Ich hatte einfach keine Lust mehr. Erst passierte mir die Sache mit Lea, dann ließ Hannes mich einfach links liegen, obwohl wir so eine schöne Nacht miteinander verbracht hatten, und zu allem Überfluss verhielt sich Aurélie total ignorant, so, als wäre ihr nur ihr eigenes Leben etwas wert.
Ich rannte aus der Uni, vorbei an mich verwundert anstarrenden Studenten und sonstigen Unileuten. Es war mir egal, was sie dachten. An der Straße hielt ich einmal kurz inne, weil ich überlegen musste, wo ich hinwollte. Wo wollte ich eigentlich hin? Das wusste ich nicht. Ich bog einmal in die der Sonne entgegengesetzte Richtung ab. Rechts, geradeaus, rechts, links, die Weihnachtslichter passierend. So dunkel war es doch noch gar nicht, wieso leuchteten all die Lichterketten bereits?
Stromverschwendung. Ich lief über einige Brücken und spürte die brennenden Blicke der Leute, die in den Straßen herumliefen. Konnten die sich nicht um ihre eigenen Leben kümmern? Es ging sie nichts an, was mir gerade passierte!
Die Luft war kalt und brachte meine Lungen fast zum Platzen, doch das bekam ich gar nicht richtig mit. Zu wütend war ich über diese ganze Situation. Warum musste immer mir so etwas passieren? Hatte ich mich irgendwie falsch verhalten? Ich war mir keines Fehlers bewusst, der den da oben im Himmel, wenn es ihn denn wirklich gab, irgendwie verärgert haben könnte. Ich wünschte mir, dass Lea wieder aus dem Krankenhaus käme, sie sich entscheiden würde, was das Baby betraf, Hannes mich endlich wieder wahrnehmen würde, und Aurélie endlich zur Vernunft käme, und wusste gleichzeitig, dass all das nie geschehen würde. Diese Zicke von zweitbester Freundin würde es niemals auf die Reihe kriegen mit Freddy und den anderen und selbst wenn meine Schwester bald aus dem Krankenhaus herauskäme, sie würde die Entscheidung bis zum letzten Moment hinauszögern. Und für den Mann, in dessen Armen ich vorletzte Nacht zum ersten Mal das Paradies erlebt hatte, würde ich auf ewig ein Niemand bleiben. Nur ein weiteres Häkchen in der Liste der von ihm vernaschten Frauen.
Ich fühlte mich wie eine Idiotin. Deutlich hörte ich Annas Worte im Ohr. Pass bloß auf, dass du dich nicht in den Typen verliebst. Der ist der reinste Fraueneroberer. Das hatte mich da nicht interessiert. Hätte es aber wohl sollen. Ich hatte doch an Lea gesehen, was passierte, wenn ein Pärchen im Feuer der Leidenschaft seine Selbstkontrolle verlor. Zwar war ich nicht schwanger (wir hatten ja zweifach verhütet, Pille und Lümmeltüte), aber dennoch war ich ein emotionales Wrack.
Ich lief weiter. Eine alte Oma saß auf einer Parkbank und fütterte Tauben. Sie rief: „Wenn Sie sich beeilen, kriegen Sie den Zug noch!“
Den Zug? Da sah ich das Hauptbahnhofsgebäude vor mir auftauchen. Ich steuerte es hastig an, ich wusste gar nicht mehr richtig, was ich tat. Ich lief einfach hoch zu den Gleisen und setzte mich in den erstbesten Zug. Hauptsache weg aus dieser Stadt.
Ich wollte hier nicht mehr bleiben. Mir war hier irgendwie zu viel Nervenaufreibendes passiert. Es war mir auch egal, wohin dieser Zug fuhr. Hauptsache, er fuhr mich aus dieser Stadt weg.
„Guten Tag, die Fahrkarten bitte!“, hörte ich auf einmal eine Stimme.
Da war ich wieder bei vollem Bewusstsein. Verdammt! Auch das noch! In welchem Zug war ich? Ich musste ganz schnell hier raus. Ich sah mich um. Es war ein Regionalzug.
„Dieser Zug, wohin fährt der?“, fragte ich eine Mitreisende. Die ältere Dame nannte den Namen einer mir unbekannten Stadt. „Und über welche Städte fährt dieser Zug?“, wollte ich wissen. „Über Wetzlar zum Beispiel, da muss ich hin.“
Wetzlar? Moment mal, hatte ich, ohne es zu wissen, den Zug nach Hause genommen? Wie konnte ich so etwas nicht wissen? Ich war höchst verwirrt und gleichzeitig total erleichtert. Mein Semesterticket galt bis dorthin noch und so reichte ich es dem mittlerweile bei uns angekommenen Kontrolleur, zusammen mit meinem Personalausweis. Der Kontrolleur bedankte sich und ging weiter.
„Sind Sie etwa in den falschen Zug gestiegen?“, fragte mich meine ältliche Sitznachbarin. Verwundert ob ihrer unerwarteten Ansprache zuckte ich zusammen. „Neinnein“, antwortete ich schnell, „ich bin hier richtig.“ Dann sah ich aus dem Fenster und betrachtete nachdenklich die vorbeiziehenden Häuser.
Nach knapp einer Stunde stieg ich in meiner Heimatstadt aus dem Zug. Der Schnee lag dick auf den Wegen und knirschte unter meinen Stiefeln, als ich langsam nach Hause ging. Es sah hier ganz anders aus und doch so vertraut. Ich lief durch die Hauptstraße und die Siedlung, vorbei am Metzger, einem Blumenladen und der Praxis meiner Mutter, die sich nur ein paar hundert Meter von meinem Elternhaus entfernt an einer Kreuzung befand. Ich bog in meine Straße ein.
Auf einmal ertönte laut Musik. They will not force us, they will stop degrading us… Das war mein Handy! Verwundert drückte ich auf die Annahmetaste.
„Hallo?“
„Hallo, Sara, hier ist deine Oma!“
„Oh, hallo, Oma…“
„Na, wie geht es dir?“
„Ganz gut…“
„Ganz gut?“ Oma lachte herzhaft. „Na, das klingt ja sehr begeistert. Was machst du denn gerade? Hast du Stress mit der Uni?“
„Naja, es geht, das Politikseminar ist jetzt vorbei, ich war gerade arbeiten…“
„Na dann. Aber pass auf, dass du immer schön lernst, damit du auch gute Noten kriegst.“ Ja, das war die alte Oma. „Wo bist du denn gerade?“
„Naja…“ Ich überlegte, was ich antworten sollte. „Eigentlich bin ich kurz vorm Haus…“
„Wie, vorm Studentenwohnheim?“
„Nein, guck mal aus dem Fenster…“
Ich sah zirka fünfzig Meter entfernt, wie Oma die Vorhänge zur Seite zog und aus dem Fenster blickte.
„Na, dann komm mal schnell her, Telefonieren zum Handy ist ja teuer!“
„Okay, bis gleich.“
„Ja, tschüss!“ Ich legte auf und ging schnell zur Tür. Dort drückte ich auf die Klingel.
Oma machte auf. Mama stand neben ihr. „Hallo, Sara, na? Schön, dass du wieder hier bist!“ Sie umarmten mich beide.
Ich trat ins Haus und legte meine Kleidung ab. Mir stieg ein wunderbarer Geruch in die Nase. Ich schnupperte. „Ist das etwa dein berühmter Apfelkuchen?“
„Nein, heute habe ich den gekauft, weil ich heute etwas früher zum Sport muss“, erklärte Oma. „Ist das schlimm?“
Ja. „Nein, das ist schon in Ordnung. Ich hab sowieso nicht so viel Hunger.“
Wir setzten uns aufs Sofa.
„Ist alles mit dir in Ordnung? Du siehst so blass aus.“
„Nein“, versicherte ich meiner Mutter. „Ich bin nur noch etwas müde von der Arbeit. Es war heute ziemlich anstrengend.“ Das war nicht mal gelogen.
Okay, nicht falsch gedacht 😀 @vorletzte Nacht