Verschlafen meldete Anna sich. „Hallo?“
„Na, gut geschlafen?“
„Haha, du Scherzkeks. Das war ’ne Höllennacht, wie hätte ich denn da schlafen sollen?“, grummelte sie.
„Jaja, ist ja gut. Sag mal, was war da eigentlich gestern los? Ich hab gestern ganze sieben SMS von unserer guten Aurélie gekriegt, und dazu dann noch drei von dir.“
Anna gähnte ausgiebig. „Ich erklär es dir. Du hast doch sicher mitgekriegt, dass es bei den beiden nicht mehr ganz so gut läuft?“
„Ja, das weiß ich.“
„Nun ja, Aurélie hat vermutet, dass Freddy sie einfach nicht mehr so anziehend findet wie am Anfang…“
„So ein Blödsinn!“, entfuhr es mir.
„Ja, das sage ich ja auch, aber Aurélie wollte mir ja nicht zuhören. Dann hat sie sich ja die Haare blond gefärbt, aber das hat Freddy überhaupt nicht gefallen. Gestern nun wollte sie ihn überraschen und hat sich in die schärfsten Sachen geworfen, die sie so hatte, und dann ab in sein Bett, Rosenblätter und den ganzen Kram.“
„Was? Wie ist die denn in sein Zimmer gekommen?“
„Keine Ahnung. Freddy kam dann jedenfalls nach Hause und hat sich erst mal tierisch erschrocken, er hat sie angeschrien, die beiden haben sich gezofft und er hat sie mehr oder weniger verlassen.“
„Wow…“ Ich atmete tief durch. „Das ist ja wirklich…“
„…kacke, genau“, beendete Anna meinen Satz. „Deswegen bin ich jetzt auch zu Hause geblieben, weil Aurélie mich die ganze Nacht genervt hat. Was hast du gestern eigentlich noch so mit Lea gemacht?“
Jetzt war alles wieder da. Ärztehaus, Krankenwagen, Krankenhausflur, das Zimmer, meine Schwester auf der Liege, weinend…
„Bist du noch dran?“, rief Anna.
Ich schluckte zwei Mal. Mein Hals brannte wie Hölle und ich bemühte mich um einen möglichst neutralen Ton: „Na ja… Lea ist im Krankenhaus…“
„Was?“ Auf einmal war meine beste Freundin hellwach. „Was ist mit ihr? Komm, sag schon!“
„Das war echt eine merkwürdige Geschichte… Wie soll ich das bloß anfangen?“
„Am Anfang, wenn’s geht.“
„Zum Brüllen komisch, weißt du? Ich hab dir doch erzählt, dass sie wie wild am Fressen und Trinken war und sich ständig saumüde fühlte, richtig?“
„Ja, hast du…“
„Lea hat auf Diabetes getippt und war richtig besorgt deswegen. Also sind Gero und ich mit ihr zusammen zum Arzt gegangen und dann wurde sie auf einmal ohnmächtig rausgetragen…“
„Oh nein, hatte sie etwa einen diabetischen Anfall? Das ist echt ’ne schlimme Sache. Also, meine Tante, die…“
„Nein“, unterbrach ich sie, „sie hat… sie wird… sie ist schwanger! Und sie ist ohnmächtig geworden, weil sie so geschockt war von der Nachricht!“
Einige Sekunden lang war es still. Jetzt hatte es Anna wohl die Sprache verschlagen. Ich hörte sie tief durchatmen. Als sie wieder reden konnte, sagte sie: „Das sollten wir wohl besser nicht am Telefon besprechen, hä?“
„Da hast du wohl Recht…“
„Wie lange hast du noch Uni?“
„Ich arbeite noch bis drei Uhr und dann wollte ich mal ein bisschen lernen, wie wäre es, wenn wir uns heute Abend um acht Uhr treffen?“
„Okay, willst du zu mir kommen oder soll ich zu dir fahren?“
„Komm du ruhig zu mir…“
„Okay, dann bis heute Abend. Ciao!“
„Auf Wiedersehen“, sagte ich und wollte schon auflegen, da fiel Anna noch etwas ein. „Warte mal, Sara!“
„Was gibt’s denn noch?“
„Nimm dich bloß vor Aurélie in Acht. Die ist heute ’ne echte Kratzbürste.“
„Ach was. Kommt sie heute zur Uni?“
„Ja, sie ist jedenfalls grad nicht zu Hause. Gott sei Dank.“
„Na dann, danke für den Tipp und bis heute Abend.“
„Bis heute Abend“, sagte sie und wir legten auf.
Gestärkt für den Rest der Schicht ging ich nach vorne. Jedenfalls fühlte ich mich schon bedeutend besser. Es tat gut, mit jemandem gesprochen zu haben, der nicht sofort nach dem Warum fragte, der einen nicht sofort verrückt damit machte. Und was Aurélie und Freddy anging, wusste ich zumindest schon mal über die Situation Bescheid –
„Einen Latte macchiato mit zwei Stückchen Giotto und eine Cola light bitte“, bestellte eine weibliche Stimme, die mir sofort ins Ohr schnitt, warum auch immer. Ich rief nur mein übliches „Kommt sofort!“ und sortierte erst mal weiter Flaschen in den Kühlschrank ein. Erst als ich mich wieder aufrichtete, nahm ich wirklich wahr, wer mir da seine Bestellung ins Ohr geschnottert hatte und vor allem: wen diese Person im Schlepptau hatte.
Kati und Hannes!
Sie setzten sich an einen Tisch ganz hinten. War das nicht der, den mir Gero gestern beschrieben hatte, mit dem fetten Herz drin? Sie umarmten sich und küssten sich so, als gäbe es kein Morgen. Wollte er mit seiner Zunge ihren Magen erforschen, oder was machte er da? Die beiden sanken auf ihrer Sitzbank zurück und ich fühlte mich, als würde mein Herz aus der Brust auf den Boden rutschen und dort zerplatzen wie eine Wasserbombe.
„Ich komm gleich zurück, Schatz, okay?“, bildete ich mir ein, von Kati zu hören, wie sie es zu Hannes sagte und sie ging Richtung Damentoilette. Natürlich nicht, ohne vorher noch an mir vorbeizustöckeln und zu zwitschern: „Und denk an unsere Bestellung, Sara-Schatz, okay?“ Und weg war sie.
Ich bekam Lust, die Schlange zu erwürgen, sie das Klo runterzuspülen und ihren Arsch so lange mit klebrigem Zeugs vollzustopfen, bis sie platzte, ich wollte sie auf tausend Arten quälen, diese Missgestalt, aber das sah man meinem Gesicht vermutlich nicht gerade an. Es stürzte ein und ich senkte meinen Blick auf den Boden.
Plötzlich ertönte aus der erst kürzlich fürs Studentencafé erworbenen Anlage eine laute Schrammelgitarre und kurz darauf eine männliche Stimme. Das Lied kannte ich doch irgendwoher, was war das nur für ein Lied?
My heart still has a beat
but love is now a feat
As common as a cold day in LA
Sometimes when I’m alone, I wonder
is there a spell that I am under
keeping me from seeing the real thing?
Love hurts…
Die Frage nach dem Lied konnte ich zumindest schon mal beantworten. Das Herzschmerzlied schlechthin. Wollte mich mit Love hurts eigentlich irgendjemand da oben im Himmel ärgern? Hatte ich das verdient? Womit bloß? Mir war grottenschlecht.
Hannes schaute irgendwelchen Damen hinterher. Der Mann, in dessen Armen ich neulich noch gelegen und an dessen Lippen diese unsägliche Kati gehangen hatte, schaute anderen Studentinnen auf die Hintern und die Brüste und ihm lief der Speichel dabei fast aus dem Mund heraus. Und jeder begehrende Blick veursachte mir erneute Stiche in den Magen und ins Herz.
Ich konnte meine Augen nicht von ihm lassen, obwohl mir sein mich völlig ignorierendes Verhalten so weh tat. Als Kati von der Toilette zurückkam, richteten sich seine Augen wie auf Kommando wieder auf sie und er lächelte sie an. Erst vor ein paar Tagen hatte er mich so angelächelt…
Meine Chefin lehnte sich neben mich an die Theke. „So wie die gerade herumgeknutscht hatten, müssten wir die eigentlich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses anzeigen, was?“ Sie lachte. „Machste eben die Latte und die Cola für die beiden fertig?“
Ich reagierte nicht. Ich konnte meine Augen nicht vom superverliebten Pärchen lassen und wünschte mich zehntausend Kilometer weit weg.
„Machst du das jetzt oder was?“, pflaumte meine Chefin mich an. Ich drehte mich um und schaute sie an. Keine Ahnung, wie beschissen ich ausgesehen hatte, jedenfalls zog sie nur die Augenbrauen hoch und sagte schnell: „Okay, ich mach’s eben selbst.“ Bevor ich auch nur blinzeln konnte, schrie auf einmal jemand meinen Namen in voller Lautstärke und ich erschreckte mich unheimlich. Mehrere Gäste drehten sich um.
„Saaaaaraaa!“ Und da erschien die Kratzbürste auch schon und wetterte so laut, dass ich nicht mal fragen konnte, was sie haben wollte. „Ich glaube, ich explodiere gleich! Da denke ich mir so eine tolle Überraschung aus und der Blödmann von Freddy, was tut der? Er schmeißt mich raus! Einfach raus. Der tickt doch nicht mehr richtig. Ich versuche wenigstens noch, irgendwas an unserer Beziehung zu ändern, aber der Trottel trifft sich nur mit seinen Kumpels und säuft sich voll. Ja, da brauchst du gar nicht so zu gucken, Sara, du hast es ja nicht mal für nötig gehalten, an dein Handy zu gehen. Obwohl ich echte Probleme hatte! Was guckst du denn so betroffen?“
Da piepste meine Armbanduhr drei Mal. Es hörte sich an wie das Piepsen, das in Filmen immer ertönte, kurz bevor eine Bombe platzte. Ich glaubte auch, selbst gleich zu explodieren.
„Was bildest du dir eigentlich ein?“, fuhr ich Aurélie an. „Du denkst, du hast Probleme und fragst nicht mal eine Sekunde lang, wie es mir geht? Lass mich doch in Ruhe mit deinem Geschwätz! Gott sei Dank muss ich dich jetzt nicht mehr bedienen, denn ich hab Schichtende!“ Wütend riss ich mir die Schürze vom Leib und nahm meine Jacke sowie die Handtasche an mich. „Ruf mich an, wenn du mich wieder eingeteilt hast. Bis dann!“, rief ich meiner Chefin zu und rannte aus dem Studentencafé. Einfach irgendwohin. Ich bildete mir ein, irgendjemanden hinter mir herrufen zu hören. Aber es war mir egal. Ob es jetzt Aurélie war, die Chefin, Kati, Hannes, der Weihnachtsmann oder alle zusammen, es war mir so egal.