Die nächsten anderthalb Wochen machte ich nur Dienst nach Vorschrift. Ich ging brav zur Uni, schrieb in den Vorlesungen mit, ansonsten versteckte ich mich in den Vorlesungssälen bzw. zu Hause. Ich lachte kaum, sprach außerhalb der Veranstaltungen niemanden an und Nachfragen von meinen Freundinnen watschte ich mit Angst vor den Klausuren im Januar ab. Und die glaubten mir das auch noch, aber vielleicht wollten sie auch einfach nicht nachfragen.
Lukas sah ich in der Zeit nicht einmal. Aber ich musste ständig an ihn denken, vor allem, wenn ich mal wieder an einem der zahllosen Plakate vorbeilief, die den Weihnachtsball ankündigten. Wieso mussten die überall hängen und mich daran erinnern, was für ein Scheißmensch ich war?
Ein paar Tage vor dem Ball hing ich emotionslos im Gesicht und mit lauter Gedanken im Kopf auf meiner hässlichfarbenen Sitzschale herum, als Kati zu mir in den Vorlesungssaal kam. Sie wirkte ziemlich atemlos.
„Was ist denn?“, fragte ich ungeduldig. „Die Vorlesung fängt gleich an.“
„Ich weiß, ich hab dich schon überall gesucht. Man sieht dich ja in letzter Zeit nirgendwo. Hier ist jedenfalls deine Ballkarte.“ Sie reichte mir ein bunt bemaltes Teil, auf dem Eintrittskarte für den Weihnachtsball der Universität Frankfurt stand.
„Hör mal, ich hab dir schon gesagt, ich will da nicht hin“, rief ich und warf ihr das Teil wieder entgegen.
„Und ich hab dir schon gesagt, du darfst dich nicht verstecken“, entgegnete Kati und setzte sich neben mich. „Wenn du Lukas wirklich haben willst, musst du mit ihm sprechen. Du darfst dich nicht in deinem Schneckenhaus verkriechen. Also: Komm zum Ball. Ich schenk dir auch die Karte, wenn’s sein muss.“
„Ich will da nicht hin. Und überhaupt, wer hat gesagt, dass ich ihn wirklich haben will?“
Kati sah mir tief in die Augen.
„Okay, du hast Recht“, gab ich zu, „aber er wird doch eh die ganze Zeit auf der Bühne stehen.“
„Irgendwann wird die Band Pause machen“, warf Kati ein. Vorne an der Tafel stellte sich der Dozent bereit. „Na ja, ich muss jetzt in meine Vorlesung. Hier ist die Karte, du kannst es dir ja noch mal überlegen. Aber du solltest wirklich dort hinkommen. Ich werde jedenfalls da sein.“ Und weg war Kati.
Jeder kennt sicher das Gefühl, etwas zu machen, das man überhaupt nicht will. Nie habe ich dieses Gefühl tiefer empfunden als an diesem Tag. Mittags rauschte ich aus der Uni, ohne Mittagessen, nur um anderthalb Stunden beim Frisör zu sitzen für einen Termin, den ich gar nicht wahrnehmen wollte. Ich sah ihm dabei zu, wie der Mann meine Haare zu einer Hochsteckfrisur auftürmte und mein Make-up erledigte, und wollte ihm die ganze Zeit sagen, dass er sich die Mühe eigentlich sparen konnte. Ich sprühte mich mit meinem schönsten Parfüm ein und hüllte mich in mein tolles Abendkleid und dachte: Wozu das alles? Hat doch eh keinen Sinn. Ich will da nicht hin. Hey, das reimte sich.
Um mich herum war alles still. Ich sah in den Spiegel, in mein geschminktes zwanzigjähriges Gesicht, im selben Kleid wie vor anderthalb Jahren beim Abiball, und überlegte, wie der Abend heute wohl aussah. Ich wusste ganz genau, dass er beschissen werden würde.
In der U-Bahn zur Uni starrten mich alle an. Nun, es war wohl nicht alltäglich, dass sich eine junge Frau in so einem Filmstaroutfit (als ob ich wie einer aussähe…) in ein öffentliches Verkehrsmittel setzte. Ich wünschte, ich hätte mich mit dem Auto bringen lassen. Tja, zu spät. Fing ja schon gut an, der Abend. Ich war froh, als ich endlich wieder aussteigen konnte… und auch wieder nicht. Ich steckte nämlich nicht nur im selben Kleid wie beim Abiball, ich war auch mindestens genauso aufgeregt.
Was das Ganze nicht besser machte, war die komplette Aufmachung der Uni. Sie hatten sogar einen roten Teppich vorm Eingang hingelegt. War ich hier in Frankfurt am Main oder in Hollywood? Viele Studentinnen standen aufgebrezelt und mit Sektglas in der Hand herum und quatschten. Die Jungs trugen Anzüge und helle Biere.
Ich zitterte. Und das lag nicht an der Kälte. Am Eingang zeigte ich meine Eintrittskarte vor und bekam ein Sektglas in die Hand gedrückt. Für alle Ladys umsonst, wie mir der Kellner erklärte. Na dann. Ich kippte sofort einen ordentlichen Schluck herunter und sah mich erst einmal um.
Auf der Bühne stand noch niemand herum, aber alle Instrumente und die Anlagen waren schon aufgebaut. Das Mikrofon auch, und die Leadgitarre stand auf einem Ständer daneben. Ich seufzte laut.
„Hey, Sara! Endlich sieht man dich mal wieder!“
„Ja, da hast du wohl Recht. Hallo, Anna“, begrüßte ich sie und bemühte mich um ein Lächeln.
„Was war denn los? Hast du wirklich solche Probleme mit den Klausuren?“
„Ich hab jetzt keine Lust, noch mal darüber zu reden. Jedenfalls scheint Lukas jetzt zu denken, ich wäre nicht an ihm interessiert, sondern an dieser Pappnase von Hannes.“
„Stimmt das denn?“
„Nein!“, rief ich und trank noch einen Schluck Sekt. Mir fiel auf, dass die Flüssigkeit in Annas Glas orange war. „Was hast du denn da?“
„Ach, ich habe den Kellner gebeten, mir etwas ohne Alkohol zu geben. Deswegen bekam ich Orangensaft“, erläuterte Anna.
„Musst du heute fahren?“
„Ich weiß auch nicht, wieso ich mich dazu breitschlagen ließ. Aber ich habe versprochen, Aurélie und Freddy auf dem Heimweg mitzunehmen.“
„Wo sind die eigentlich?“
„Die kommen später. Sag mal, du bist wohl ziemlich aufgeregt, was?“
„Ja, ich wollte mit Lukas reden. Würde mich wundern, wenn er das noch will, nach dem, was passiert ist.“
„Willst du mir wirklich nicht erzählen, was mit euch war?“
„Na schön, komm mit, ich sag’s dir.“
Auf der Toilette sagte ich dann: „Ich habe ihm erzählt, dass Hannes und ich miteinander geschlafen haben und er mich dann sitzen ließ, und er hat auch gesehen, wie Hannes und ich miteinander gesprochen haben und ich meinte, wir könnten Freunde bleiben und er mich dann umarmt hat.“
„Oh, das ist wirklich ein ganz schön dicker Hund“, stöhnte Anna. „Deswegen hast du kaum mit uns gesprochen? Aurélie dachte schon, es läge an uns.“
„Nein, das bestimmt nicht. Weißt du“, erklärte ich ihr, „es wird schon wieder nichts. Nur diesmal fühlt es sich… noch schlimmer an als bei Hannes.“
„Hast du mit Lukas eigentlich überhaupt schon mal direkt über die ganze Sache gesprochen?“, fragte Anna.
„Nein.“
„Wie willst du dann überhaupt wissen, dass es nichts wird? So kann das ja nichts werden“, empörte sich meine beste Freundin. „Du musst ihm sagen, dass du Gefühle für ihn hast!“
„Er will auf keinen Fall mehr mit mir reden!“, rief ich nicht weniger laut zurück.“
„Aber du mit ihm! Und das zählt.“
„Na schön, in der Bandpause guck ich mal, ob ich ihn abgreifen kann.“
„Nein, du machst das jetzt!“, befahl sie mir. „Sonst machst du’s nie. Ich bin mit dir jetzt zehn Jahre befreundet, ich kenn dich.“
Sie war ja aufgeladen! „Okay, okay“, beruhigte ich sie.
Vor der Bühne, auf der alle Bandmitglieder – außer Lukas – bereits standen und die Instrumente stimmten, blieben wir stehen. Anna entfernte sich plötzlich Richtung Ausgang.
„Wo willst du denn hin?“, rief ich verzweifelt hinterher.
„Aurélie und Freddy suchen. Ich habe versprochen, am Eingang zu stehen, wenn sie kommen!“
Na super. In meinem Hals steckte ein Kloß, der viel dicker war als die, die Oma sonntags immer zum Mittagessen kochte.
Ich rief zum Bassisten herüber: „Habt ihr Lukas gesehen?“ Doch der hörte mich nicht. Kurzerhand stieg ich auf die Bühne.
Der Bassist rief: „Ey, du…“
„Ich habe einen Namen. Ich heiße Sara.“
„Gut, ich heiße Tobias. Also, Sara, eigentlich darfste hier nich‘ drauf stehen.“
Ich ignorierte seinen Einwand. „Kann ich zu Lukas? Ich muss dringend mit ihm sprechen.“
Seine Augen hellten sich auf. „Lukas? Na klar. Der hat in den letzten Tagen nur noch über dich geredet.“
„Echt?“
„Moment, ich hol ihn mal eben.“ Er ging nach hinten… und kam nach ein paar Minuten mit Lukas zurück. Mein Herz schlug so doll, dass es nicht gesund sein konnte.
„Sie wollte mit dir sprechen“, informierte Tobias ihn und dampfte dann wieder ab.
„Also, was willst du von mir?“, fragte Lukas.
Ich schluckte. „Ich wollte dir sagen, dass es mir Leid tut, dass ich dir von Hannes und mir erzählt habe… ich wollte dir damit nicht weh tun. Und dass Hannes mich umarmt hat, geschah gegen meinen Willen. Ich hab ihm gesagt, dass wir Freunde bleiben können, aber er meinte, gute Freunde würden sich umarmen, und dann hat er mich gedrückt. Ich wollte das alles nicht! Ehrlich.“
„Und warum erzählst du mir das alles?“, entgegnete er und hing sich die Gitarre um.
„Weil…“ Die ganze Band starrte mich an. Einige Ballgäste, die unten auf der Tanzfläche standen, ebenfalls. Ich meinte sogar, zu hören, dass die Gespräche leiser wurden.