte mir denken müssen, dass sie nicht in Ordnung ist, sie hat sich heute Morgen die ganze Zeit übergeben müssen“, bemerkte Gero noch.

„Das würde zur medizinischen Geschichte Ihrer Verlobten passen“, berichtete der Notarzt.

„Welche medizinische Geschichte? Was ist überhaupt los?“, fragte Gero.

„Nun sagen Sie doch endlich, was los ist!“, bestürmte ich den Notarzt.

Der sagte: „Ruhig, ruhig! Ich will Ihnen ja erzählen, was passiert ist. Soweit ich weiß, hatte Frau Lehmann einen Termin beim Hausarzt?“

„Ja, das stimmt.“

„Wir haben die junge Dame nämlich vom Frauenarzt abgeholt, ein Stockwerk drüber.“

„Frauenarzt?“ Gero und ich schauten uns ratlos an.

„Ja“, erzählte der Arzt, während er Lea eine Infusion legte. „Frau Dr. Campe berichtete mir, dass sie vom Hausarzt zu ihr geschickt wurde, wegen einer Untersuchung. Und als Ihre Angehörige das Ergebnis gehört hat, ist sie bewusstlos geworden.“

„Welche Untersuchung?“, wollte ich wissen.

„Was für ein Ergebnis?“, rief Gero fast zeitgleich. „Und wieso musste Lea deswegen ins Krankenhaus? Sie war doch nur ohnmächtig, da hätte man sie doch einfach wiederbeleben können?“

„Nun, dafür gibt es einen ganz bestimmten Grund.“ Der Notarzt legte seine Utensilien beiseite und blickte uns an. „Lea Lehmann ist im dritten Monat schwanger.“

 

„Das glaube ich einfach nicht! Ich dreh noch durch!“

In den drei Minuten, die wir bereits hier waren, war Gero bereits so oft den Krankenhausflur auf- und abgerannt, dass man es gar nicht mehr zählen konnte.

„Ich drehe auch gleich durch, wenn du nicht sofort stehen bleibst! Das hält ja kein Mensch aus!“, fuhr ich ihn an.

„Wie kannst du das von mir verlangen?“, antwortete Gero, blieb aber stehen. „Ich werde Vater, ohne bis jetzt was davon gewusst zu haben, mit 22! Meinst du nicht, dass das etwas früh ist? Mal abgesehen davon liegt Lea da drin in diesem Scheißzimmer und konnte bis jetzt nicht wiederbelebt werden! Das bringt mich nicht eben dazu, bessere Laune zu haben! Scheiße!“, rief er laut aus und trat in seiner Wut gegen einen Essenswagen, worauf eine Krankenschwester ihn missbilligend ansah.

„Ja, es ist vielleicht etwas früh, aber kommt das wirklich so überraschend für dich? Weißt du ganz sicher, dass sie nie die Pille vergessen hat oder so?“

„Jetzt fang nicht auch noch damit an! Ich mach mir sowieso schon die ganze Zeit Vorwürfe. Es ist alles meine Schuld. Wenn wir, wann auch immer, nicht miteinander geschlafen hätten, dann wäre Lea jetzt nicht schwanger und hätte auch keinen Schock gekriegt und wäre nicht in Ohnmacht gefallen… ach, verdammt!“ Erneut trat er gegen den herumstehenden Essenswagen, worauf die Krankenschwester jetzt sagte: „Lassen Sie Ihre Wut bitte nicht am Essenswagen aus!“

„Sie haben doch keine Ahnung, was hier gerade abgeht!“, fauchte er.

Ich zog ihn auf den Stuhl neben mir und zwang ihn so, sich niederzulassen. „Gero, ich weiß, dass das alles große Scheiße ist, aber sieh es doch mal positiv: Wir wissen jetzt, dass sie kein Diabetes hat. Das wäre doch viel, viel schlimmer!“

„Ja, toll.“ Gero sprang wieder auf. „Stattdessen liegt sie ohnmächtig in diesem Zimmer und wacht nicht wieder auf, und über Nacht sind wir werdende Eltern! Denkst du wirklich, dass das besser ist?“

„Was weiß ich denn!“, rief ich hilflos. „Ich versuche wenigstens, ruhig zu bleiben. Das ist nicht gerade einfach!“

Gero stratzte wieder ruhelos über den Flur. „Was sollen wir nur machen? Wieso muss uns so was passieren?“ Er ließ sich auf den Stuhl fallen. „Selbst wenn Lea wieder aufwachen sollte, ist da immer noch dieses Problem…“

Mir gefiel irgendwie die Art und Weise nicht, in der er Problem aussprach. „Betrachtest du euer gemeinsames Kind etwa als Problem? Sei doch froh, dass es sich hier wenigstens um deine Freundin handelt und nicht um irgendeinen One-Night-Stand handelt.“

„Ja, es ist ein Problem für mich. Ich befinde mich zufällig gerade mitten im Studium und Lea genauso! Wie konnte uns das nur passieren?“

„Weißt du, wenn ein Mann und eine Frau…“

„Findest du das etwa witzig?“, fauchte Gero mich an.

„Nein!“, rief ich genauso aufgebracht zurück. „Aber wie ein Duracell-Hase auf Ecstasy den Flur rauf- und runterzurennen, bringt es doch auch nicht!“

„Woher soll ich denn wissen, was hilft?“, rief Gero hilflos aus. Plötzlich ließ er sich auf den Stuhl neben mir fallen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Ein lautes Wimmern war zu hören. „Wieso passiert uns nur immer wieder so was? Warum? Wieso wacht Lea nicht auf? Warum?“

Der arme Gero tat mir Leid. Und auch ich war ziemlich durcheinander. Wie tröstet man jemanden, der total aufgewühlt ist, wenn es einem selbst nicht anders geht? Mir kam die Nachricht von Leas Schwangerschaft ja genauso überraschend wie ihm, und das Ganze wurde dadurch noch verschlimmert, dass Lea in diesem Krankenzimmer lag und noch immer ohnmächtig war. Normalerweise war man nach einigen Minuten doch wieder bei Bewusstsein, oder? Wieso gab Lea immer noch kein Lebenszeichen von sich? Was sollten wir nur tun?

Ich nahm Gero in den Arm und wimmerte mit.

Krümelmonster, Teil 8

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Irgendwie bekam ich Hannes an dem Tag gar nicht zu Gesicht. Na gut, das konnte vielleicht daran liegen, dass wir nicht die gleichen Studienfächer hatten oder dass er einfach keine Lust auf die Vorlesungen hatte. Verständlich. Hatte ich auch selten.

Ich hatte auch eigentlich keine Zeit, mich darüber zu wundern, denn als ich just aus dem riesigen Unigebäude gehen wollte, stand plötzlich Lea vor mir.

„Hey, was machst du denn hier?“, fragte ich erstaunt und umarmte meine Schwester.

„Ach, ich wollte dich einfach abholen“, antwortete sie.

„Dann bis später“, verabschiedete sich Anna, die bis dahin mit mir gegangen war.

„Bis später“, winkten wir ihr und liefen dann gemeinsam die Robert-Mayer-Straße entlang.

„Du hast mir ja gar nicht Bescheid gesagt, was ist denn los?“, erkundigte ich mich bei ihr.

„Na jaaa…“ Sie seufzte. „Ich wollte nur mal wissen, wie es dir geht.“

„Wie es mir geht? Und da kommst du extra vorbei, anstatt mir ‘ne SMS zu schreiben oder anzurufen?“

„Na ja, ich hab mich doch schon ziemlich lange nicht mehr bei dir gemeldet, oder?“

Wenn sie zwei Tage als lang bezeichnen wollte, dann hatte sie vermutlich Recht. Was war mit Lea?

„Komm, du bist doch nicht hergekommen, um zu fragen, wie’s mir geht. Das könntest du doch auch telefonisch machen. Also, was stimmt nicht mit dir?“

Jetzt blieb Lea stehen und ließ sich damit fast von einem Fußgänger anrempeln, der sie mürrisch anguckte. „Ich bin zu dir gekommen“, antwortete sie nun mit bewegter Stimme, „da ich heute zum Arzt wollte.“

Da war auch ich plötzlich aufgeregt. „Hast du dich jetzt endlich durchgerungen?“

„Ja, habe ich.“ Lea atmete tief durch. „Ich hab mir ein Ärztehaus in der Dominikanerstraße ausgesucht. Ich wollte nicht zu Hause zum Arzt gehen.“

„Das kann ich verstehen.“

Wir kamen an der U-Bahn-Station an.

„Wo willst du jetzt hin? Zu mir nach Hause oder irgendwen besuchen?“

„Na ja“, antwortete Lea, „ich wollte eigentlich direkt zum Arzt gehen. Gero kommt auch, der wartet an der Brücke auf mich.“ Gero, das war ihr Freund, den ich ziemlich selten zu Gesicht bekam; das war auch schon so gewesen, als ich noch bei meinen Eltern gewohnt hatte.

Schweigend gingen wir zur Brücke. Und tatsächlich stand Gero am anderen Ende. Er schaute uns an und trug wie üblich seine schwarze Jacke und das Armycap.

„Hi, Mädels“, sagte er nur und küsste Lea auf den Mund. Das erste Mal, dass ich wieder was von ihm gehört hatte, seit ein paar Wochen. Obwohl ich ihn Samstag und Sonntag gehört hatte.

Zu dritt liefen wir die zwei Kilometer zum Arzt. Ja, zu Fuß, das konnte ich irgendwie selbst nicht glauben. Außerdem sprach keiner von uns ein Wort, bis wir angekommen waren.

In meinem Kopf lief ein sehr komischer Gedankenfilm ab, mit Hannes, Anna und Lea in den Hauptrollen und Gero als Nebendarsteller. Ich ließ den ganzen Tag Revue passieren. Erst die Sache mit Hannes und die Tatsache, dass wir heute Morgen nebeneinander aufgewacht waren. Und jetzt, wo meine Schwester neben mir lief, sorgte ich mich um sie.

Wenn sie wirklich Diabetes hatte, so, wie sie vermutete, dann wäre das doch nicht gefährlich, oder? Wir hatten das in der Schule behandelt und ich wusste, dass man das in den Griff kriegen konnte. Aber würde sich Leas Leben dadurch nicht grundsätzlich verändern? Würde das nicht ihren ganzen Lebensplan umschmeißen, wenn sie immer Broteinheiten zählen musste und sich ständig Insulin spritzen musste?

Ich war ziemlich besorgt, aber als wir vor dem Ärztehaus ankamen, nahm ich sie kurz beiseite.

„Hab keine Angst. Du bist bestimmt nicht krank und wenn doch, dann ist es zwar ernst, aber nicht todernst. Das kannst du… irgendwie in den Griff kriegen. Ich helf dir dabei.“

„Danke, Kleine“, antwortete Lea und umarmte mich. Dann gingen wir gemeinsam ins Ärztehaus.

Lea musste, was ziemlich ungewöhnlich ist, nicht besonders lange warten und kam fast sofort dran. Zusammen mit einigen älteren Damen saßen Gero und ich im Wartezimmer der Hausarztpraxis, die im Ärztehaus untergebracht war, und ich blätterte in irgendwelchen Illustrierten, die schon Wochen alt waren. Nachdem ich den xten Bericht über ein sich trennendes Schauspielerpärchen gelesen hatte, verlor ich die Lust und legte die Zeitungen beiseite.

Die alten Omas waren inzwischen weg. Ich starrte angestrengt auf das mir gegenüber an der Wand hängende impressionistische Gemälde. Mir fiel auf, dass dasselbe Bild früher auch in der Schule gehangen hatte, im Krankenzimmer. Mann, wie ich es dort gehasst hatte…

Plötzlich ertönte neben mir ein lautes Seufzen und ich sah, wie Gero sich das Gericht rieb.

„Oh, ich hoffe wirklich, dass sie nicht krank ist. Ich weiß, dass sie das nicht aushalten würde…“, murmelte Gero.

„Ja, sie war schon immer ziemlich empfindlich…“

Oh, ein Gespräch zwischen uns. Hatten wir uns überhaupt schon mal so richtig unterhalten?

„Das war sie schon früher, ja. Als ich sie angesprochen habe, dachte sie zuerst, ich wäre irgendso ein Irrer, und hat mich total ignoriert.“

„Wie lange ist es schon her, dass du Lea angesprochen hast?“

„Zwei Jahre müssten es jetzt sein.“ Gero nahm seinen Kopf zurück und dachte angestrengt nach. „Ja, letzte Woche waren es genau zwei Jahre.“ Er lachte. „Wir hatten diesen Unikurs zusammen. Es ging irgendwie um Shakespeare oder so was. Ich habe sie gefragt, ob ich ihr nachhelfen soll.“

„Und da hat sie Nein gesagt?“

„Ja, wahrscheinlich waren meine Worte etwas unglücklich gewählt. Obwohl ich gar nicht mehr genau weiß, was ich gesagt habe. Aber irgendwann ließ sie sich dann von mir zu einem gemeinsamen Kaffee im Studentencafé überreden. Und ungefähr einen Monat später waren wir dann zusammen. Ich könnte dir sogar noch den Tisch zeigen, an dem Lea und ich damals gesessen haben. Kennst du den Tisch hinten rechts in der Ecke, wo das Herz eingeritzt ist?“, fragte er.

Ich nickte. „Ich arbeite ja dort.“

„Oh, wirklich? Ich habe dich ja schon lange nicht mehr dort gesehen.“

„Ja, ich habe in der letzten Zeit viel um die Ohren gehabt wegen diesen Politikseminaren. Aber morgen will ich wieder hin. Da fällt diese eine Vorlesung aus, also habe ich den ganzen Tag Zeit.“

„Und du studierst also Politik?“

„Ja“, seufzte ich. „Ich hatte in der Schule Supernoten darin und fand es auch ganz interessant, aber so als Vollzeitstudium… ätzend.“

„Das ist nur am Anfang so. So ab dem zweiten Semester gewöhnt man sich daran.“

„Dann wird’s ja Zeit.“

Wir lachten beide.

Eine ganze Weile unterhielten wir uns noch. Als ich gerade anfangen wollte, die Geschichte mit Freddy in Paris zu erzählen, riss plötzlich jemand die Tür auf und ich sah, wie Lea auf einer Trage herausgebracht wurde.

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