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500 Ideen

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Vor ein paar Jahren habe ich ein wunderbares Buch gekauft. Es trägt den Titel „500 junge Ideen, täglich die Welt zu verbessern“, wurde von Shary Reeves, Jan Hofer (ja, der Tagesschau-Moderator) und Dieter Kronzucker (ja, der Journalist) herausgegeben, und zu einigen dieser Ideen will ich jetzt ein bisschen was aufschreiben.

Idee 11 – Zu cool für Müll

Bevor ich diese Idee gelesen hatte, hatte ich Eis immer nur im Becher bestellt, weil ich die Waffel nicht mochte. Aber jetzt bestelle ich mein Kugeleis nur noch mit Waffel – und sie schmeckt mir komischerweise sogar seitdem!

Idee 21 – Beim China-Imbiss Bäume retten

Ich hatte eigentlich nie viel asiatisch gegessen, bis ich freie Mitarbeiterin bei einem Radiosender wurde – und die bestellten sich dauernd was zum Mitnehmen beim Chinesen um die Ecke. Weil mir das Plastikbesteck da auf die Nerven ging, habe ich mir irgendwann wunderschöne Essstäbchen gekauft.

Idee 50 – Lehrer loben (beigesteuert von Prof. Dr. rer. nat. habil. Astrid Beckmann)

Der Frau, die in der ersten und zweiten Klasse meine Klassenlehrerin war, habe ich einen Brief geschickt, in der ich ihr erklärt habe, was für eine tolle Lehrerin sie mir war. Geantwortet hat sie bis jetzt noch nicht, aber vielleicht kommt das noch. Ansonsten war ich vor zweieinhalb Monaten auf dem Schulfest meines alten Gymnasiums. Was ich gegenüber meiner Lehrerin aus der Neunten und Zehnten nach zwei Cola-Rum herausgekriegt habe, war: „Sie sind cool!“ Was ich eigentlich damit sagen wollte, war „danke, dass Sie sich für mich eingesetzt haben“. Und das hat sie. Sie hat einem Mädchen, das keine Freunde in der Klasse hatte, gesagt, dass es toll ist, weil es so intelligent ist. Und sie hat sich dafür eingesetzt, dass dieses Mädchen nicht sitzenbleibt, weil es sich so hängen ließ.

Idee 63 – Nicht für die Schule, sondern für das Leben (beigesteuert von Lisa Bund)

Wenn ich irgendwo Müll auf dem Boden sehe, nehme ich ihn nicht jedes Mal mit – grundsätzlich sollte jeder seinen Müll selbst entsorgen. Eine Ausnahme mache ich aber: wenn der Müll so liegt, dass jemand darauf ausrutschen könnte. Ich bin auf der Kölner Domplatte mal auf einem Flyer ausgerutscht und habe mir den Fuß verknackst. Das sollte keinem anderen passieren.

Idee 67 – Behinderte Kinder in normale Schulen integrieren (beigesteuert von Andrea Nahles)

Mein ganzer Beruf dreht sich darum. Eine wichtige und sinnvolle Arbeit. Man sollte behinderten Menschen alle Chancen zukommen lassen. Umso wütender macht es mich, wenn man immer wieder versucht, meiner Profession die Relevanz abzusprechen.

Idee 107 – Schönen guten Tag noch (beigesteuert von Katharina Gast)

Meine Mutter hat fast zwanzig Jahre lang als Verkäuferin gearbeitet, ich habe Verkäuferinnen im Freundeskreis. Sie freu(t)en sich sehr, wenn die Kunden nicht bloß muffig, sondern auch etwas freundlich waren. Verbessert(e) ihren Tag.

Idee 117 – Offenheit statt Angst (beigesteuert von Hülya Özkan)

Mein Leben ist definitiv besser geworden, seit ich weiß, wie gastfreundlich Syrer sind. Oder wie gut Iraner kochen können. Oder wie sie über ihre Heimat denken. Oder wie man auf Persisch fragt, wie es einem geht (und antwortet).

Idee 125 – Lachen hilft (beigesteuert von Kester Schlenz)

Natürlich gibt es Dinge, gegen die können Witze nichts ausrichten, aber ich glaube, ein guter Freund von mir hat sich schon gefreut, als ich mich am Telefon mit einer total dummen Ansage meldete und das Ganze ein paar Minuten lang aufrechterhielt. Den Arbeitsstress schien er hinterher nicht mehr ganz so schlimm zu finden. Und ich denke, an jenem einen Tag DDR-Witze nachzuschlagen, war auch besser für mich, als mir weiter Sorgen über diverse Dinge zu machen.

Idee 127 – Sei wirkungsstark wie ein kleiner Vulkan (beigesteuert von Gerlis Zillgens)

Als ich im Unichor sang, starrte ich monatelang immer wieder auf den Nacken eines hübschen Mädels, die dort ein Tattoo trug. Motiv: ein Herz mit integriertem Gleichheitszeichen und dem Wort „equality“. Irgendwann nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte ihr nach der Probe, wie cool ich ihr Tattoo fände. Das Strahlen, als sie danke sagte, wars definitiv wert.

Idee 129 – Rechtzeitig umdenken

Gesine Schwan rät: „Versuche, in jedem Gegner den möglichen Partner zu entdecken.“ Als ich das las, musste ich an eine Geschichte von vor ein paar Jahren denken. Ich führte im mittlerweile leider geschlossenen sozialen Netzwerk Neon.de eine erbitterte Diskussion mit jemandem, der eine gleichgeschlechtliche Ehe nicht Ehe nennen wollte. Dieser Mann ist heute einer meiner besten Freunde.

Idee 163 – Kavalier sein (beigesteuert von Marc Dumitru)

Irgendein Abend während meiner Schwangerschaft, ich hatte was mit einem Freund unternommen und wollte danach mit Öffentlichen weiter zu meinen Schwiegereltern fahren. Er brachte mich zum Bahnhof, leider kamen wir etwas zu spät dort an. Aber anstatt mich dort allein eine knappe Stunde warten zu lassen, wartete er mit mir, bis der nächste Zug da war. Und als ich am Zielbahnhof ankam, holte mein Schwiegervater mich dort ab. Mit dem Auto. Damit ich die knapp fünfhundert Meter nicht selbst laufen musste.

Idee 240 – Schnelle Frische

Das ist eine Idee, gegen die ich mal etwas sagen muss, als jemand, der jahrelang gemobbt wurde. Wenn mir jemand ein Minzbonbon anbietet, ist mein erster Gedanke nicht „oh, cool, nehm ich mal“, sondern „der will mir sagen, dass ich stinke“. Und dann habe ich Flashbacks. Ob jetzt ungerechtfertigt oder nicht.

Idee 241 – Echt bei sich selbst ankommen

Auch diese Idee überzeugt mich nicht hundertprozentig. Birgitta Weizenegger plädiert dafür, sich nicht in der virtuellen Welt zu verstecken. Sie selbst habe das lange gemacht, aber es habe sie nicht weitergebracht, im Gegenteil.

Dazu muss ich sagen: Wer im echten Leben jahrelang nur Ablehnung und Gegenwind erfahren hat, ist über das Internet sehr froh. Man kann dort relativ gefahrenlos Menschen kennen lernen, und das wiederum hat mir in der echten Welt sehr weitergeholfen.

Idee 487 – Lesen bringt Frieden

Eva Jung plädiert in Anlehnung auf ein Zitat von Mahatma Gandhi dafür, die Bibel zu lesen, denn dies habe Potenzial, die Welt wirklich zu verbessern. Ich bin zwar Christin, aber ich denke auch, dass „meine“ heilige Schrift nicht automatisch dazu taugt, die Welt zu verbessern. Es kommt auf den Menschen an, der sie liest, und der nutzt sie vielleicht eher als Anlass für Kreuzzüge oder Homophobie.

Habt ihr Fragen oder Anmerkungen? Ab damit in die Kommentare.

Mit freundlichen Grüßen

Die Kitschautorin

Geschützt: Kurz kommentiert (mehr oder weniger), Teil 38

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Bedeutungsschwanger, Teil 3

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Ich war wieder einigermaßen versöhnt und wir konnten normal weiteressen. Nach dem Dinner fuhren wir in die WG, um dort noch etwas Zeit zu verbringen. Zusammen schauten wir ein paar Folgen meiner Lieblingsserie auf DVD und machten es uns in meinem Bett gemütlich. Zumindest so lange, bis das Telefon klingelte.
„Gehst du mal, ich kann grad nicht!“, brüllte Anna von irgendwoher. Ich entsprach also ihrem Wunsch und stand murrend vom Bett auf. Dann drückte ich den grünen Hörer.
„Lehmann?“
„Oh, äh, hi, Sara, Kati hier“, meldete sich eine meiner anderen Freundinnen zu Wort. „Sag mal, ist Anna grade da?“
„Die kann grad nicht ans Telefon, soll ich ihr irgendwas ausrichten?“, fragte ich sie.
„Oh, äh, nein, äh, weißt du, sag ihr einfach, dass ich angerufen hab, okay? Bye!“ Und ehe ich sie fragen konnte, wie es ihr ging und was sie heute so unternommen hatte, hatte Kati aufgelegt.
„Was sollte das denn?“, wendete ich mich verdutzt an Anna, die mittlerweile mit einem Handtuchturban um den Kopf im Türrahmen des Badezimmers stand. „Bevor ich irgendwie ein Gespräch beginnen konnte, hat sie einfach aufgelegt.“
„Wer war das denn?“
„Kati. Und ich soll dir sagen, dass sie angerufen hat.“ Ich verzog das Gesicht. „Erledigt.“
„Was, sie hat angerufen? Das ist ja unglaublich!“, quietschte Anna und hüpfte dabei so doll auf und ab, dass ihr Turban einzufallen drohte, und sie stürzte auf mich zu und umarmte mich. In diesem Moment ging die Wohnungstür auf und Aurélie kam rein. Noch während sie versuchte, ihre Tasche abzusetzen, wurde auch sie von Anna angefallen, die daraufhin juchzend in ihr Zimmer lief.
„Was ist denn mit der los?“, wunderte sich Aurélie.
„Keine Ahnung“, antwortete ich und ging zurück in mein Zimmer.

Lukas und ich blieben nicht besonders lange auf, da ich am nächsten Morgen zum Arbeiten im Studentencafé eingeteilt war. Es gibt Tage, da muss ich mich richtiggehend zur Arbeit hinschleppen. Die Sonne versteckt sich hinter Regenwolken, die ihren gesamten Inhalt auf die Erde regnen, ich fühle mich müde und krank, kann aber auch nicht einfach zu Hause bleiben. So ein Tag war das nicht. Im Gegenteil, die Sonne schien kräftig, es war Juni. Draußen liefen alle im T-Shirt rum, die Mädels trugen Röcke und Sommerkleider und es war keine einzige Wolke am Himmel zu sehen. Nur allerschönstes Blau. Das Arbeiten an sich war auch sehr angenehm, da aufgrund der Semesterferien nicht so viele Gäste kamen. Alle waren gut drauf, ich fertigte Kaffee, Latte macchiatos und Säfte an und unterhielt mich nebenbei mit den Bestellern dieser Getränke.
Irgendwann betrat auch Kati den Laden. Ich hörte sie zunächst nur, da ich mich gerade zum Schrank herunterbeugte, um eine Saftflasche herauszuholen. Als ich schließlich wieder normal stand, konnte ich sehen, dass sie sich heute wieder besonders herausgeputzt hatte. Gut, das war für Kati jetzt nicht weiter ungewöhnlich.
„Na, was möchtest du bestellen?“
„Gleich, ich muss dir unbedingt was erzählen! Ich hab heute Abend ein Date! Oh, ich hoffe so, dass es klappt.“
„Echt? Wer ist denn der Glückliche?“
„Die Glückliche!“, verbesserte mich Kati. „Wird nicht verraten!“ Sie zwinkerte mir zu.
„Wendeste dich jetzt also wieder den Frauen zu? Aber wieso willst du mir nicht erzählen, wen du triffst?“, wollte ich wissen.
„Naja, nach meiner letzten Enttäuschung will ich sichergehen, dass es diesmal auch wirklich klappt“, gab Kati zu. „Ich hätte übrigens gerne ein Mineralwasser.“
„Kriegst du.“ Ich holte ein Glas aus dem Regal. „Und, wie geht’s dir so?“, erkundigte sich Kati.
„Och, ganz gut. Ich war gestern mit Lukas essen. Da hat er mir erzählt, dass seine Band eine neue BASSISTIN hat.“
„Wieso betonst du das Wort so?“
„Es ist seine Exfreundin.“
„Ist das so schlimm?“
„Ach, ich hab keine Ahnung, ich werd einfach mal bei ‘ner Probe zugucken.“ Ich stellte Kati ihr Mineralwasser hin.
„Danke. Wie geht’s eigentlich deinen Freunden?“
„Ganz okay. Ich glaube allerdings, Anna dreht zur Zeit durch.“
„Wieso das denn?“ Kati zeigte sich auf einmal höchst alarmiert. Auf ihrem Hocker saß sie kerzengerade.
„Naja“, sagte ich, „sie hat ihren ganzen Style verändert. Sie hübscht sich auf, trägt sogar neuerdings Kontaktlinsen. Erzählt mir, dass sie Dates hat und als du gestern angerufen hast, ist sie total ausgeflippt vor Freude.“
Jetzt war es an ihr, vor Freude loszuquietschen. „Wirklich?“
„Moment mal…“ In diesem Augenblick setzte vor meinem inneren Auge eine Diashow mit Bildern der letzten Stunden ein. Anna im rosafarbenen, ärmellosen Kleid. Anna, wie sie mit dem Telefon im Zimmer verschwand. Anna, wie sie durch ihr freudiges Herumhüpfen fast ihren Handtuchturban zum Einsturz gebracht hätte. Kati am Telefon. Und eine andere Szene.
‚Ich freu mich schon so auf sie! Äh, ich meine, auf die Person.‘
Mir blieb der Mund offen stehen. „Moment mal, willst du mir etwa sagen, dass du und Anna…?“
„Na toll, jetzt hast du’s doch rausgekriegt“, murmelte Kati. Ihr Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.
„Wieso? Das ist doch toll! Ich freue mich für euch. Ich drück euch die Daumen, dass alles klappt. Sie scheint ja auch Gefühle für dich zu haben.“ Ich zwinkerte Kati zu.
„Oh, meinst du wirklich? Boah, ich hoffe so, dass das klappt. Noch so einen Komplett-Reinfall wie Hannes will ich nicht noch mal erleben. So, ich glaube, ich muss jetzt los.“ Sie bezahlte ihr Mineralwasser. „Ich treffe sie nämlich gleich noch mal – und ich wollte vorher noch zum Frisör! Bis dann, drück mir die Daumen!“
„Na klar.“
Nachdem sie mir noch einen Schmatzer auf die Wange gedrückt hatte, war sie weg.

Auf dem Weg nach Hause dachte ich über die beiden nach. Würde es mit ihnen wohl funktionieren? Ich hatte sie als ziemlich unterschiedliche Menschen kennen gelernt, aber vielleicht zog sie ja gerade das so an. Anna hatte ja noch nie eine Beziehung gehabt, aus welchem Grund auch immer. Sie hatte schon zweiundzwanzig Jahre nach dem Mann fürs Leben gesucht – aber erst mit einer Frau schien es etwas zu werden. Kati hatte ja, wie uns allen bekannt war, schon mehrere Liebesbeziehungen gehabt, und die waren nicht alle gut verlaufen. Nach dem Idioten von Hannes gönnte ich ihr eine neue Beziehung von Herzen.
Zu Hause wurde ich von Lukas empfangen, der den Tag mit ein bisschen Gitarrespielen und Fernsehen verbracht hatte. Jetzt kochte er mir zum Mittag mein Lieblingsessen – Spaghetti Napoli. Ich küsste ihn auf den Mund. „Hey, du schmeckst nach Nudelsoße.“
„Ja, das Essen ist auch schon fast fertig. Und, wie geht’s dir so? Wie hast du den Tag erlebt?“
„Oh Mann, die Welt ändert sich so schnell“, antwortete ich, noch halb in Gedanken woanders.
„Wieso, was ist denn los?“
Ich schloss die Tür. „Ich weiß jetzt, warum Anna sich in letzter Zeit so merkwürdig verhält. Sie ist verknallt. Und zwar in Kati!“
„Ja, und?“ Lukas zeigte sich nicht besonders überrascht. „Das hab ich mir schon gedacht.“
„Ja, aber Kati will auch was von ihr!“
„Das ist ja toll. Hoffen wir mal für die beiden, dass das klappt. Übrigens, der Termin für die erste Bandprobe steht fest. Wir treffen uns übermorgen im Probenraum. Willst du mitkommen?“
Schlagartig schraubte mein Herz seine Frequenz nach oben. „Oh, äh, auf jeden Fall? Sind denn… alle dabei?“
„Ja, klar. Ich bin wirklich gespannt, wie die erste Probe mit Kiki läuft.“ Er lächelte mich an.
„Ich auch“, murmelte ich.
„Was?“
„Ach, nichts. – Wann sind die Nudeln fertig?“
„Hier, ich glaube, sie sind schon fertig…“ Er hielt mir eine Nudel zum Probieren hin. Als ich mein OK gegeben hatte, goss er sie ab und in einen Teller, samt der dazugehörigen Soße. Ziemlich hungrig begann ich sofort zu essen.

Bedeutungsschwanger, Teil 1

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Vor einigen Jahren begann ich eine Reihe über eine junge Frau namens Sara und stellte die entstandenen Teile auf neon.de hoch. Da ich den Account vor einiger Zeit gelöscht habe, wird die Geschichte nach und nach hier zu lesen sein. “Bedeutungsschwanger” ist der vierte Teil der Reihe. Viel Spaß beim Lesen.

Allons, enfants de la patrie,
le jour de la gloire est arrivé!
Contre nous de la tyrannie,
l’étendard sanglant est levé!
Wie oft wacht man morgens auf und hat das Bedürfnis, jemandem ein Kissen oder sonst irgendetwas an den Kopf zu schmeißen? Ich hatte es in den drei Tagen, die ich hier wohnte… nun ja, schon drei Mal gehabt. Und das, obwohl es Hochsommer war und wir alle keine Vorlesungen hatten. Aber Aurélie musste ja unbedingt ein Praktikum ableisten. Und deswegen wurde ich jetzt jeden Morgen mit der französischen Nationalhymne geweckt.
Meine Uroma wurde, soweit ich wusste, in Königsberg geboren. Trotzdem brüllte ich nicht jeden Morgen meinen guten Freundinnen um die Ohren, dass Russland unser geheiligtes und geliebtes Land sei.
Nachdem ich es im Studentenwohnheim nicht mehr ausgehalten hatte, dachte ich, es wäre eine gute Idee, zu Anna und Aurélie zu ziehen. Tja, falsch gedacht, konnte man da nur sagen. Wie viele Strophen hatte die Marseillaise eigentlich? Das war ja nicht auszuhalten!
„Mann, ey!“, rief ich laut und genervt und quälte mich in meiner Nachtkleidung aus dem Bett. Die bestand aus einem mir viel zu großen Männer-T-Shirt und einem weißen, eng sitzenden Slip. Nein, das T-Shirt gehörte nicht mir, sondern meinem Freund Lukas. Heute Abend wollten wir zusammen ausgehen – aber so, wie es grad aussah, würde das wohl nichts werden. Vor lauter Müdigkeit würde ich ihm wohl auf dem Hinweg vom Roller sacken. Musste Aurélie mich wirklich in aller Herrgottsfrühe wecken? Ich riss die Zimmertür auf und wankte in die Küche.
Dort wurde ich von einer arbeitenden Kaffeemaschine und meiner anderen guten Freundin begrüßt. Anna schien mindestens genauso verschlafen zu sein wie ich. Deswegen auch der Kaffee. „Morgen“, gähnte sie und streckte ihre Arme so weit aus, dass sie ihre Faust fast gegen das Fenster gehauen hätte.
„Boah, das ist ja echt nicht auszuhalten“, stöhnte ich und holte Milch und Kakaopulver aus dem Kühlschrank. „Hat sie das immer schon gemacht?“
„Eigentlich schon“, antwortete Anna. „Die ist so stolz auf ihre Wurzeln… wenn sie wenigstens singen könnte.“
In dem Moment drang ein besonders schiefer Ton in unsere Ohren. Ungefähr eine halbe Minute später stand Aurélie im Bademantel und mit Handtuchturban im Türrahmen. „Guten Morgen! Habt ihr auch so toll geschlafen wie ich?“
Mit den Blicken, die wir ihr darauf zuwarfen, hätte man sie töten können.

Am Nachmittag fuhr ich in mein angestammtes Zuhause, was wahrscheinlich neunzig Prozent aller Studenten, die nicht mehr bei ihren Eltern wohnten, regelmäßig taten. Es gab Leute aus meinem alten Abijahrgang, die dafür ein paar hundert Kilometer Fahrt auf sich nehmen mussten. Aus Berlin, München, Braunschweig mussten sie anreisen. Ich hingegen nahm nur eine knappe Stunde Fahrt auf mich.
Zu Hause war zur Zeit richtig viel los. Meine Schwester Lea war inzwischen hochschwanger und würde Anfang nächsten Monats wahrscheinlich entbinden. Es musste wahnwitzig viel Babyzeug eingekauft und Leas altes Zimmer umgestaltet werden. Gero sollte in Zukunft auch bei uns im Haus wohnen – und bald würde auch noch ein ganz neuer Erdenbürger dazukommen.
Klar, dass da so einiges abging. Beim Essen wurde es jedenfalls, das kann ich ganz sicher sagen, nicht langweilig.
Als ich ankam, war es schon fast fertig. Wie ich schon an der Tür riechen konnte, hatte Oma diesmal gekocht. Deswegen öffnete auch nicht sie mir die Tür, sondern Lea mit ihrem dicken Bauch. „Hallo, Schwesterchen!“, begrüßte sie mich und versuchte, mich zu umarmen, was nur bedingt klappte. „Es gibt gleich Essen.“
In der Küche saßen bereits Gero und meine Eltern. Ich ließ mich auf einem der drei übrigen Stühle nieder. „Wo ist denn Paul?“, fragte ich.
„Gute Frage“, entgegnete Mama. „Er wollte eigentlich zum Mittagessen von seinem Freund zurück sein.“ Sie sah auf die Uhr. „Also, so langsam…“
Oma hatte das Essen fertig gekocht und stellte die Töpfe nach und nach auf den Tisch. „Das passiert ihm in letzter Zeit immer häufiger. Ständig kommt er zu spät!“
„Na, wie geht denn der Umbau voran?“, erkundigte ich mich bei Lea und Gero und nahm einen Löffel von meiner Suppe.
„Ach, hör mir doch auf!“, brummte Lea, verdrehte die Augen und füllte sich nun ihrerseits den Mund mit Essen. „Wir wären bestimmt schon fertig, wenn es nicht gewisse Leute gäbe, die Entscheidungen immer wieder verzögern würden.“ Sie funkelte Gero böse an. „Was denn?“, rief der Angesprochene. „Ich finde es nun einmal total überholt, solche blöden Klischeefarben für Kinderzimmer zu benutzen. Du kannst doch nicht ernsthaft verlangen, dass das Babyzimmer rosa gestrichen wird!“
„Wieso nicht?“, entgegnete Lea. „Ich finde das total schön. Und unser Kind sicher auch.“
„Das wird eher gegen die Tapete reihern“, brummte er und zog die Augenbrauen hoch.
„Gero!“, entfuhr es mehreren Leuten am Tisch. „Jetzt regt euch doch nicht so auf! Was ist denn so falsch an Rosa? Zur Not könnt ihr die Wände ja abwechselnd streichen.“ Wie üblich versuchte meine Mutter, die Gemüter zu beruhigen. Dies schaffte sie zunächst auch, aber der Erfolg war nur von kurzer Dauer, da meine Großmutter irgendwann das Wort ergriff.
Sie war jemand mit sehr traditionellen Wertvorstellungen. In einer Zeit groß geworden, als Männer ihren Frauen noch verbieten konnten, zu arbeiten, und über ihr Vermögen verfügen durften. In einem Dorf aufgewachsen, in dem man selbstverständlich katholisch zu sein und vor jeglichen auf Kinder hinauslaufenden Aktivitäten erst zu heiraten hatte. Dass Lea so urplötzlich schwanger geworden war, war eine Katastrophe für sie – und das erklärte auch, was sie jetzt sagte:
„Habt ihr eigentlich schon über einen Termin für die Hochzeit nachgedacht?“ Ihre Stimme klang ganz normal.
Lea und Gero hoben allerdings ihre Köpfe und sahen sich an. Man sah förmlich in ihren Gesichtern, dass das Wort „Hochzeit“ noch nie Eingang in ihre Gedanken gefunden hatte. Dementsprechend echoten sie: „Für die Hochzeit?“
„Ja, natürlich! Jetzt, wo ihr ein Kind erwartet, müsst ihr doch heiraten!“
„Was hat denn das bitte damit zu tun?“, fragte Lea. „Heiraten ist doch heutzutage total überholt. Ein Relikt aus einer total anderen Zeit!“
„Es ist überhaupt nicht überholt! Es ist richtig und notwendig, dass ihr heiratet. Eure Beziehung soll doch Hand und Fuß haben! Und überhaupt, was sollen denn die Leute denken?“
Ein Satz, bei dem Lea – wie auch ich übrigens – traditionell ausflippten. Meine Schwester echauffierte sich: „Wenn Gero mich verlassen will, ist es egal, ob wir verheiratet sind oder nicht. Und es ist mir scheißegal, was die Leute denken!“
„Lea!“, entfuhr es meiner Mutter ob des Schimpfwortes.
„Ich halte doch nicht an irgendwelchen vertrockneten Wertvorstellungen von irgendwem fest“, fuhr Lea fort. „Und wenn wir uns wirklich lieben, brauchen wir nicht unbedingt verheiratet zu sein!“
„Ihr tut ja so, als hättet ihr die Weisheit mit Löffeln gefressen! Absicherung ist euch wohl gar nichts wert?“, rief meine Oma. Woraufhin Lea stöhnte und Gero noch weiter auf seinem Stuhl in sich zusammensank. Der Arme. Er sagte auch nichts, obwohl er zweifellos dieselbe Meinung wie Lea hatte.
„Ich muss dir wirklich sagen, dass –“, setzte meine Schwester zu einer erneuten Verteidigungsrede an, wurde aber genau in diesem Moment von der Türklingel unterbrochen. „Oh, wer könnte das denn sein?“, fragte sich meine Mutter. „Ich mach mal auf.“
Ich hörte, wie die Tür aufging und Mama ein „Hey, Mama, sorry, dass ich zu spät bin“ entgegenkam. Es wurden Schuhe abgestreift und dann stand er in der Tür, mein Bruder.
Er sah aus wie die nervigen Halbwüchsigen, die morgens immer lautstark Handymusik durch die Straßenbahn jagten. Auf dem Kopf trug er ein dunkelblaues Cap, am Körper eine viel zu große Sweatjacke und eine Hose, die so weit war, dass sie eigentlich auf dem Boden hätte hängen müssen. „Hi, Leute!“ Jetzt klingelte auch noch sein Handy. Und natürlich war es einer von den Tönen, die ich in der Bahn immer vermeiden wollte. „Hey, Alter… ne, ich kann grad nicht… ja, ruf mal gleich zurück… ja, ciao, Mann.“ Er legte auf und steckte das Handy zurück in seine Tasche.
„Wo kommst du denn so spät her? Wir hatten ausgemacht, dass du pünktlich zum Essen kommst“, regte sich Mama auf. „Und wer hat dir überhaupt erlaubt, Klingeltöne auf dein Handy herunterzuladen?“
„Mann, stress nich‘!“, meckerte Paul und wollte sich an den Tisch setzen, doch bevor er das tun konnte, wurde er von Oma aufgehalten.
„Junger Mann“, sagte sie, „sprich nicht so mit deiner Mutter! Auch du hast gewisse Regeln einzuhalten.“
„Oh Mann, auf das Gemecker hab ich keinen Bock“, brummte mein kleiner Bruder, schnappte sich den bereits vorbereiteten Teller mit Suppe und verzog sich.
Meine Mutter guckte ratlos alle im Raum Anwesenden an, zuletzt mich. „Herzlichen Glückwunsch, Mutter, dein Sohn ist in der Pubertät“, bemerkte ich, klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und ging ebenfalls.

Jahresrückblick 2013

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1.       Ganz grob auf einer Skala von 1 bis 10: Wie war dein Jahr?

8. Es ist kein großer Mist passiert wie die letzten beiden Jahre, aber einige sehr schöne Sachen.

2.       Zugenommen oder abgenommen?

Es wird wohl ungefähr gleich geblieben sein. Zumindest sehe ich nicht wesentlich fetter aus.

3.       Haare länger oder kürzer?

Mehr oder weniger gleich… irgendwie finde ich einfach, dass mir kurz vor schulterlang am besten steht.

4.       Kurzsichtiger oder weitsichtiger?

Weder noch, allerdings ist laut Optikertest eine Hornhautverkrümmung dazugekommen. Ich war deswegen aber noch nicht beim Augenarzt. Müsste ja auch erst mal wieder einen guten finden.

5.       Mehr Kohle oder weniger?

Ein bisschen weniger, weil mir vom Bafög-Höchstsatz jetzt knapp 150 Euro abgezogen werden, aber das ist okay.

6.       Besseren Job oder schlechteren?

Schlechter.

7.       Mehr ausgegeben oder weniger?

Genau kann ich das nicht sagen. Ich habe aber versucht, mich etwas zurückzuhalten.

8.       Dieses Jahr etwas gewonnen und wenn, was?

Mrs Elch hat Mutterpasshüllen verlost, ich habe mitgemacht, eine gewonnen und sie an eine zu dem Zeitpunkt schwangere Freundin weitergegeben.

9.       Mehr bewegt oder weniger?

Mehr, ich gehe jetzt einmal in der Woche schwimmen.

10.   Anzahl der Erkrankungen dieses Jahr?

Ein paar Erkältungen und dieses merkwürdige Brustdrücken. Also, vielleicht drei. Smiley mit geöffnetem Mund

11.   Davon war für dich die Schlimmste?

Natürlich das Brustdrücken. Ich dachte teilweise, ich müsste sterben.

12.   Der hirnrissigste Plan?

Das Praktikum in der zweitgrößten Stadt Deutschlands.

13.   Die gefährlichste Unternehmung?

Den ganzen Tag bei stechender Sonne draußen herumzulaufen. Das hat mich ins Krankenhaus gebracht.

14.   Die teuerste Anschaffung?

Vermutlich irgendwelche Zugtickets.

15.   Das leckerste Essen?

Mein Freund und ich haben vor einigen Wochen zusammen eine göttliche Lasagne gemacht.

16.   Das beeindruckendste Buch?

Philippe Pozzo di Borgo – “Ziemlich beste Freunde. Das zweite Leben des Philippe Pozzo di Borgo”.

17.   Der ergreifendste Film?

“Der Butler”. Ich hätte nicht so leben können wie er. Ich wäre regelmäßig explodiert.

18.   Die beste CD?

Ich habe mir in diesem Jahr keine CD gekauft.

19.   Das schönste Konzert?

Ich war nur auf einem Konzert, aber das war ganz cool – Emil Bulls.

20.   Die meiste Zeit verbracht mit?

Mit meinem Freund.

21.   Die schönste Zeit verbracht mit?

Mit meinem Freund.

22.   Zum ersten Mal getan?

Eine Hochzeitsmesse besucht. In einem evangelischen Gottesdienst gewesen (und zwar an Weihnachten sowie im Ausland, außerdem wurde er von einer Frau geleitet). Einen White Russian getrunken. An einer Internet-Fernsehsendung teilgenommen. Durch eine Uniklausur gefallen. Ein indisches Restaurant besucht. Eine Zeitschrift abbestellt. Mit einer Frau zusammengewohnt, mit der ich nicht verwandt war. Diverse Rezepte ausprobiert, z.B. grünes Pesto und Nougatringe. Meinen Laptop in die Reparatur gegeben. Einen Graphic Novel gekauft. Bei “Gay in May” gewesen. Gegenstand eines Interviews gewesen. Zwecks Recherche die Juristenbibliothek besucht. Die Hamburger Unimensa ausprobiert. Ein Museum in der zweitgrößten Stadt Deutschlands besucht. Ein Telefoninterview geführt, bei dem ich nicht mitschreiben konnte und das dazu noch sehr merkwürdig verlief. In Hessen gewesen. Ein Buch auf Reisen geschickt. Eine Obdachlosenzeitung gekauft. Erdnuss- und Mohn-Mandel-Eis gegessen. Fleisch mit Gesicht zu mir genommen. Eine Petition gestartet. In einem bosnischen Restaurant gewesen. Die Nudelbar meiner Mensa ausprobiert. Sarrazin gelesen. Heißen Met probiert. Die Bundeskanzlerin live gesehen.

(Heilige Scheiße, ist das viel…)

23.   Nach langer Zeit wieder getan?

Mir einen angetrunken.

24.   Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?

Heimweh. Diverse Seminarssitzungen. Frage 11.

25.   Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?

Meine Petition zu unterschreiben.

26.   Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?

Eine DVD von “Susi und Strolch”.

27.   Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?

Das zweite Fotobuch von Farin Urlaub.

28.   Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?

„Ich liebe dich und möchte für immer mit dir zusammen sein.“

29.   Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?

So ziemlich dasselbe wie bei Frage 28.

30.   Dein Wort des Jahres?

Christentum.

31.   Dein Unwort des Jahres?

Linksgrün.

32.   Dein(e) Lieblingsblogs des Jahres?

“Topf voll Gold” und Publikative.org.

33.   Verlinke deine Rückblicke der vorigen Jahre.

https://kitschautorin.wordpress.com/2012/01/01/jahresruckblick-2011/

https://kitschautorin.wordpress.com/2012/12/23/soundtrack-of-2012/

https://kitschautorin.wordpress.com/2013/01/01/2013-omfg/

Mit freundlichen Grüßen und Wünschen für das Jahr 2014

Die Kitschautorin

Krümelmonster, Teil 3

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Nachdem Aurélie gegangen war, wollte ich nur noch Ruhe und Frieden. Ich hatte bereits so einen stressigen Tag gehabt, und jetzt kamen auch noch ihre Probleme dazu. Es war wie in diesem Beatsteaks-Song, den Lea so gerne mochte: I got a whole bag of trouble to be taken away.

Am besten entspannen konnte ich immer, wenn ich meine Lieblingsmusik hörte. Ich drehte Muse auf, stellte den Repeat-Modus ein und schmiss mich aufs Bett.

Far away

The ship is taking me far away

Far away from the memory

Of the people who care if I live or die…

Auf einmal wummerte es an der Zimmertür und ich wachte auf. Wie, ich wachte auf? War ich etwa eingenickt? Musste wohl so sein. Wer wummerte an meiner Tür? Ich ahnte schon, wer es war, und als ich die Tür aufschloss, bestätigte sich meine Vermutung.

Kati hätte fast auf meinem Kopf weitergeklopft. „Hey, dreh mal deinen Scheiß leiser, du bist hier nicht alleine!“

Sie klang wie meine Mutter. „Was? Ich kann dich nicht hören!“

„Ich sagte: Dreh deinen Scheiß leiser!“

„Tut mir Leid, ich kann dich nicht verstehen. Aber sprich mit meiner Hand, wenn das Gesicht dich nicht verstehen kann!“ Ich hielt der Tusse meine Hand entgegen und rollte nach einigen Sekunden die Finger an. „Oh, tut mir Leid, sie wollen dir wohl nicht zuhören. Kein Wunder!“

Mit den Worten knallte ich Kati die Tür vor der Nase zu und erfreute mich an ihrem Wutschnauben, das ich noch durch die Tür hörte.

Am Wochenende fuhr ich mit dem Zug nach Hause. Ich hatte mit Lea verabredet, dass sie mich vom Bahnhof abholte. Als ich etwas zu spät ankam – der Regionalzug war ständig zu spät! –, stand Lea bereits am Gleis und wartete auf mich. Sie hatte einen dicken Burger in der Hand und das erste, was sie zu mir sagte, war: „Mmm, Fara!“ Sollte wohl so was heißen wie Hallo, Sara. Ich verstand es nicht.

Nachdem sie mich mit nur einem Arm umarmt hatte, gingen wir nebeneinander zum Auto. Immer noch kauend erklärte sie mir, dass sie unheimlichen Appetit hatte und deswegen mit etwas zu essen angekommen war.

Verständlich. Als sie dann auch noch während der Fahrt ständig an einem Riesenmuffin nagte, fand ich das Ganze aber langsam bedenklich.

„Ist es wirklich so schlimm? Du überfährst gleich noch ’nen Fahrradfahrer!“, rief ich.

„Wenn es nicht so schlimm wäre, würde ich auf darauf verzichten. Reich mir mal den Becher im Fußraum“, befahl sie mir. Stirnrunzelnd hielt ich ihr den mit einem Strohhalm versehenen Becher hin und sie schlürfte.

Zu Hause angekommen, stellte sie fest, dass sie ihren Hausschlüssel vergessen hatte, also klingelte sie, immer noch schlürfenderweise.

Oma öffnete Lea und mir die Tür. Und was mich wirklich verwunderte: Sie steckte in einem weiten Rock und einem blauen T-Shirt, beide waren mit Farbe besprenkelt.

„Hallo, Sara! Schön, dass du wieder zu Hause bist!“, rief sie sogleich und umarmte mich herzlich.

Was war denn jetzt los? Das hatte sie früher nie getan.

„Du musst gleich ins Wohnzimmer kommen und dir mein neues Bild ansehen.“

„Wie? Was für ein Bild hast du dir denn gekauft?“

„Selbst gemalt, du Dummerle! Guck mal!“ Oma führte mich ins Wohnzimmer und zeigte auf eine Staffelei mit Leinwand. Darauf waren Sonnenblumen in einer blauen, bauchigen Vase zu sehen. Das Ganze hatte irgendwie etwas Impressionistisches an sich. Früher im Kunstunterricht wurde uns ein Bild gezeigt, das mit der so genannten Kommatechnik gemalt wurde. Daran musste ich denken, als ich dieses Bild sah.

Dadurch wurden auch die Farbspritzer auf Omas Klamotten erklärt, die im Übrigen hauptsächlich gelb und blau waren.

„Sieht schön aus“, sagte ich. Oma bedankte sich.

Dann ging sie Richtung Küche. „Komm, es gibt gleich Essen. Heute hat dein Vater gekocht!“ Wie ungewöhnlich. Es roch irgendwie nach Suppe, aber auch nach Milch, genau konnte ich das nicht sagen.

Als ich in der Küche stand, erlebte ich die nächste große Überraschung. Mama saß da. Das war zunächst nicht weiter neu, aber sie hatte ultraviolette Haare, die kürzer waren als meine, und meine Haare gehen mir nur bis zu den Ohrläppchen. Dazu trug sie noch so lange, filigrane Ohrringe mit Federn dran.

„Hallo, Mama, du siehst ja ganz anders aus…“, begrüßte ich sie total verdattert.

„Ja, nicht?“ Sie lachte. Ich hatte schon länger Lust auf eine Typveränderung. Und da geh ich neulich an so einem Frisörsalon vorbei und denke mir: Warum nicht? Die Ohrringe gab’s im Laden nebenan.“

„Sieht schön aus…“, sagte ich. Mama bedankte sich.

„So“, Papa setzte sich zu uns an den Tisch, „ich hoffe, die Milchsuppe, die ich gemacht hatte, schmeckt euch! Ich hab das Rezept mal im Kochbuch gesehen.“

Milchsuppe? Das klang höchst ungewöhnlich. Vielleicht so etwas wie Milchreis. Doch als ich den ersten Löffel nahm, wurde ich überrascht. Das Ganze schmeckte herzhaft… und ziemlich gut. Ich aß noch einen Teller und nahm dazu ein bisschen der Tofuwurst, die extra für mich gekauft wurde.

„Schmeckt echt gut“, sagte ich. Papa bedankte sich.

„Sag mal, wann wollte dein Freund noch mal vorbeikommen?“, fragte Oma. Lea antwortete, in einer Stunde wolle er da sein.

„Prima, dann kann er mir ja gleich bei diesem doofen Internetanschluss helfen.“

„Du kriegst Internet?“, fragte ich total erstaunt. Ich hatte bis jetzt nicht mal gewusst, dass Oma einen Computer hatte.

„Ja, denkst du denn, ich will hinterm Mond leben, nur weil ich seit einigen Jahren in Rente bin?“ Oma lachte. „Ich finde es wirklich interessant, was es da so alles gibt. Ich kann mir sogar Rezepte aus dem Internet aufschreiben, wenn diese Verbindung endlich mal steht.“

Ich sagte eine Weile erst mal nichts mehr. Ich war zu überrascht von all den Vorfällen, die sich hier ohne mein Wissen ereignet hatten. Ich krieg echt nichts mehr mit, dachte ich nur noch.

Lea war immer noch total hungrig. Sie aß ganze drei Teller der Milchsuppe und hatte sich dabei Unmengen an Salami hereingeschnippelt. Zuerst guckten unsere Eltern und unsere Oma nur ganz verwundert. Doch nach dem fünften Glas Apfelsaft sagte Mama: „Was ist denn heute mit dir los? Du frisst ja wieder wie ’ne siebenköpfige Raupe.“

„Haha, unheimlich komisch. Und ich dachte, ich wär den Spruch endlich los“, brummte Lea. Meine Güte, was war das denn? Sonst war sie doch nicht so schlecht drauf.

Das dachte auch unser Vater, denn er rief: „Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“

Und Oma fügte hinzu: „Wenn du weiter so das Essen in dich reinschlingst, wirst du noch krank, Kind!“

„Was kann ich denn dafür, wenn ich so viel Appetit habe?“, brauste Lea auf. „Kann ich doch nichts für.“

Oma vermutete, dass meine Schwester krank war, und empfahl ihr, zum Arzt zu gehen. „Das geht doch schon seit Tagen so. Warte mal, ich hab hier irgendwo noch Pillen gegen Verstopfung…“ Sie stand auf.

„Wieso glaubt eigentlich jeder hier, dass mit mir irgendwas nicht in Ordnung ist? Alles ist super!“, schrie Lea und verließ fluchtartig die Küche. Natürlich nicht, ohne die Küchen- und kurz darauf auch die Zimmertür zuzuknallen. Wenig später war aus ihrem Zimmer laute Musik zu vernehmen. Irgendetwas Rockiges.

„Wisst ihr, was mit ihr los ist?“, fragte Mama. Wir anderen schüttelten die Köpfe. Zirka fünf Minuten später ging ich zu ihr ins Zimmer. Es war allerdings die Tür abgeschlossen.

„Komm, Lea, lass mich rein!“, rief ich gegen die laute Musik an und klopfte gegen die Tür. Zuerst blieb die Tür verschlossen.

„Komm, Lea, ich bin’s, Sara!“

Sie machte auf. Ich stand in ihrem Zimmer, in dem mehrere Packungen dieser sauren Fäden herumlagen, oder wie man dieses Fruchtgummi noch gleich nannte. Die liebte Lea.

Meine Schwester schmiss sich mit dem Gesicht nach vorne auf ihr Bett. Nach einigen Minuten fing sie merkwürdig an zu zucken. Ich schloss schnell die Tür.

„Lea, was hast du denn?“, fragte ich sie. Keine Antwort. Ich strich ihr über den Rücken.

„Lea?“

Jetzt drehte sie sich um und ich sah, dass sie weinte. „Ich will nicht sterben!“

„Hey, wieso das denn? Du musst bestimmt nicht sterben, keine Angst!“

Immer noch schluchzend setzte sie sich auf und erzählte mir die Geschichte.

Wo ist die Liebe hin?, Teil 8

Veröffentlicht am

Der Stress nahm wirklich kein Ende. Ich fragte mich, was ich eigentlich verbrochen hatte, dass die da oben im Himmel – vorausgesetzt, es gab sie wirklich – mich derartig straften. Erst musste ich alle Abiturprüfungen innerhalb von einer Woche ablegen, dann verliebten sich zwei meiner Freunde ineinander und kamen miteinander auf keinen grünen Zweig, und dann zoffte sich meine Familie so häufig, dass es nicht mehr auszuhalten war. Wenn wenigstens das ultimative klärende Gespräch nicht heute stattfinden würde, dachte ich, als ich vor dem Haus mit den weißen Wänden stand, das meinen Eltern gehörte. Ich wusste, es würde unangenehm werden. Lea und ich würden uns anhören müssen, warum wir urplötzlich ausgezogen waren. Auf jeden Fall würde es stark auf meine gebeutelte Stimmung drücken.

Obwohl ich wusste, dass das Gespräch irgendwann einmal sein musste, betrat ich nur widerwillig das Haus.

Meine Familie wartete bereits. Jeder von ihnen sah aus, als wäre er gerade lieber ganz woanders. Ich wusste, dass Lea von ihrem Freund hierher gebracht worden war. Das war vermutlich auch der Grund, warum sie sehnsüchtig aus dem Fenster starrte. Papa bewegte seine Hände unruhig hin und her. Bestimmt vermisste er seine Zeitung, hinter die er sich so gerne rettete. Oma hatte die Arme verschränkt und auch Mama sah nicht gerade glücklich aus.

„Hallo, Sara“, begrüßte mich Papa. „So, äh, dann sind wir ja alle da.“

„Ich möchte, dass jetzt jeder nacheinander sagt, was ihn an der Situation stört, und was er sich wünscht. Damit wir uns endlich besser verstehen“, sagte Mama. „Wer fängt an?“

Betretenes Schweigen.

„Gut, dann fange ich halt an“, seufzte Mama. „Als ich vor einem Jahr wieder angefangen habe zu arbeiten, war es nicht leicht. Aber schließlich haben wir uns doch geeinigt. Wir haben gesagt, dass jeder hier seine Aufgaben hat und wie wir das mit dem Essen regeln und so weiter. Aber irgendwie hält sich keiner mehr daran. Das finde ich nicht gut.“

Sie wandte sich an Oma. „Es kann sein, dass ich mich, seit ich arbeite, mich ab und zu verzettele. Vielleicht muss ich noch lernen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Aber ich erwarte von dir – wie auch von allen anderen –, dass du mir dabei hilfst.“

Als Nächstes wollte Oma sprechen. Ich hatte gedacht, sie würde ihre Redezeit nutzen, um lauter Vorwürfe gegen ihre Schwiegertochter und den Rest der hier Anwesenden zu erheben, aber das tat sie nicht. Sie bemühte sich um einen ruhigen und sachlichen Ton.

„Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du“ – sie sah Mama an – „in deiner Praxis arbeitest und wir müssen uns hier um alles alleine kümmern. Ich gebe ja zu, dass ich vielleicht etwas neidisch bin, weil mir damals einige Möglichkeiten genommen wurden. Aber zum Teil müssen wir ja auch unheimlich viel machen. Ich sitze zum Beispiel jeden Tag mit dem Kleinen in der Küche und mache die Hausaufgaben. Das nimmt eine unglaubliche Menge an Zeit weg. Ich mach das, wenn’s sein muss, aber ich möchte auch, dass hier gewisse Regeln eingehalten werden. Damit ich nicht schon wieder auf meinen Fernsehabend verzichten muss, nur weil sich irgendjemand aus dem Staub macht.“ Jetzt sah sie Lea und mich an.

Ich wollte unbedingt etwas dazu sagen.

„Das haben wir ja nur gemacht, damit ihr endlich aufhört, euch zu streiten. Natürlich haben wir uns da falsch verhalten, aber Lea und ich wussten uns einfach nicht anders zu helfen. Ich wünsche mir jedenfalls nur, dass wir uns wieder besser verstehen, und ich bin auch bereit, mich dafür wieder mehr um den Haushalt zu kümmern. Wenn das bedeutet, dass ich auch mal meine Ruhe habe.“

„Wie siehst du das, Lea?“, fragte Papa.

„Also, ich habe dem, was meine Schwester gesagt hat, nichts mehr hinzuzufügen“, antwortete sie, verschränkte die Arme und lehnte sich im Stuhl zurück.

„Tja. Und was machen wir jetzt?“

Papas Frage hing schwer wie Blei in der Luft. Was sollten wir jetzt machen? Das fragten wir uns alle. Doch niemand von uns hatte eine Antwort.

„Das mit dem Plan“, wagte Mama einen Anfang, „war doch eine gute Idee. Doch der beste Plan bringt nichts, wenn man sich nicht an ihn hält.“

Beiläufiges Nicken.

„Vielleicht haben wir noch nicht gut genug geplant“, warf Lea ein. „Das mit Saras Abitur zum Beispiel. Das haben wir gar nicht berücksichtigt. Oder dass Papa immer sehr lange arbeitet.“

„Stimmt“, antwortete Mama nachdenklich. Einen Augenblick lang waren wir alle sehr nachdenklich. Ich schätze, jeder brütete fieberhaft an der Super-Idee, mit der auf einen Schlag alle unsere Probleme gelöst wären.

Dann hatte ich ein paar gute Ideen.

Eine Stunde später stand der Plan. Mehr oder weniger jedenfalls.

Im Wesentlichen bestand er daraus, dass Oma mehr Zeit für ihre eigenen Aktivitäten hatte, damit sie sich nicht mehr so unzufrieden fühlte. Ab sofort sollte Lea Paul von der Schule abholen und mit ihm Hausaufgaben machen. Das Abendessen sollte Papa zubereiten. Außerdem würden wir, so oft es ging, etwas mit Paul unternehmen.

„So gefällt die Planung mir richtig gut“, sagte Mama zufrieden. „Wenn alles vernünftig eingehalten wird, hat jeder genug Zeit für sich. Und alle sind glücklich. Jetzt kann ich endlich meinen Tai-Chi-Kurs an der Volkshochschule machen.“

„Muss das sein?“, nölte Lea.

„Monika“, entfuhr es Papa und Oma gleichzeitig.

Ich verzog mich, ich musste noch meinen Job kündigen. Für den hatte ich jetzt nämlich keine Zeit mehr – und irgendwie auch keine Lust.

Als Lea und ich festgestellt hatten, dass sich unsere familiäre Lage beruhigt hatte – sprich: wir uns nicht mehr pausenlos zofften –, waren wir bereit, wieder zu Hause zu wohnen. Endlich wieder komfortabel leben und sich nicht mehr um jeden Cent abstrampeln müssen. Ich war glücklich.

Wenn da nur nicht das Problem mit Freddy und Aurélie gewesen wäre. Es mag sich wie ein dummes Klischee anhören, aber ich verbrachte einige schlaflose Nächte damit, darüber nachzudenken, wie wir die verfahrene Situation nur lösen könnten. Es war, als wären wir in einem Stau und kämen nicht vorwärts. Es sah so aus, als wären wir falsch herum in eine Einbahnstraße gefahren und kämen mit dem Konsequenzen, dem Unfall, wenn man so will, nicht zurecht.

Doch irgendwann wusste ich, dass mir all die Straßenverkehr-Vergleiche nichts brachten. Es musste eine Lösung her.

Alleine mit mir konnte ich es nicht mehr ausmachen. Und deswegen verabredete ich mich wieder am Platz des 20. Juli, diesmal war statt Aurélie aber Lea dabei. Ich dachte mir, vielleicht wäre es ganz klug, jemand Außenstehenden einzuweihen. Mal abgesehen davon, war Lea von uns mit Abstand die Erfahrenste in Liebesdingen.

Nachdem wir ihr alles lang und breit erklärt hatten, war aber auch sie erst einmal ratlos. Na toll.

„Das hat Freddy ja toll gemacht“, regte Lea sich auf. „Wieso musste er auch mit dieser Tussi rummachen? Da war das ja klar.“

„Er hat nicht mit ihr rumgemacht, er hat lediglich den ganzen Abend eng mit ihr getanzt und Aurélie dabei ignoriert“, stellte Anna richtig.

„Das ist in dem Fall jawohl egal“, gab ich zu bedenken. „Die Wirkung war jedenfalls die gleiche.

„Jaa, ihr habt ja Recht.“ Seufzend guckte Anna auf ihr Handy und danach in die Ferne. Vermutlich in die Richtung, wo die Pommesbude lag.

Ich schaute nach oben und sah direkt ins Gesicht der Stauffenberg-Statue. Trotz seiner Augenklappe wirkte der Typ so verdammt selbstsicher, als wüsste er genau, was er tat. Wir wussten leider überhaupt nicht, was wir tun sollten, und waren ziemlich verzweifelt. Auch wenn unser Problem garantiert nicht so schlimm war wie das von Stauffenberg. Trotzdem musste es gelöst werden.

„Na toll“, hielt ich fest. „Freddy und Aurélie lieben sich, kriegen es aber einfach nicht hin, auch nur einen Schritt aufeinander zuzugehen. Irgendwas müssen wir doch tun.“

„Ach, auch schon gemerkt?“, maulte Anna. „Mal was anderes, habt ihr das mit dieser Abiballband jetzt eigentlich hinbekommen?“

„Ja. Aber wie kann dich das jetzt interessieren?“

Anna stöhnte.

„Wir müssen uns ablenken“, bestimmte Lea. „Wie wäre es mit einem Singstar-Abend?“

„Na, wenn du meinst. Beim letzten Mal war es doch ganz lustig… Moment mal, ich hab’s!“

Verwundert starrten Lea und ich Anna an. „Wie meinst du das?“

„Na, ich hab den perfekten Einfall, wie wir Freddy und Aurélie zusammenbringen! Passt auf…“

Und wir steckten die Köpfe zusammen, lauschten und staunten.

Wo ist die Liebe hin?, Teil 7

Veröffentlicht am

„Ich kann einfach nicht glauben, dass ihr so etwas getan habt. Uns alleine zurückzulassen! Eine solche Verantwortungslosigkeit hätte ich euch nie zugetraut!“ Papas stimmliche Lautstärke hatte sich kaum verändert, seit er an der Wohnungstür nach uns verlangt hatte.

„Martin, bitte!“, versuchte Mama, ihn zu beruhigen.

„Wir haben doch gesagt“, ergriff Lea das Wort. „dass wir zwischendurch vorbeikommen, um den Haushalt zu erledigen. Außerdem haben wir es zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten.“

„So ein Blödsinn!“, empörte sich Papa.

„Martin! – Was soll das heißen, ihr habt es zu Hause nicht mehr ausgehalten?“, fragte Mama.

Jetzt redete ich: „Jetzt tu bitte nicht so, als wüsstest du das nicht. Wir streiten uns nur noch. Ich habe neulich sogar gemerkt, dass Papa auf dem Sofa schlafen musste. So geht es einfach nicht weiter.“

„Sara, ich habe dir doch gesagt, mein Rücken…“

„So ein Quatsch“, fuhr ich ihm über den Mund und sagte: „Egal, was Lea und ich tun, ständig streitet ihr euch darum. Ich musste ja sogar zu Freunden abhauen, weil ich sonst gar nicht in Ruhe für mein Abitur lernen konnte. Und der Kleine leidet auch darunter.“

Wieder tat Mama so, als verstünde sie nicht. „Was meinst du damit?“

Lea antwortete: „Ihr wisst doch, der Kleine verträgt überhaupt nichts. Eure dauernden Streits mag er überhaupt nicht. Mal abgesehen davon, dass Oma ihn behandelt wie einen Idioten. Entschuldigung, aber so ist es wirklich.“

Papa, der sich bis dahin noch bemüht hatte, einigermaßen, wollte nun überhaupt nicht mehr. „Das wird ja immer schöner. Erst verschwinden meine beiden Töchter einfach so, lassen alles stehen und liegen, und dann müssen wir uns als Rabeneltern hinstellen lassen! Ich glaube es nicht!“ Er stand vom Umzugskarton, der als Notsitz hinhalten musste, auf und tigerte unruhig hin und her.

„Wir sagen doch gar nicht, dass ihr Rabeneltern seid. Aber ihr seht doch wohl selbst ein, dass diese endlosen Streits aufhören müssen.“ Lea richtete sich auf. „Und ich sage euch eins: Wir kommen nicht zurück, bis ihr euch wieder vertragen habt.

„Lea, ich…“, wollte Papa erneut ansetzen, wurde aber von Mama unterbrochen: „Martin, die beiden haben Recht. Aber es ist wirklich nicht so einfach, so eine Situation zu lösen.“ Sie wandte sich an uns. „Glaubt ihr, mit einmal drüber reden ist es getan?“

„Nein, natürlich nicht. Aber wir sollten uns zumindest mal an einen Tisch setzen und unsere Probleme klären, anstatt uns immer nur anzugiften.“

„In Ordnung. Wir reden mit Oma darüber. Einverstanden?“ Nun sah Mama Papa an. Mit diesem drohenden Blick, den sie auch früher schon ganz gut beherrscht hatte.

Er musste sich überwinden, bevor er einwilligte.

Wenig später fuhren unsere Eltern wieder nach Hause. Lea und ich kamen freiwillig mit, um die wichtigsten Haushaltsarbeiten zu erledigen.

Wir hatten einen Termin für ein klärendes Gespräch vereinbart. Bis dahin würden Lea und ich in unserer „Notunterkunft“ bleiben und nur ab und zu vorbeischauen. Dank unserer Jobs und unserem Ersparten konnten wir uns ganz gut über Wasser halten, zumindest im Moment.

Doch auch wenn in unserer familiären Situation die Lösung in die Nähe gerückt war, lief es freundeskreistechnisch nicht gerade gut. Eines Tages kam ich total müde von meiner Schicht aus dem Fastfoodrestaurant, als Aurélie auf mich zustürmte.

Einen Augenblick lang orientierungslos fragte ich: „Hey, was ist denn los?“

„Sara, ich muss unbedingt mit dir sprechen!“

Ich ahnte instinktiv, dass das nicht gerade eine Freude werden würde, trotzdem bat ich sie mit zu mir nach Hause. Zwar war Aurélie darüber verwundert, dass ich nicht in Richtung Nordkreuz wollte, sondern zu einer kleinen Wohnung am Hauptbahnhof, aber weiter kümmerte es sie nicht. Sie hatte ein viel dringenderes Problem. So viel war klar. Doch ich konnte nicht aus ihr herauskriegen, was es war. Komisch, woran erinnerte mich das nur?

Irgendwann kamen Aurélie und ich in der kleinen Wohnung an. Sobald ich die Tür zugemacht hatte, ließ sie sich auf den Boden fallen, mit dem Rücken zur Tür, und rief: „Oh Mann!“

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Jetzt wusste ich, woran mich die Situation erinnerte. Wollte Aurélie mir etwa sagen, dass…

„Du meine Güte, ich bin total in Freddy verknallt!“, platzte es auch schon aus ihr heraus. „Er hat mir in Chemie geholfen und er findet mich wohl total nett, aber nie im Leben erwidert er meine Gefühle!“

Na super. Ich hatte es gewusst. Das musste ja so enden. In meinen Augen war die Situation wie die in einem verdammten Liebesfilm. Nur, dass das Happy End momentan noch nicht in Sicht war. Oh Mann. Das traf es genau auf den Punkt.

Wir setzten uns in die Küche. Auch wenn Leas und meine Notunterkunft nicht so toll ausgestattet war, verfügten wir mittlerweile immerhin über einen Klapptisch und drei Stühle.

„Wie kommst du überhaupt darauf, dass Freddy nichts von dir will? Hast du schon mit ihm geredet?“

„Ich wollte. Aber ich konnte nicht.“ Jetzt schniefte Aurélie. Ich gab ihr Taschentücher.

„Also, ich wollte mit ihm darüber sprechen. Ich habe mich mit ihm in diesem tollen Laden in der Burgstraße getroffen. Er war schon da und…“ Sie stockte.

„Was und?“

„Er hat mit dieser blonden Tussi getanzt. Den ganzen Abend lang. Obwohl er gar nicht tanzen kann. Er hat mich gar nicht beachtet!“ Für Aurélie war die Welt zu Ende, wie ich so einen Zustand gerne formuliere. Sie heulte richtig los und bald war eine Packung Taschentücher verbraucht.

Die Arme tat mir Leid, sie war schließlich meine beste Freundin, neben Anna natürlich. Ich nahm mir vor, mir Freddy bei nächster Gelegenheit vorzuknöpfen.

Die bot sich auch recht bald, bei der Vergabe der Noten für die mündliche Prüfung. Zu diesem Zwecke waren wir alle in der Schule versammelt. Vielleicht war das nicht unbedingt gut, aber mich interessierte der Umstand, dass ich die mündliche Prüfung bestanden hatte, kein bisschen. Viel wichtiger war für mich die Frage: Wo ist Freddy?

Ich fand ihn, wie er fröhlich mit seinen Freunden über die Notenvergabe redete. Die Freude würde ihm gleich vergehen.

Ich ging zu ihm. „Freddy, kann ich mal kurz mit dir alleine reden?“

Einer seiner Kumpels verzog die Augen und lächelte anzüglich. „Uhh, sie will mit dir alleine reden!“

„Schnauze, Patrick“, wies Freddy ihn zurecht. Er folgte mir.

Wir verzogen uns in den nächstbesten Raum, den wir finden konnten. Dass das der Putzmittelraum war, störte mich in dem Augenblick wenig. Nachdem ich die Tür hinter uns beiden geschlossen hatte, versuchte ich ihn zur Rede zu stellen, ohne mein kleines Geheimnis dabei auszuplaudern.

Ich begann folgendermaßen: „Wie würdest du es finden, wenn du zu einem Treffen kommst und der, mit dem du dich verabredet hast, ignoriert dich einfach?“

„Ich fände das schrecklich. Wieso fragst du?“

Innerlich kochte ich bereits, sagte aber möglichst unbeeindruckt: „Nun, weil Aurélie neulich zu mir gekommen ist und mir davon erzählt hat, wie sie jemand bei einem Treffen völlig ignoriert hat. So, als wäre sie praktisch gar nicht da.“ Nun wirbelte ich mich herum und funkelte ihn an.

„Was willst du eigentlich damit sagen, hä? Meinst du, dass ich so etwas abziehen würde?“

„Mhhmm. Hat ja lange gedauert, bis du das herausgefunden hast.“

„So ein Quatsch! Ich hab das hier nicht nötig!“ Mit den Worten wollte er den Raum und damit die Verantwortung verlassen, aber nicht mit mir. Ich versuchte, den Ausgang zu versperren. Es war gar nicht so leicht, sich durchzusetzen, weil Freddy um einiges stärker war. Aber schließlich gab er auf.

„Sara, glaubst du wirklich, ich würde Aurélie so behandeln? Mir ist eingefallen, dass ich ja schon mit meiner Schwester verabredet war. Da hab ich Aurélie eine SMS geschickt, dass ich nicht kann. Wenn sie trotzdem hinkommt, kann ich ja nichts dafür!“ Er hockte sich auf einen Eimer und verschränkte die Arme.

Selten hatte ich schlechtere Ausreden gehört. „Warum triffst du dich denn mit deiner Schwester ausgerechnet in der Bar in der Burgstraße?“

„Naja, das ist ihr Lieblingsschuppen…“

„Und wieso tanzt du mit deiner Schwester so eng, als wäre es deine Freundin? Gib mir dein Handy.“

„Sara, was soll das?“ Freddy stand ruckartig auf.

„Gib mir dein Handy!“, wiederholte ich. „Ich will nur wissen, ob du Recht hattest. Wenn ich die SMS sehe, ist alles okay.“

„Sag mal, vertraust du mir nicht mehr?“ Freddy wurde ebenfalls sauer. Langsam, aber sicher.

Jetzt reichte es mir. Ich versuchte, in seine Hintertasche zu langen, um sein Handy zu mopsen. Dabei entstand eine kleine Rangelei. Schlussendlich gelang es mir, sein Handy zu nehmen und seinen gesamten SMS-Ausgang nach der Nachricht zu durchsuchen, die meiner Meinung nach gar nicht existierte. Auch wenn Freddy versuchte, das zu verhindern.

Wie erwartet fand ich nichts.

Ich war so wütend, dass ich sein Handy einfach in die Ecke schmiss. Sein Glück, dass er es auffangen konnte, denn auf dem Boden lag nicht mal Teppich, er bestand einfach aus nacktem Beton.

„Sag mal, spinnst du, oder was?“, bellte er mich an.

„Was?! Ich soll spinnen? DU spinnst! Du weißt, dass du total in Aurélie verliebt bist, und dann hast du nichts Besseres zu tun, als sie bei eurem Treffen links liegen zu lassen und stattdessen Engtanz mit irgendeiner Tussi zu machen? Denkst du, so erreichst du IRGENDWAS? Hast du auch nur eine Sekunde daran gedacht, was Aurélie dabei empfindet? Sie ist doch total…“

Ups. Das war zu viel gewesen. Mein erster Reflex war, sofort die Klappe zu halten. Aber das hätte ich früher machen sollen. Nun war es zu spät.

Natürlich fragte Freddy auch sofort nach: „Was? Was ist sie total?“

Mein Kopf war ganz heiß und wahrscheinlich auch glühend rot. Ich fühlte mich nicht gut, und das war eigentlich noch zu wenig gesagt. Aurélie hatte es mir gegenüber nicht angesprochen, aber ich glaube, sie wollte nicht, dass ich es ihm verriet. Jetzt war es zu spät.

„Sie ist in dich verliebt“, gestand ich.

„Oh, Scheiße“, rief Freddy laut aus, was wir beide dachten. Er setzte sich auf den Boden, schmiss den dämlichen Putzeimer gegen die Wand und rieb sich die Augen.

Ich setzte mich neben ihn.

„Ich wollte sie nur eifersüchtig machen. Ich dachte, vielleicht interessiert sie sich auf diese Weise für mich.“

„Das war so ziemlich das Falscheste, dass du tun konntest.“

„Das weiß ich jetzt selbst, danke.“ Er rutschte auf den Betonboden, sodass er lag. Jetzt schaute er zu mir. „Hast du es ihr gesagt?“

„Nein.“ Ich seufzte. „Aber wenn du nicht bald mit ihr redest, nehme ich dir das ab.“

„Tu das bitte nicht“, rief Freddy.

„Schon gut. Aber tu mir den Gefallen und sprich mit ihr. Bitte.“

In dem Augenblick hörten wir vor der Tür ein lautes Kichern. Ich riss die Tür auf und rammte damit die Köpfe von zwei neugierigen Fünftklässlern, die an der Tür gelauscht hatten. Doch anstatt mich darüber aufzuregen, fuhr ich nach Hause.

Wo ist die Liebe hin?, Teil 6

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Die besten Ideen bekommt man immer dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Wer hatte das noch mal gesagt? Es wollte mir nicht mehr einfallen. Aber das war ja eigentlich auch egal. Voller Tatendrang fuhr ich, so schnell ich konnte, nach Hause und stürmte in Leas Zimmer.

„Hey, was soll das, ich lackiere mir grade die Fußnägel!“, beschwerte sich Lea. Aber das kümmerte mich nicht im Geringsten.

„Ich habe den perfekten Plan, wie wir unsere Familie wieder zur Vernunft bringen.“

„Familie! Hör mir damit auf! Du kannst froh sein, dass du für eine Weile abgehauen bist. Gemütlicher ist es hier nicht gerade geworden“, berichtete sie.

Ich rief: „Hör doch mal. Ich habe eine Idee. Wie würde es Oma und unseren Eltern denn gehen, wenn wir auf einmal weg wären?“

„Hä, wie meinst du das denn?“

„Du weißt doch, dass ich mir bald einen Job suchen sollte, wenn ich mit der Schule fertig bin. Und du hast selbst gesagt, dass du lieber ausziehst, als den Krach hier noch weiter mitzumachen.“

„Du meinst, wir sollen hier ausziehen? Und was soll das bringen?“

„Nein, nicht nur einfach ausziehen. Ich hab da nämlich so eine Idee…“

Der Plan, den ich gefasst hatte, musste schnell realisiert werden. Nachdem Lea anfangs skeptisch gewesen war, hatte ich sie schnell für mich gewinnen können und sie hatte mir bei der Endausarbeitung des Plans geholfen.

In meinem Auftrag hatte sie bei der Nummer angerufen, die ich mir aufgeschrieben hatte, und uns die Wohnung für einen Monat besorgt. In der Zwischenzeit hatte ich mir den Job beim Fastfoodrestaurant geholt. Lea konnte coolerweise auch mit anfangen.

Der günstigste Zeitpunkt zur Vollendung des Plans war einige Tage später, am frühen Nachmittag, wenn Paul bei seinem Kumpel war, Mamas Mittagspause bereits geendet hatte, Papa noch in seiner Kanzlei arbeitete und Oma gerade zum Reha-Sport unterwegs war. Und es musste wirklich verdammt schnell gehen. In der Eile, in der Lea und ich unsere Sachen packten, fielen wir ein Dutzend Mal übereinander, rempelten uns an oder fauchten uns an.

„Wo ist mein grünes T-Shirt?“, rief ich beispielsweise.

„Woher soll ich das wissen?“

„Hast du es dir nicht mal ausgeliehen? Und nicht zurückgegeben? Hab ich mir ja gleich gedacht.“

„Ich hab dein blödes T-Shirt nicht. Aber was ist mit meinem pinken Lippenstift?“

„Lenk nicht ab! Außerdem würde ich so eine Farbe nie im Leben benutzen.“

„Ach was, ich glaube du hast aaaaaaaaaah…“ Lea fiel über einen der Kartons, die uns ihr Freund besorgt hatte, mit dem Gesicht steil in einen anderen Karton herein. Mühsam rappelte sie sich auf und zog das gesuchte Teil aus dem Karton. „Hier ist dein blödes T-Shirt. Und jetzt beeil dich, sonst sind wir nie fertig, bevor Oma kommt.“

Wir rannten hin und her.

Schlussendlich standen wir vor dem Transporter, der uns ebenfalls von Leas Freund zur Verfügung gestellt worden war, und sahen uns an.

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee war?“

„Aber klar. Jedenfalls ist doch sicher, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Extreme Situationen erfordern extreme Maßnahmen.“

Lea setzte sich ans Steuer, ich auf den Beifahrersitz und weg waren wir.

Natürlich nicht, ohne einen Brief da zu lassen. Er ging folgendermaßen:

Hallo Mama, hallo Papa, hallo Oma.

Wenn ihr diesen Brief lest, sind wir schon weg. Wir haben beschlossen, auszuziehen, weil wir es hier einfach nicht mehr aushalten. Wir werden ab und zu vorbeikommen, um im Haushalt zu helfen. Aber zu euch zurückkommen werden wir erst, wenn ihr aufhört, euch ständig zu streiten.

Lea und Sara.

„Meine Güte, ich bin so kribbelig, ich weiß gar nicht, was ich machen soll!“, rief Lea, als wir uns in der karg wirkenden Wohnung auf den Badezimmerboden setzten.

„Blas die Luftmatratzen auf“, befahl ich ihr. Die hatten wir als Notbetten mitgenommen. In der Zeit, in der Lea sich die Seele aus dem Leib prustete, telefonierte ich mit der Band.

„Hallo, Larry am Rohr?“, meldete sich der Sänger, der, wie ich neulich gehört hatte, dringend seine Miete bezahlen musste.

„Hey, hier ist Sara. Die von neulich Abend. Ihr sucht doch dringend eine Auftrittsmöglichkeit, oder?“

„Korrekt. Und du hast eine, oder was?“

„Genau. Ich habe mit einem Mädel aus meinem Jahrgang gesprochen, das für die Abiballband zuständig ist. Zufällig habe ich ihre Telefonnummer. Soll ich sie dir geben?“

„Sieht das Mädel gut aus?“ Lachen am anderen Ende der Leitung. „Nein, war nur Ulk. Gib sie mir mal. Ich hab was zu schreiben.“

„3-4-4-6-7. Das ist sie. Dann melde dich mal bei ihr, wir suchen wirklich dringend eine Abiballband.“

„Supi. Dann bis die Tage.“

„Auf Wiedersehen.“

Es war das Letzte, was ich sagen konnte, bevor irgendjemand an der Tür Sturm klingelte, mehrmals laut anklopfte und schrie: „Macht sofort die Tür auf! Ich weiß, dass ihr da drin seid!“

Oh oh. Das war nicht nur irgendjemand, das war unser Vater. Jetzt endlich hatte er seinen Hintern aus dem Sessel gekriegt, auf dem er immer Zeitung las und sich aus allem heraushielt. Aber ich wusste, dass das jetzt nicht unbedingt gut war.

Lea und ich sahen uns an. Ein bisschen war es wie damals, als wir uns in Paris im Klo eingeschlossen hatten und Frau Lacombe nach mir gerufen hatte.

Einen Augenblick lang war es ganz still.

Dann wieder Türenklopfen und laute Rufe: „Lea, Sara, macht sofort die Tür auf!“ Diesmal von unserer Mutter.

„Sollen wir jetzt aufmachen oder nicht?“, flüsterte ich.

„Natürlich, genau darauf haben wir doch gewartet“, erwiderte meine Schwester und zog mich entschlossen zur Wohnungstür.

Wo ist die Liebe hin?, Teil 5

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Zu Hause war ich fix und fertig. Der auf sechs Tage komprimierte Prüfungsstress hatte mich richtig fertig gemacht, dazu kam noch der familiäre Terror, und nun hatte sich auch noch herausgestellt, dass Freddy tatsächlich in Aurélie verliebt war, was ohne Zweifel noch einen Haufen Probleme nach sich zog.

Als ich im Flur stand und die Schuhe abstreifte, hörte ich aus Leas Zimmer laute Musik. Sie hörte gerade die Beatsteaks.

I got a whole bag of trouble to be taken away…

„Die haben ja so Recht“, murmelte ich.

„Mit wem redest du gerade?“, fragte mich Paul, der mit seinem Lieblingsball durch den Flur tollte. „Paul, du sollst nicht mit deinem Ball auf dem Flur spielen, das weißt du ganz genau!“, rief meine Mutter gereizt aus der Küche. Nanu, war sie schon aus der Praxis zurück?

„Ich hab mit niemandem geredet“, behauptete ich und ging Richtung mein Zimmer. Unterwegs ging ich an Leas Zimmer vorbei. Die Musik war unverändert laut, doch jetzt stratzte meine Oma vorbei und versuchte, gegen den Lärm anzukommen: „Mach deine Kapelle leiser, du bist hier nicht alleine!“

Na toll. Die Atmosphäre hatte sich nicht entspannt, seit ich mich mit Anna zur Bushaltestelle aufgemacht hatte. Ich setzte meinen MP3-Player auf und drehte ihn auf volle Lautstärke, um mich abzuschotten.

Es ist ja häufig so, dass die Zufallsreihenfolge des MP3-Players einen zu ärgern scheint. Jedenfalls war das Lied, mit dem der Player startete, ausgerechnet „Wie es geht“ von den Ärzten. Bitte geh noch nicht, bleib noch ein bisschen hier, ich muss dir noch was sagen, nur die Worte fehlen mir… Ich schaltete weiter.

Doch es war wie verhext: Ich bekam nur noch Lieder, die haargenau auf meine Umwelt passten. Als es schließlich hieß: Junge, warum hast du nichts gelernt?, riss mein Geduldsfaden. Natürlich hätte ich auch einfach ein Lied auswählen können, aber dazu hatte ich schon gar keine Lust mehr.

Stattdessen pflanzte ich mich vor den Fernseher. Ich blieb auf Kanal sieben hängen, wo gerade über eine Sechzehnjährige berichtet wurde, dessen kleinkrimineller Freund ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte. Im Wechsel mit dieser Tussi wurde über eine Fünfzehnjährige berichtet, die unbedingt Go-go-Girl werden wollte in einem Club, in den sie noch nicht hereindurfte, und die sich deswegen mit ihrer Mutter zoffte.

Plötzlich tauchte meine Mutter in der Sendung auf und fauchte die Oma der Sechzehnjährigen, die meiner Oma verdammt ähnlich sah, an, dass sie an allem schuld sei, weil die Sechzehnjährige dadurch, dass die Oma so ein Ekel war, erst dazu getrieben wurde. Die Oma wehrte sich und hielt dagegen, dass die Mutter ihre Pflichten vernachlässigt hätte.

Ich wachte auf. Was zum…? Was war denn jetzt los?

Ich starrte konsterniert auf den Fernseher. Nichts mehr von außer Kontrolle geratenen Teenagern namens Mandy, Robin und Alina. Dafür verkündete nun eine Blondine die neuesten Nachrichten. Doch die streitenden Stimmen waren immer noch zu hören.

Na super. Meine Mutter und meine Oma zofften sich schon wieder. Kriegten die sich denn nie ein?

Ich versuchte, mich diesmal unbeeindruckt zu geben, und kochte, während der Streit in der Küche weiterging, das Abendessen. Mama hatte es bereits begonnen, aber anstatt es zu Ende zu führen, stritt sie sich lieber mit Oma.

Während des Essens hatten sie sich, Gott sei Dank, beruhigt.

Aber Mama hatte einige Beschwerden loszuwerden.

„Lea, bitte dreh deine Musik nicht immer so laut. Du bist nicht alleine in diesem Haus.“

„Ist ja schon gut. Wieso bist du heute eigentlich früher aus der Praxis zurückgekommen?“

„Darf ich das nicht? Ich dachte, ich mach euch eine Freude damit, wenn ich mal früher komme und mich ein wenig um den Haushalt kümmere.“

„Hat ja super geklappt“, brummte Oma.

„Elisabeth!“, hieß es von Papa und Mama gleichzeitig.

Nun probierte Paul zum ersten Mal von dem Essen, das zu einem großen Teil ich zubereitet hatte. Natürlich schmeckte es ihm nicht.

„Ich hätte mich auch nicht an den Herd wagen müssen, wenn Mama es vorgezogen hätte, das Essen zu machen, anstatt sich mal wieder mit Oma zu streiten“, rief ich.

„Sara! Bitte nicht in diesem Ton!“, wurde ich von meinem Vater zurechtgewiesen. Doch auch ohne seine Äußerung merkte ich schnell, dass ich da etwas gesagt hatte, was ich besser nicht gesagt hätte.

„Man kann es euch einfach nicht recht machen“, regte sich Mama auf und schmiss ihr Besteck auf den Teller. „Da will ich mal extra früher nach Hause kommen, um euch ein schönes Essen zu kochen, und dann ist es euch auch wieder nicht recht. Was wollt ihr eigentlich?“

„Dass du aufhörst, dich mit Oma zu streiten. Das geht uns nämlich mittlerweile allen auf die Nerven“, sprach Lea aus, was auch ich dachte.

„Du sei mal ganz ruhig“, keifte Oma. „Du kümmerst dich doch hier um nichts. Obwohl du nie in der Uni bist, sondern immer zu Hause herumhängst.“

„Das stimmt nicht“, machte Lea ihrem Ärger lautstark Luft. „Ich mache alles, was mir aufgetragen wird. Sogar Paul musste ich heute von der Schule abholen, weil du es mal wieder vergessen hast. Der Kleine sah ja ganz verzweifelt aus.“

„Wie bitte?“, rief Mama schockiert und gleichzeitig hieß es von Oma: „So wird es also respektiert, was ich hier mache. In Wahrheit halte ich doch den ganzen Laden zusammen!“

„So ein Blödsinn!“, fauchte Lea.

„RUHE!“, brüllte Mama plötzlich. In Großbuchstaben. Egal, was wir vorher gemacht hatten, jetzt waren alle still. Und erschrocken bis ins Mark.

„Es funktioniert so nicht. So funktioniert es einfach nicht! Und wisst ihr was? Ich pfeif drauf!“

Mama stürmte in den Flur, zog sich Schuhe und Mantel an. „Ich gehe zu Gitte.“ Das war ihre Praxiskollegin.

„Monika!“ Auf einmal machte Papa den Mund auf. „Monika, bleib doch…“

„Nein. Nein, Martin, das kann ich nicht. Ich habe keine Lust, mich weiter mit deiner Mutter zu streiten, wer hier was falsch macht. Wenn ihr euch beruhigt habt, bin ich wieder zurück. Tschüss.“

Und weg war sie.

Einige Sekunden lang wusste keiner von uns etwas zu sagen. Dann rief Lea: „Ganz toll. Das habt ihr ja mal wieder ganz toll hingekriegt. Ich glaube, ich ziehe lieber aus, bevor ich euch noch weiter ertragen muss.“ Sprach’s und verzog sich in ihr Zimmer.

„Das versuch mal“, antwortete Papa noch, aber das hörte sie schon nicht mehr.

 

Auch ich hatte von allem genug. Und wie immer, wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fiel bzw. auf den Kopf geschmissen wurde, machte ich einen Spaziergang. Ich wollte meinen Kopf freimachen, aber es ging nicht gut. Da hatten meine Freunde und meine Familie ganze Arbeit geleistet.

Ich lief ziellos durch die Stadt. Auf meinem Streifzug kam ich an einem Haus mit einem Schild vorbei. Neugierig las ich das Schild.

Wohnung zu vermieten und eine Telefonnummer las ich darauf. Ich begutachtete das Haus. Es sah gar nicht mal schlecht aus.

Hier konnte Lea ja einziehen.

Ich ging schnell weiter.

Irgendwann landete ich am Hauptbahnhof. Wie, so weit war ich gelaufen? Jetzt merkte ich erst, wie weh meine Füße taten.

Da erblickte ich eine Filiale der Kette mit dem geschwungenen M. Warum eigentlich nicht, dachte ich und ging herein. Ich bekam sogar noch einen Sitzplatz.

Missmutig stocherte ich im Gartensalat herum, eine der wenigen vegetarischen Sachen, die man hier kriegen konnte. Wie konnte man die Probleme zu Hause nur lösen? Ständig lagen sie sich in den Haaren. Immer ging es um dasselbe. Kein Ende in Sicht.

Mir fiel ein Aushang ins Auge. Aushilfe auf 400-Euro-Basis gesucht.

Wie oft hatte ich zu hören bekommen, dass ich mir einen Job suchen sollte, um meinen Eltern nicht auf der Tasche zu liegen, wenn ich studierte?

Es war ziemlich laut hier, aber ich bekam trotzdem mit, wie sich drei Typen hinter mir über ihre Band unterhielten.

„Meine Güte, wenn wir nicht bald eine Location finden, sind wir aufgeschmissen“, meinte einer.

„Ja, genau. Blöd, dass um die Zeit immer tote Hose ist.“

„Wenn wir doch nur eine Auftrittsmöglichkeit hätten. Ich muss irgendwann mal meine Miete für diesen Monat bezahlen. Ich würde ja fast überall spielen…“

Und da hatte ich zwei super Ideen. Mit einem Mal ging mir ein Licht auf, das so grell war, dass es schon fast schmerzte.

Ich drehte mich zu den Typen hinter mir um und quatschte ein bisschen mit ihnen. Dann lief ich zurück zur Straße, wo eine Wohnung zu vermieten war, und speicherte die Telefonnummer in mein Handy.