Eine Tasche war an mein Bett gelehnt. Ein Post-it klebte an ihr.
Hey, Sara, ich hab dummerweise vergessen, meiner Kommilitonin ihre Bücher wiederzugeben. Jetzt muss ich zum Zahnarzt. Könntest du sie ihr bitte vorbeibringen? Sie wohnt in der Franziusstraße 24! Vielen Dank! Anna.
Ich öffnete die Tasche. Darin war unter anderem ein Buch über Impressionismus. Ich sah prüfend auf die Uhr, dann hing ich mir die Tasche um, nahm Schlüssel, Handy und Portmonee an mich und verließ die WG wieder.
Die Sonne hatte sich vom Brennen aufs Lachen verlagert, die Vögel zwitscherten. Es war ein schöner Tag. Dennoch fehlte mir irgendetwas.
Auf einmal fühlte ich mich richtig leer. Paare liefen auf den Straßen und genossen den Sommer, ein ins Handy quatschender Typ lief sonnenbebrillt und lachend an mir vorbei, alle freuten sich des Lebens. Nur ich nicht. Dabei war es doch so schön. Mir fehlte etwas.
Ich hatte, bevor ich losgelatscht war, nicht auf den Stadtplan gesehen. Das erklärte auch, warum ich eine Art Déjà-vu hatte, als ich an der angegebenen Adresse ankam. Die Gegend kam mir nämlich äußerst bekannt vor. Ratlos stand ich vor dem Haus Franziusstraße 24 und versuchte, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Ich war noch nie eine gute Puzzlerin gewesen. Plötzlich ertönte über mir ein Geräusch. Ich zuckte zusammen und schaute nach oben. Ein Fenster schloss sich. Mir war, als hätte ich da oben eine Person gesehen, die ich kannte, jedenfalls waren die braunen Haare suspekt. Von irgendwoher hörte ich einen lauten Schrei und auf einmal hörte ich ein Lied. Ein Lied aus der Vergangenheit, und dann auch wieder nicht. Mit einem Mal fielen mir meine Riesentomaten von den Augen.
Tonight we drink to youth
And holding fast to truth
I don’t wanna lose what I had as a boy
My heart still has a beat
But love is now a feat
As common as a cold day in L.A.
Ich lief los, zwei Mal links, einfach eine Straße weiter, und in das Haus rein. Geradewegs auf den Probenraum zu.
Das Lied wurde noch bis zu Ende gespielt. Alle standen auf der Bühne. Und Lukas sang so intensiv wie noch nie. Während des Liedes stiegen mir fast die Tränen in die Augen. Aber die Genugtuung wollte ich Teilen der Musikanten nicht geben.
Als der Song zu Ende war, verließen alle den Raum.
Alle außer Kiki.
Sie ging auf mich zu. „Was soll das Ganze hier? Bin ich in einem billigen Film gelandet oder was? Und was willst du bitte von mir?“
„Dir erklären, dass das alles meine Schuld ist. Lukas hatte keine Ahnung, was ich vorhatte. Ich hab wieder Gefühle für ihn entwickelt und gehofft, dass es ihm genauso geht. Aber das stimmt nicht. Er liebt nur dich.“
„Ach ja? Und wieso sagt er mir das nicht selbst?“
„Schien nicht so, als würdest du das noch wollen.“ Sie zuckte die Schultern und packte ihr Instrument ein. „Ich hab alles gesagt, was ich sagen wollte.“ Und weg war sie. Ich hoffte stark darauf, sie nie wiedersehen zu müssen.
Eine Zeitlang stand ich hilflos im Raum herum. Dann kam Lukas herein.
Er sah mich an.
Ich sah ihn an.
„Hat sie mit dir gesprochen?“
Ich nickte.
„Glaubst du mir jetzt, dass ich nur dich liebe?“
Ich nickte wieder.
Und ganz langsam wurde mir klar, was mir gefehlt hatte.
Total aufgeregt saßen wir in der Kirche. Auf der einen Seite meine Familie, auf der anderen Seite Geros Familie. Es war wirklich interessant, so viele neue Gesichter zu sehen. Fasziniert stellte ich fest, dass Geros Mutter genauso aussah wie er. Sie hatte die ganze Zeit ein Taschentuch dabei, von dem sie auch oft Gebrauch machte. Darin ähnelte sie wiederum der Brautmutter sehr.
Heute Vormittag hatte die standesamtliche Hochzeit stattgefunden. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie ich als Grundschulkind dazu gezwungen wurde, einer anderen Familienhochzeit beizuwohnen. Damals hatte ich es sehr langweilig gefunden und irgendwann sogar begonnen, laut zu singen. Meine Mutter hatte mir schnell den Mund zugehalten.
Jetzt hingegen… ich freute mich unheimlich, an diesem Tag dabei zu sein und meine Schwester dabei zu begleiten, wie sie sich in ein neues Leben aufmachte. Und in einen neuen Nachnamen.
Und jetzt waren wir alle in der Kirche versammelt und warteten darauf, dass Lea in ihrem wunderschönen Brautkleid einlief. Meine Eltern, Oma, die Clique, Lukas und ich saßen ganz vorne. Ich war froh, nicht allein da zu sein.
Schließlich kam Lea. Sie sah so wunderschön aus, dass die Mütter jeweils noch ein paar Extratränen verdrückten.
„Gero, willst du Lea Maria…“
Ihr ganzer Vorname, der normalerweise nie erwähnt werden durfte. Ich konnte sehen, dass Lea ganz leicht die Augen verdrehte.
„…lieben und ehren, in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet?“
Glücklich lächelte der Angesprochene. „Ja, ich will.“
„Lea, willst du Gero lieben und ehren, in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet?“
„Ja, ich will.“ Jetzt war es an ihr, zu lächeln.
Die Ringe wurden ausgetauscht. „Falls irgendeiner der hier Anwesenden einen Grund weiß, weswegen diese Trauung nicht stattfinden sollte, so möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen.“
Natürlich hatte niemand einen Einwand. Obwohl ich deutlich sehen konnte, wie Mamas Wangen feucht glitzerten.
„Kraft des mir verliehenen Amtes“, rief der Pfarrer, „ernenne ich euch hiermit zu Mann und Frau. Du darfst die Braut jetzt küssen.“
Daraufhin folgte ein Kuss, wie ich ihn länger und schöner noch nie gesehen hatte. Alle applaudierten. Ich ganz besonders laut.
Nach der Trauung, als wir die Kirche bereits alle verlassen hatten, hieß es auf einmal: „Alle unverheirateten Frauen hierher!“ Es versammelten sich also Anna, Kati, diverse weibliche Wesen aus zwei nun verbundenen Familien und ich vor der Kirche. Mit großem Hallo warf Lea also den Strauß hinter sich. Ich betete, dass es nicht mich traf.
Vergebens. Alle applaudierten, Geros Tante kam auf mich zu und kniff mir in die Wangen mit den Worten: „Na, du bist also als Nächstes dran, was?“ Das konnte ich zwar nicht ausschließen, aber wenn, dann würde es noch sehr, sehr lange dauern. Und ich wusste genau, dass Lukas derselben Meinung war.
Laute Musik. Unmengen an Torte und Getränken. Ein großer Teil davon alkoholisch. Bunt durcheinandergemischt saßen die Gäste an den Tischen, unterhielten sich miteinander, tanzten oder wurden ihre ganz persönlichen Glückwünsche an das Brautpaar los. Auch ich ging irgendwann auf Lea und Gero zu.
„Ich wünsche euch beiden alles Gute! Lea, ich finde, du hast einen tollen Mann geheiratet“, sagte ich und umarmte meine Schwester. „Gero, ich finde es toll, dass du jetzt zu unserer Familie gehörst!“ „Ich auch“, antwortete mein frisch gebackener Schwager und lächelte Lea an.
Da wurde mir von hinten auf die Schulter getippt. Es war Freddy. „Hey, was gibt’s? Du siehst in deinem Anzug übrigens ziemlich umwerfend aus, wenn ich das mal so sagen darf!“
Freddy lächelte verlegen. „Oh, klar darfst du. Vielen Dank. Was ich fragen wollte: Hast du Anna gesehen? Ich wollte mit ihr noch was besprechen.“
Ich verneinte. „Aber wir können sie ja zusammen suchen. Vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei.“
Es dauerte einige Zeit, bis wir sie auf der hintersten Ecke der Tanzfläche fanden, Arm in Arm mit Kati.
„Hey, Anna! Ich, äh, wollte dir Aurélies Schlüssel zurückgeben.“
„Vielen Dank. Habt ihr Lust, kurz nach draußen zu gehen?“, fragte Anna. „Ich brauche frische Luft.“
Draußen wehte ein laues Lüftchen, die Sterne funkelten. Die Arme über einander gelegt, hockten wir auf einem Fenstersims und starrten in die Nacht.
Wir redeten nicht viel. Wenn man wirklich gut miteinander befreundet ist, muss man das auch nicht. In ihren Gedanken haben alle dasselbe und wissen genau, was der andere meint oder denkt.
„Ich finde es einfach toll, dass ihr euch gefunden habt“, meinte Freddy nach einer Weile.
„Meinst du wirklich?“
„Ja, wirklich. Bei euch sieht man sofort, dass was Tolles draus wird.“
Wortlos umarmten wir uns.
Da ich ein dringendes Bedürfnis verspürte, ging ich auf die Toilette. Eine Weile saß ich einfach nur in der Kabine, bis ich plötzlich von draußen Schmerzensschreie hörte. Ich schaute schnell nach, wer da war.