Der Stress nahm wirklich kein Ende. Ich fragte mich, was ich eigentlich verbrochen hatte, dass die da oben im Himmel – vorausgesetzt, es gab sie wirklich – mich derartig straften. Erst musste ich alle Abiturprüfungen innerhalb von einer Woche ablegen, dann verliebten sich zwei meiner Freunde ineinander und kamen miteinander auf keinen grünen Zweig, und dann zoffte sich meine Familie so häufig, dass es nicht mehr auszuhalten war. Wenn wenigstens das ultimative klärende Gespräch nicht heute stattfinden würde, dachte ich, als ich vor dem Haus mit den weißen Wänden stand, das meinen Eltern gehörte. Ich wusste, es würde unangenehm werden. Lea und ich würden uns anhören müssen, warum wir urplötzlich ausgezogen waren. Auf jeden Fall würde es stark auf meine gebeutelte Stimmung drücken.
Obwohl ich wusste, dass das Gespräch irgendwann einmal sein musste, betrat ich nur widerwillig das Haus.
Meine Familie wartete bereits. Jeder von ihnen sah aus, als wäre er gerade lieber ganz woanders. Ich wusste, dass Lea von ihrem Freund hierher gebracht worden war. Das war vermutlich auch der Grund, warum sie sehnsüchtig aus dem Fenster starrte. Papa bewegte seine Hände unruhig hin und her. Bestimmt vermisste er seine Zeitung, hinter die er sich so gerne rettete. Oma hatte die Arme verschränkt und auch Mama sah nicht gerade glücklich aus.
„Hallo, Sara“, begrüßte mich Papa. „So, äh, dann sind wir ja alle da.“
„Ich möchte, dass jetzt jeder nacheinander sagt, was ihn an der Situation stört, und was er sich wünscht. Damit wir uns endlich besser verstehen“, sagte Mama. „Wer fängt an?“
Betretenes Schweigen.
„Gut, dann fange ich halt an“, seufzte Mama. „Als ich vor einem Jahr wieder angefangen habe zu arbeiten, war es nicht leicht. Aber schließlich haben wir uns doch geeinigt. Wir haben gesagt, dass jeder hier seine Aufgaben hat und wie wir das mit dem Essen regeln und so weiter. Aber irgendwie hält sich keiner mehr daran. Das finde ich nicht gut.“
Sie wandte sich an Oma. „Es kann sein, dass ich mich, seit ich arbeite, mich ab und zu verzettele. Vielleicht muss ich noch lernen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Aber ich erwarte von dir – wie auch von allen anderen –, dass du mir dabei hilfst.“
Als Nächstes wollte Oma sprechen. Ich hatte gedacht, sie würde ihre Redezeit nutzen, um lauter Vorwürfe gegen ihre Schwiegertochter und den Rest der hier Anwesenden zu erheben, aber das tat sie nicht. Sie bemühte sich um einen ruhigen und sachlichen Ton.
„Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du“ – sie sah Mama an – „in deiner Praxis arbeitest und wir müssen uns hier um alles alleine kümmern. Ich gebe ja zu, dass ich vielleicht etwas neidisch bin, weil mir damals einige Möglichkeiten genommen wurden. Aber zum Teil müssen wir ja auch unheimlich viel machen. Ich sitze zum Beispiel jeden Tag mit dem Kleinen in der Küche und mache die Hausaufgaben. Das nimmt eine unglaubliche Menge an Zeit weg. Ich mach das, wenn’s sein muss, aber ich möchte auch, dass hier gewisse Regeln eingehalten werden. Damit ich nicht schon wieder auf meinen Fernsehabend verzichten muss, nur weil sich irgendjemand aus dem Staub macht.“ Jetzt sah sie Lea und mich an.
Ich wollte unbedingt etwas dazu sagen.
„Das haben wir ja nur gemacht, damit ihr endlich aufhört, euch zu streiten. Natürlich haben wir uns da falsch verhalten, aber Lea und ich wussten uns einfach nicht anders zu helfen. Ich wünsche mir jedenfalls nur, dass wir uns wieder besser verstehen, und ich bin auch bereit, mich dafür wieder mehr um den Haushalt zu kümmern. Wenn das bedeutet, dass ich auch mal meine Ruhe habe.“
„Wie siehst du das, Lea?“, fragte Papa.
„Also, ich habe dem, was meine Schwester gesagt hat, nichts mehr hinzuzufügen“, antwortete sie, verschränkte die Arme und lehnte sich im Stuhl zurück.
„Tja. Und was machen wir jetzt?“
Papas Frage hing schwer wie Blei in der Luft. Was sollten wir jetzt machen? Das fragten wir uns alle. Doch niemand von uns hatte eine Antwort.
„Das mit dem Plan“, wagte Mama einen Anfang, „war doch eine gute Idee. Doch der beste Plan bringt nichts, wenn man sich nicht an ihn hält.“
Beiläufiges Nicken.
„Vielleicht haben wir noch nicht gut genug geplant“, warf Lea ein. „Das mit Saras Abitur zum Beispiel. Das haben wir gar nicht berücksichtigt. Oder dass Papa immer sehr lange arbeitet.“
„Stimmt“, antwortete Mama nachdenklich. Einen Augenblick lang waren wir alle sehr nachdenklich. Ich schätze, jeder brütete fieberhaft an der Super-Idee, mit der auf einen Schlag alle unsere Probleme gelöst wären.
Dann hatte ich ein paar gute Ideen.
Eine Stunde später stand der Plan. Mehr oder weniger jedenfalls.
Im Wesentlichen bestand er daraus, dass Oma mehr Zeit für ihre eigenen Aktivitäten hatte, damit sie sich nicht mehr so unzufrieden fühlte. Ab sofort sollte Lea Paul von der Schule abholen und mit ihm Hausaufgaben machen. Das Abendessen sollte Papa zubereiten. Außerdem würden wir, so oft es ging, etwas mit Paul unternehmen.
„So gefällt die Planung mir richtig gut“, sagte Mama zufrieden. „Wenn alles vernünftig eingehalten wird, hat jeder genug Zeit für sich. Und alle sind glücklich. Jetzt kann ich endlich meinen Tai-Chi-Kurs an der Volkshochschule machen.“
„Muss das sein?“, nölte Lea.
„Monika“, entfuhr es Papa und Oma gleichzeitig.
Ich verzog mich, ich musste noch meinen Job kündigen. Für den hatte ich jetzt nämlich keine Zeit mehr – und irgendwie auch keine Lust.
Als Lea und ich festgestellt hatten, dass sich unsere familiäre Lage beruhigt hatte – sprich: wir uns nicht mehr pausenlos zofften –, waren wir bereit, wieder zu Hause zu wohnen. Endlich wieder komfortabel leben und sich nicht mehr um jeden Cent abstrampeln müssen. Ich war glücklich.
Wenn da nur nicht das Problem mit Freddy und Aurélie gewesen wäre. Es mag sich wie ein dummes Klischee anhören, aber ich verbrachte einige schlaflose Nächte damit, darüber nachzudenken, wie wir die verfahrene Situation nur lösen könnten. Es war, als wären wir in einem Stau und kämen nicht vorwärts. Es sah so aus, als wären wir falsch herum in eine Einbahnstraße gefahren und kämen mit dem Konsequenzen, dem Unfall, wenn man so will, nicht zurecht.
Doch irgendwann wusste ich, dass mir all die Straßenverkehr-Vergleiche nichts brachten. Es musste eine Lösung her.
Alleine mit mir konnte ich es nicht mehr ausmachen. Und deswegen verabredete ich mich wieder am Platz des 20. Juli, diesmal war statt Aurélie aber Lea dabei. Ich dachte mir, vielleicht wäre es ganz klug, jemand Außenstehenden einzuweihen. Mal abgesehen davon, war Lea von uns mit Abstand die Erfahrenste in Liebesdingen.
Nachdem wir ihr alles lang und breit erklärt hatten, war aber auch sie erst einmal ratlos. Na toll.
„Das hat Freddy ja toll gemacht“, regte Lea sich auf. „Wieso musste er auch mit dieser Tussi rummachen? Da war das ja klar.“
„Er hat nicht mit ihr rumgemacht, er hat lediglich den ganzen Abend eng mit ihr getanzt und Aurélie dabei ignoriert“, stellte Anna richtig.
„Das ist in dem Fall jawohl egal“, gab ich zu bedenken. „Die Wirkung war jedenfalls die gleiche.
„Jaa, ihr habt ja Recht.“ Seufzend guckte Anna auf ihr Handy und danach in die Ferne. Vermutlich in die Richtung, wo die Pommesbude lag.
Ich schaute nach oben und sah direkt ins Gesicht der Stauffenberg-Statue. Trotz seiner Augenklappe wirkte der Typ so verdammt selbstsicher, als wüsste er genau, was er tat. Wir wussten leider überhaupt nicht, was wir tun sollten, und waren ziemlich verzweifelt. Auch wenn unser Problem garantiert nicht so schlimm war wie das von Stauffenberg. Trotzdem musste es gelöst werden.
„Na toll“, hielt ich fest. „Freddy und Aurélie lieben sich, kriegen es aber einfach nicht hin, auch nur einen Schritt aufeinander zuzugehen. Irgendwas müssen wir doch tun.“
„Ach, auch schon gemerkt?“, maulte Anna. „Mal was anderes, habt ihr das mit dieser Abiballband jetzt eigentlich hinbekommen?“
„Ja. Aber wie kann dich das jetzt interessieren?“
Anna stöhnte.
„Wir müssen uns ablenken“, bestimmte Lea. „Wie wäre es mit einem Singstar-Abend?“
„Na, wenn du meinst. Beim letzten Mal war es doch ganz lustig… Moment mal, ich hab’s!“
Verwundert starrten Lea und ich Anna an. „Wie meinst du das?“
„Na, ich hab den perfekten Einfall, wie wir Freddy und Aurélie zusammenbringen! Passt auf…“
Und wir steckten die Köpfe zusammen, lauschten und staunten.