Eine halbe Ewigkeit später trat ein großer, älterer Mann im weißen Kittel aus der Tür. Gero sprang sofort auf und ließ mich damit fast auf den Nebenstuhl fallen. „Ist Lea wieder bei Bewusstsein? Wie geht es ihr? Nun sagen Sie schon!“
Ich spürte, wie mein Herz schlug. Der Arzt schüttelte ihn notdürftig ab und antwortete: „Die Patientin ist jetzt wieder bei Bewusstsein.“
„Geht es ihr gut? Was ist mit dem Baby?“, rief ich, nicht weniger alarmiert.
„Soweit wir das feststellen konnten, ist mit dem Kind alles in Ordnung. Es werden allerdings weitere Untersuchungen nötig sein“, erklärte der Arzt. „Sie dürfen jetzt zu ihr, allerdings bitte einzeln.“ Er ging davon.
Gero und ich sahen uns an.
„Möchtest du zuerst reingehen?“, fragte ich ihn.
„Ja, bitte.“
Ich wusste nicht, was ich denken sollte, als ich nun ohne Gero auf dem Flur saß. Ich winkelte meine Beine an und umschlang sie mit den Armen. Die Gedanken kamen und gingen im Halbsekundentakt, während irgendwelche namenlosen Ärzte und Krankenschwester über den Flur stratzten.
Heute Morgen war ich aufgekratzt gewesen vor Glück und jetzt war ich so niedergeschlagen, wie es nur ging. Die Angst um meine Schwester hatte mich krank gemacht, und der Umstand, dass plötzlich eine kleine Person aufgetaucht war, wirbelte die ganze Situation durcheinander. Und was würde unsere Familie nur sagen?
Mir lief es kalt den Rücken herunter. Die Familie! Sie würden nicht gerade vor Glück schreien, das war klar.
„Du bist doch selbst noch ein Kind!“
„Das war ja klar, dass du wieder nicht aufpassen konntest! Du und dein nichtsnutziger Freund!“
„Und woher wollt ihr das Geld dafür nehmen?“
So oder so ähnlich stellte ich mir die Reaktionen unserer Familie auf Leas Schwangerschaft vor. Wahrscheinlich würden unsere Eltern Lea aus dem Haus schmeißen und Oma würde sie enterben, sie würden ihr jegliche Unterstützung streichen, so malte ich es mir aus. Unsere Eltern wären nicht eben begeistert davon, mit Mitte 40 schon Großeltern zu werden, das wusste ich ganz genau.
Ich hasste dieses Warten, es machte mich krank! Immer wieder stierte ich zur verschlossenen Zimmertür. Was beredeten die da drin wohl gerade? Was dachte Lea gerade? Ich vermochte es nicht, es mir auszumalen.
Irgendwann ging die Tür auf und Gero kam heraus. „Lea möchte dich jetzt sprechen. Sag mir bitte Bescheid, wenn ihr fertig seid. Ich gehe mal in die Cafeteria.“ Und weg war er.
Auf wackligen Beinen ging ich ins Zimmer.
Meine große Schwester lag im Bett, mit ausgestrecktem linkem Arm, wegen der Infusion. Sie wirkte sehr blass und als ich neben dem Bett stand, merkte ich es: Sie weinte.
Wortlos nahm ich sie in den Arm und streichelte ihr den Rücken. Sie weinte wie ein Springbrunnen, bis das Licht orangefarben ins Zimmer scheinte.
Ich wusste gar nicht, was ich zuerst sagen sollte. Die ersten Worte, die mir dann über die Lippen kamen, waren: „Was hat er gesagt?“
„Wer?“, schniefte Lea.
„Dein Verlobter“, antwortete ich.
„Was meinst du?“, entgegnete Lea, zu Recht verwirrt.
„Er hat sich als dein Verlobter ausgegeben, damit er mitfahren durfte. Sonst hätten sie ihn doch nie im Leben mitkommen lassen.“
„Phh“, schnaubte Lea. „So verliebt hat er gerade aber nicht gewirkt. Die ganze Zeit rief er: ‚So ein Mist, was machen wir jetzt?‘ Und wollte nicht eine Sekunde wissen, was ich darüber denke. So ein Arsch!“ Wütend schmiss sie ihr Kissen mit dem unangezapften Arm an die Wand.
Wenn ich es bis jetzt noch nicht gewusst hätte, dann hätte ich spätestens jetzt gewusst, dass die Situation ernst war, denn nicht mal im schlimmsten Streit hatte Lea ihren Freund als Arsch bezeichnet.
„Was denkst du denn darüber?“, wollte ich von ihr wissen.
„Was ich darüber denke? Ich denke darüber, dass ich keine Ahnung habe, was ich machen soll, und ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll, dass ich nicht Diabetes habe, wie ich eigentlich dachte, oder ob ich mich ärgern soll, weil ich jetzt Mutter werde! So ein Mist, was machen wir jetzt? Ach, verdammt!“ Lea fing wieder an zu weinen.
Ich streichelte ihr über den Kopf.
„Und was werden erst Mama und Papa sagen? Die schmeißen mich doch aus dem Haus, wenn sie das erfahren!“, schluchzte sie.
„Das werden sie schon nicht tun. Das dürfen sie gar nicht!“, versuchte ich, sie zu trösten. „Als deine Eltern sind sie gesetzlich verpflichtet, dich zu unterstützen.“
„Selbst wenn…“ Lea wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Gero verlässt mich doch garantiert, solche Geschichten hört man doch immer wieder. Wieso sollte er denn jetzt noch bei mir bleiben? Er wirkte nicht gerade begeistert, als er gerade hier war.“
„Weil er dich liebt, zum Beispiel? So, wie er um dich besorgt war, gerade, wirkte er nicht, als wollte er dich fallen lassen. Also, wenn er dich nicht liebt, dann… weiß ich auch nicht. Denkst du wirklich, dass er dich wegen dieser Sache verlässt? Die fehlende Begeisterung kannst du ja wohl kaum zählen. Du weißt, dass die Situation ernst ist, und daran bist du ja wohl auch ein bisschen schuld.“
„Das weiß ich doch!“, fauchte Lea. „Es ist nur… Es kommt alles so schnell, von einer Sekunde auf die andere werden unsere Leben so schnell verändert und ich kann nichts dagegen tun…“
„Aber du kannst das Beste daraus machen“, fiel mir dazu nur ein. „Du und Gero, ihr werdet schon die richtige Entscheidung treffen.“
„Wenn du meinst… Du, bitte sei mir nicht böse, aber bitte geh jetzt, ich möchte irgendwie versuchen, es unseren Eltern beizubringen.“ Lea griff nach dem Hörer des Telefons, das neben dem Bett stand, ließ mich aber nicht aus den Augen.
„Na gut. Ich besuche dich morgen wieder.“ Ich umarmte meine große Schwester noch einmal kurz und schloss dann die Tür hinter mir.
Würde sie wirklich unsere Eltern anrufen oder nur in der Krankenschwesternstation anrufen und um ein Glas Wasser bitten? Ich wusste es nicht.
Auf dem Flur kam mir jemand entgegen. Es war Gero. Mir kam auf einmal diese Filmmusik in den Sinn, die Mundharmonika aus diesem einen Film, wie hieß der noch gleich? „Spiel mir das Lied vom Tod“, genau. Ich erinnerte mich an einen Augenblick vor ungefähr acht Jahren. Da musste ich elf oder zwölf gewesen sein, Opa hatte noch gelebt. Im Fernsehen hatte er sich diesen Film angesehen, und ich hatte währenddessen bei ihm auf dem Sofa gesessen und Hausaufgaben gemacht oder so. Der Film war erst ab sechzehn und als Mama das gemerkt hatte, wurde sie furchtbar böse. Ich schluckte.
„Du bist immer noch hier?“, sagte ich schließlich, als Gero und ich uns trafen.
„Ja. Wo sollte ich sonst auch hin? Wie geht es ihr jetzt?“
„So mittel“, antwortete ich. „Bitte sag mir Bescheid, ob sie unsere Eltern angerufen hat.“
„Mach ich, ich muss jetzt unbedingt zu ihr!“, rief er und eilte an mir vorbei.
Er hatte tatsächlich gewartet. Die ganzen Stunden, während Lea und ich im Zimmer gewesen waren, hatte er geduldig gewartet. Ich musste zugeben, dass mich das erstaunte. War das nun ein Zeichen seiner tiefen Liebe zu meiner Schwester? War das nun ein Zeichen dafür, dass er bei ihr bleiben und alle Widrigkeiten, die sie noch erwarteten, zusammen mit ihr durchstehen würde?
Ich verließ das riesige Krankenhaus.