„Guten Morgen!“
„Guten Morgen, Herr Nowitzki!“, antwortete der Kurs gelangweilt.
„Es tut mir Leid, ich hoffe, ihr musstet nicht weinen, weil ich später komme“, versuchte unser Deutschlehrer zu scherzen. Anna, die neben mir sitzt, verdrehte die Augen und raunte mir ins rechte Ohr: „Wahnsinnig witzig!“ Das brachte mich jetzt aber zum Lachen.
„Ich musste noch etwas wegen der Literatur-AG besprechen“, informierte er uns.
„Was denn. wird die neuerdings von der Bräuning geleitet?“, versetzte Anna. Die Bräuning war die neue Deutschreferendarin an unserer Schule und sah aus wie ein Supermodel. Zweifellos war sie seine Lieblingskollegin. Ich lachte.
„Was ist los, Sara?“, fragte Herr Nowitzki und grinste sein Alle-finden-mich-toll-Grinsen.
„Nichts, ich freue mich nur so, dass Sie da sind“, gab ich zurück und grinste ebenfalls.
„Das ist schön“, meinte er und begann mit seinem Unterricht.
Heute hatte er eine Kurzgeschichte über ein Mädchen in der Pubertät mitgebracht. Die hatte ein total unordentliches Zimmer, ließ ihre Freunde auf ihren Turnschuhen unterschreiben, trug laut des Ich-Erzählers viel zu kurze Miniröcke, dafür immer einen riesenlangen Schal und hörte ihre Musik so laut, dass man denken könnte, sie hätte bei sich eine Disko aufgemacht. Ich konnte nicht genau sagen, wieso, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, als wollte Herr Nowitzki sich mit dieser Kurzgeschichte an uns heranschmeißen.
Ich musste an meine Mutter denken. Wenn ich ihr diese Geschichte gezeigt hätte, hätte sie mit Sicherheit so etwas gesagt wie: „Wieso hat der Autor eine Geschichte über dich geschrieben?“ Ihr Standardspruch war, dass ich mein Zimmer auch Labor nennen könnte, weil ich dort ja Unmengen an biologischen Studien betreiben würde. Sie fand es eine Unsitte, dass meine Freundinnen auf meiner Schultasche unterschrieben hatten, nervte mich ständig damit, dass ich „meine Kapelle“ zu laut aufgedreht hätte, und meine Outfits gingen ja sowieso schon mal gar nicht. Hätte ich all die Gesundheitsschäden abbekommen, die meine Mutter mir deswegen angedroht hat, wäre ich schon tot.
Ich dachte nach. Hatte sie diesen ganzen Kram einfach satt? Wollte sie deswegen wieder als Ärztin arbeiten? Irgendwie konnte ich das verstehen. Es kam gelegentlich vor – na gut, es kam ständig vor, dass ich absolut keine Lust mehr auf mein Leben hatte und alles radikal ändern wollte. Wie oft hatte ich mir nach dem Realschulabschluss schon gewünscht, ich hätte nicht mit der Schule weitergemacht, sondern eine Ausbildung begonnen?
„Sara, du siehst zwar gut aus, aber bitte pass trotzdem auf“, unterbrach der Obercasanova meine Gedanken.
Und Sie sehen zwar gut aus, nerven aber trotzdem sehr. Ich habe wichtigere Probleme als diese dämliche Geschichte, dachte ich und tat ab jetzt so, als würde ich aufpassen.
Zu Hause kam ich mir irgendwie sehr unwirklich vor.
Es geschieht selten, dass wir alle gemeinsam zu Mittag essen, da Lea häufig bei Freunden ist, Oma ihr Mittagessen meistens alleine einnimmt und Papa meist lange arbeitet.
Doch an diesem Tag saßen alle da. Oma trug ein glückliches großmütterliches Grinsen im Gesicht, was für sie schon verdammt ungewöhnlich war. Papa trug einen merkwürdigen Strickpullover mit einem noch merkwürdigeren, mir gänzlich unbekannten Pullunder darüber. Mama grinste ebenfalls wie ein Honigkuchenpferd, tat Paul etwas von der Suppe auf und sagte dabei etwas zu ihm, was Paul zu einer unheimlich witzigen Bemerkung veranlasste. Alle lachten.
Ich kam mir vor wie in einem Werbespot. Ich wusste nicht, was diese unheimlich wirkende Harmonie erzeugt hatte, aber ich würde es herausfinden.
In diesem Moment bemerkte mich meine Familie.
„Hallo, Sara, setz dich!“, rief Lea fröhlich und wies mir den freien Platz neben ihr zu.
„Na, Sara, wie war’s in der Schule?“, wollte Mama wissen, als ich mich setzte.
„Wie immer“, antwortete ich. „Ich bin heute Morgen mit Lea hingefahren, habe sechs Stunden abgesessen, und dann bin ich mit dem Bus wieder nach Hause gefahren.“
Ach, du nun wieder, ließ Mamas Blick verlauten. Sie nahm einen Löffel von der Suppe.
„Wieso bist du eigentlich schon zu Hause?“, fragte ich Papa.
„Ich habe mir frei genommen“, entgegnete er. Komisch, das tat er äußerst selten.
Ich begutachtete den Inhalt meines Tellers. Blassbräunliche Suppe mit Nudeln drin. Wirkte irgendwie künstlich, wie aus einer dieser Tüten, die Lea immer benutzte, wenn sie mal kochen sollte.
Paul erzählte etwas über die Tiere, die sie heute in seinem Unterricht behandelt hatten. „So groß sind die!“, rief er und breitete seine kleinen Arme dabei voll aus.
„Aha“, machte Mama und goss sich noch etwas Suppe nach.
„Wollen wir heute zusammen in den Zoo gehen und uns die Vögel ansehen?“, schlug Oma vor.
Das verwunderte mich wirklich. Normalerweise beschränkte sich Omas Kontakt mit ihren Enkelkindern darauf, sie (also uns) zu bitten, den Fernseher leiser zu drehen, etwas im Haushalt zu tun oder zu wettern, wir würden alle noch von der Schule fliegen, wenn wir unsere schulischen Pflichten weiter so vernachlässigten.
„Au ja“, rief Paul begeistert.
Ich probierte etwas von der Suppe. Sie schmeckte merkwürdig.
„Äh, Mama?“, setzte Lea an. Ich kannte sie ziemlich gut und wusste daher: Sie will irgendwas von Mama.
„Wir wollen morgen von Deutsch aus ein Kurstreffen veranstalten. Können wir das bei uns im Keller machen?“
Oh, oh, das gibt Ärger, dachte ich. Die Erwachsenen, besonders Mama, hatten es nämlich überhaupt nicht gerne, wenn Lea hier etwas veranstalten wollte. Sie hatten Fantasien, dass alle mit einer Alkoholvergiftung enden oder mindestens alles vollkübeln würden.
„Aber natürlich, Lea! Um wieviel Uhr soll es losgehen?“
„Um acht. Boah, danke, Mama! Ich muss gleich alle anrufen und ihnen das erzählen.“ Meine Schwester hat viele Angewohnheiten. Dazu gehören das Liegenlassen von benutztem Geschirr im Zimmer, bis es total schimmlig ist, das laute (und falsche) Trällern der aktuellen Charts im Bad und das vorzeitige Verlassen des Esstisches.
Komischerweise blieb Lea jetzt bis zum Schluss sitzen, obwohl sie doch gerade jetzt einen Grund dafür gehabt hätte, ihrer Angewohnheit Nummer drei nachzugehen.
Ich schlürfte noch einen Löffel Suppe. Die schmeckte wirklich zu merkwürdig.
„Ich hab keinen Hunger mehr“, murmelte ich und verließ die Küche. Ich bekam noch mit, wie Paul fragte, ob er die übrig gebliebene Suppe essen dürfe, und ein „Ja, klar“ zur Antwort bekam. Warum wollte mich eigentlich niemand darauf hinweisen, dass ich mir einen Erdbeerjogurt mitgenommen hatte, obwohl ich doch angeblich keinen Hunger mehr hatte?
Ich ging in mein Zimmer. Ein Nachgeschmack der komischen künstlichen Suppe, so glaubte ich, hing noch auf meiner Zunge.
Während ich den Erdbeerjogurt löffelte, dachte ich über die gesamte Situation nach. Heute Morgen beim Frühstück hatten sich noch alle angeschwiegen. Das war nachvollziehbar, nach dem Stress gestern. Aber dann hatte Lea auf der Fahrt zur Schule so entschlossen gewirkt. Wieso nur? Was hatte sie vor? Und was war von der zur Schau gestellten Harmonie beim Mittagessen zu halten? Ich verstand das einfach nicht.
Hatte Lea Mama davon abbringen können, in das Angebot ihrer Freundin miteinzusteigen? Waren deswegen alle so friedlich? Anders konnte ich mir das nicht erklären. Und doch spürte ich, das es so einfach nicht sein konnte. Irgendwas musste noch kommen, von dem ich wusste, dass es nicht gut war. Da war ich ganz unruhig.
Im verzweifelten Versuch, mich von der Problematik abzulenken, machte ich sogar endlich mal wieder meine Hausaufgaben.