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Wo ist die Liebe hin?, Teil 1

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Vor einigen Jahren begann ich eine Reihe über eine junge Frau namens Sara und stellte die entstandenen Teile auf neon.de hoch. Da ich den Account vor einiger Zeit gelöscht habe, wird die Geschichte nach und nach hier zu lesen sein. “Wo ist die Liebe hin?” ist der zweite Teil der Reihe. Viel Spaß beim Lesen.

Da rein und da raus. Da rein und da raus. Immer und immer wieder. Es gibt wohl keine Altersgruppe, die diesen Spruch so verinnerlicht hat wie die Gruppe der Kinder und Jugendlichen. Wie oft steht man als Kind oder auch Jugendlicher irgendwo herum und muss sich von den Eltern anmeckern lassen? Die einzige Möglichkeit, die man dann noch hat, ist, die Ohren auf „Da-rein-und-da-raus“ zu stellen. In ein Ohr gehen die elterlichen Ermahnungen herein, zum anderen gehen sie wieder heraus. Und der Nachwuchs denkt: Mich geht das alles nichts an.

So was hatte ich neulich auch. Und ich bin nicht die Einzige aus meiner Familie, die so etwas erleben muss. Meine Schwester Lea lebt immer noch bei uns, obwohl sie schon zwanzig ist und mittlerweile studiert. Sie muss sich von unseren Eltern und unserer Oma so einiges anhören. Ich auch. Vielleicht kommt es mir nur so vor, aber ich habe den Eindruck, als würden sie unseren siebenjährigen Bruder Paul verschonen.

Jedenfalls saß ich neulich in meinem Zimmer und wollte auf keinen Fall gestört werden. Ich musste nämlich für mein Abitur lernen. Die erste Prüfung fand schon in zwei Tagen statt, also war es richtig eng. Gott sei Dank hatte ich rechtzeitig angefangen. Ich hatte schon von Kollegen gehört, die gestern erst angefangen hatten. Die lernten einfach die Nächte durch, dann würde es gehen. Sagten sie.

Ich dagegen nahm das Lernen fürs Abitur ernst. Jeden Tag hatte ich mich mindestens eine Stunde an den ganzen Stoff gesetzt. An diesem Tag, von dem ich jetzt erzählen will, saß ich bereits so lange lernend am Schreibtisch, dass ich im Lernstoff richtig versunken war.

Ich saß gerade an der Fotosynthese. Ein ätzendes Thema. Wie sollte ich das jemals verstehen? Ich hatte nur noch wenige Tage, um das hinzukriegen. Die Zeit war knapp.

Moment! Mir ging grade ein gewaltiges Licht auf! Es müsste doch so sein, dass –

„Sara! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du den Müll rausbringen sollst? Und die Küche hast du auch noch nicht aufgeräumt! Und im Bad stapelt sich deine dreckige Wäsche! Muss ich dir eigentlich alles tausendmal sagen? Immer muss ich alles hinter euch herräumen! Ich hab’s ja auch noch nicht schwer genug in meinem Beruf!“

Ich war stockwütend. Wozu klebte ich eigentlich ein Bitte-nicht-stören-Schild an meine Zimmertür, wenn es sowieso ignoriert wurde? Wieso kümmerte sich keiner darum, dass ich kurz vor meinen Abiturprüfungen stand und lernen musste?

Wie eine Furie hetzte ich durch die Wohnung und erledigte alles so schnell wie möglich, nur damit ich vielleicht mal in Ruhe gelassen wurde.

Das Letzte, was ich machte, war, die Küche aufzuräumen. Ich knallte das Besteck in die Schubladen, als wäre es an meiner Wut schuld.

Das Verhalten meiner Familie war verdammt kontraproduktiv. Wie oft sagten sie mir, dass ich lernen müsse, um einen guten Schnitt zu erreichen? Und als Nächstes hinderten sie mich am Lernen. So ein Mist!

Mit Schmackes warf ich ein Messer in die Schublade. Da kamen meine Mutter und meine Oma in die Küche.

„Kind! Sei etwas vorsichtiger mit dem Besteck!“, meckerte Oma.

„Wir wollen das Besteck auch noch ein bisschen länger behalten!“, pflichtete Mama bei.

Da war das Maß voll. Erst hinderten sie mich am Abi-Lernen und dann traten sie auch noch nach. Wäre ich eine Comicfigur gewesen, hätte mein Kopf jetzt die Farbe von Tomaten angenommen, Dampf über die Ohren abgegeben und ein Geräusch abgesondert, als würde das Wasser in einem Teekessel sieden.

Gut, dass ich sowieso fertig war. Ich knallte die Schublade so laut zu, dass man es bestimmt noch in Leas Zimmer hörte.

„Sara!“, rief meine Mutter, wahrscheinlich, um erzieherische Strenge vor meiner Oma zu demonstrieren, von der sie nicht besonders gemocht wurde.

Nun rief ich es ihnen ins Gesicht. „Nein! Lasst mich bitte in Ruhe! Ich muss für mein Abitur lernen und bitte darum, nicht gestört zu werden!“

„Junge Dame!“, rief nun meine Oma. Diesen Ausdruck konnte ich gar nicht leiden. Er klang in meinen Ohren viel zu autoritär.

„Du hast in diesem Haus Pflichten zu erledigen!“

„Meine oberste Pflicht ist es doch, ein gutes Abitur zu schaffen. Habt ihr doch beim Mittagessen erst gesagt“, hielt ich ihnen vor, während ich auf der Treppe stand und sie anschaute.

Worauf meine Mutter nur entgegnete: „Nun werd nicht noch frech!“

Noch so ein toller Elternsatz. Einfalls- und verständnislos.

Ich wurde noch wütender. Der Geduldsfaden riss mir endgültig, als erst Lea vorbei lief und mich fragte, wann ich ihr denn endlich den Pullover zurückgab, den sie in Wahrheit schon vor drei Wochen zurückbekommen hatte, und dann Paul mit einem Schulfreund das Haus betrat und auf meine Jacke trampelte, die nun ein dicker fetter Schuhabdruck zierte.

„Ahhh! Das ist ja nicht zum Aushalten!“ Ich stiefelte wie Rumpelstilzchen in mein Zimmer, packte alles Nötige in meine Tasche und rannte zur Haustür.

„Sara! Du bleibst noch hier! Du hast noch längst nicht alles erledigt!“

„Ich weiß!“, fauchte ich und knallte die Tür zu. Ich hörte noch einige Wortfetzen von meinen Geschwistern: „Was hat die denn?“

„Darf Sara jetzt weggehen?“

„Nein, eigentlich nicht“, sagte meine Mutter zu meinem jüngeren Bruder.

Unterwegs dachte ich nach. Im Grunde hatte Mama sich nicht wirklich verändert, seit sie vor knapp einem Jahr wieder angefangen hatte, zu arbeiten. Sie wirkte noch abgespannter, wenn sie nach zehn Stunden in der Praxis nach Hause kam, aber das war auch schon alles.

Ich kam an der Straßenbahnhaltestelle an und stieg in die Bahn ein. Mein Ziel war meine beste Freundin Anna. Bei ihr konnte ich bestimmt in Ruhe das Gelernte wiederholen.

Drei Stationen fuhr ich, dann war ich da. Praktischerweise wohnte sie direkt gegenüber der Haltestelle. Ich drückte auf die Klingel.

„Hey, das ist ja ’ne Überraschung!“ Anna umarmte mich zur Begrüßung, dann forderte sie mich freundlich auf, doch hereinzukommen und nahm in ihrem Zimmer auf einem orangefarbenen aufblasbaren Sessel Platz.

„Es ist ja schon lange nicht mehr vorgekommen, dass du so unangemeldet bei mir vorbeischneist. Was ist denn passiert?“

Nun setzte ich mich auch hin, auf ihren Schreibtischstuhl im Stil der 60er-Jahre. Wieso hatte ich mir nicht auch so einen Stuhl besorgt?

Ich schilderte ihr meine häusliche Lage. „Es ist total ätzend! Heute wollte ich einfach nur in Ruhe für die Prüfungen lernen. Ich saß gerade an der Fotosynthese und du weißt ja, Bio kann ich überhaupt nicht. Ich war gerade dabei, es zu kapieren, als meine Mutter ins Zimmer kam und mich angemeckert hat, dass ich nichts mehr für den Haushalt tue. Dabei hatte ich doch extra ein Schild an die Tür gehängt: Bitte nicht stören. Und als ich ihr das gesagt habe, ist sie ausgeflippt. Was kann ich eigentlich dafür, dass sie so einen Stress im Beruf hat? Hat sie ja keiner zu gezwungen!“ Ich holte tief Luft.

„Meine Güte, das ist ja ganz schön heftig“, stöhnte Anna. In diesem Augenblick ertönte von nebenan lautes Kindergeschrei. Über einige Minuten lang wollte es nicht mehr aufhören.

„Na toll“, entfuhr es mir. Anna hatte das gehört. „Was wolltest du hier denn tun? Etwa lernen?“, fragte sie.

„Na ja, weißt du…“

„Tut mir Leid, aber ich fürchte, das kannst du voll vergessen. Ich schaff’s ja selber nicht mehr, seit die Nachbarn“ – sie nickte mit dem Kopf Richtung Wand – „ihr Baby haben.“ Anna schnitt eine Grimasse. „Immerhin haben dadurch andere Geräusche aufgehört.“ Ich wusste genau, was sie meinte, und schnitt ebenfalls eine Grimasse.

„Das ist echt dämlich, ich weiß.“ Mit ihrer linken Hand haute sie auf die Sessellehne. „Ich frage mich auch schon: Kann man denn nirgendwo in Ruhe lernen?“

Seufzend antwortete ich: „Ich habe leider auch keine Ahnung.“

Doch da kam mir eine Idee.

Ich stand auf. „Komm mit, ich weiß, wo wir hinkönnten.“ Anna schaute verwundert drein, packte aber ihre Lernsachen und folgte mir.

Zum letzten Mal minderjährig, Teil 1

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Vor einigen Jahren begann ich eine Reihe über eine junge Frau namens Sara und stellte die entstandenen Teile auf neon.de hoch. Ich habe meinen dortigen Account gestern löschen lassen und werde die Sara-Geschichten jetzt im Blog präsentieren, in der Hoffnung, dass sie jemandem gefallen. Viel Spaß beim Lesen.

Alles fing damit an, dass meine Mutter wieder anfangen wollte zu arbeiten. Doch vielleicht sollte ich erst einmal unsere Familie vorstellen. Da wären meine Oma, meine Eltern, meine beiden Geschwister – und ich.

Meine Schwester heißt Lea und ist nur anderthalb Jahre älter als ich. Sie hat jetzt ihr Abitur und ständig musste sie sich von irgendwem anhören: „Wie willst du das nur schaffen?“ Meistens von meinen Eltern. Manchmal denke ich, sie verwenden ihre ganze Zeit dafür, zumindest solange sie nicht arbeiten. Mein Vater ist Anwalt, meine Mutter Ärztin. Als mein Bruder geboren wurde, hat sie aufgehört, zu arbeiten. Aber darauf komme ich später noch.

Genau, mein Bruder! Er heißt Paul und ist sieben Jahre alt. Seit Sommer letzten Jahres geht er zur Schule und ist total stolz auf alles, was er lernt. Ich glaube, am liebsten würde er bei jedem neuen Buchstaben und bei jeder neuen richtigen Rechenaufgabe laut rufen: „Siehst du, ich bin besser wie du!“ Diesen Sprachfehler macht Paul ständig. Oft korrigiert ihn dann Oma, die seit Opas Tod vor fünf Jahren bei uns wohnt.

Ich bin auch froh, wenn ich den Schulstoff korrekt behalte und wiedergeben kann. Das liegt allerdings nicht daran, dass ich damit angeben möchte, oh nein. Ich freue mich einfach, dass ich so schwere Sachen kann. Ein Berg an Wissen, der sich anscheinend jeden Tag quadratisch vermehrt. Und wehe, ich behalte nicht alles richtig. Dann trifft mich auch schon mal der Satz, den sonst nur Lea zu hören kriegt. Ich bin achtzehn und mache nächstes Jahr mein Abitur, da ist das schon ziemlich wichtig.

Und eines schönen Tages saßen wir alle am Frühstückstisch, als Mama mit der sensationellen Neuigkeit herausrückte.

Eine Freundin von ihr wolle eine Arztpraxis aufmachen und sie könne mit einsteigen. Zunächst blieben wir ruhig sitzen. Papa und Oma nickten und brummten so etwas wie „Aha“, ich nahm mir eine weitere Toastscheibe und belegte sie mit Käse, Lea trank einen Schluck Milch.

„Und ich finde das eine ausgezeichnete Idee. Am liebsten würde ich sofort einsteigen. Was meint ihr dazu?“

Einen Moment lang guckten wir uns entgeistert an, dann redeten alle durcheinander. Kaum ein Wort war zu verstehen, doch eines war klar: Niemand war total begeistert.

„Wer macht dann den Haushalt?“, fragte Lea alarmiert.

„Kannst du dann nicht mehr mit mir spielen?“, wollte Paul ängstlich wissen.

„Aber ich verdiene doch genug Geld für uns beide!“, entgegnete Papa. Woraufhin Mama ziemlich wütend guckte. Als Oma dann auch noch meinte, dass sie lieber auf die Kinder aufpassen sollte, pfefferte sie ihr Brötchen aufs Brettchen, rief beleidigt: „Also, ich hätte von euch ein bisschen mehr Unterstützung erwartet!“ und verließ die Küche. Ich nehme an, sie ging zum Telefon.

Alles, was mir dazu einfiel, war: Oh Mann. Ich wusste gar nicht, was ich von den Plänen meiner Mutter halten sollte. Später saßen Lea und ich zusammen in meinem Zimmer und quatschten.

„Wie findest du es, dass Mama wieder arbeiten will?“, fragte sie.

„Hmm… weiß nicht“, antwortete ich und starrte an die Decke.

„Also, ich finde es überhaupt nicht gut“, rief Lea und haute zur Bekräftigung mit ihrer Handkante aufs Bett. „Wenn sie nicht da ist, wird Paul uns die ganze Zeit nerven und außerdem bleibt dann die ganze Hausarbeit an uns hängen.“

„Naja“, warf ich ein, „immerhin wäre dann eine Person weniger da, die die ganze Zeit auf uns aufpasst und an uns herummeckert. Und Paul ist doch eh ständig bei seinen Kumpels.“

„Sag bloß, du findest es gut, dass Mama wieder arbeiten will?“ Lea sprang auf und rannte auf und ab.

„Mir gefällt das jedenfalls überhaupt nicht. Und ich werde sie irgendwie davon abbringen. Ich weiß noch nicht, wie, aber irgendwas wird mir schon einfallen!“ Mit diesen Worten rauschte sie aus meinem Zimmer.

Oh Hilfe, was hatte sie bloß vor? Ich kannte meine Schwester. Wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hatte, konnte sie nichts davon abbringen, ihr Ziel zu erreichen.

Abends kam Paul zu mir. Er trug bereits seinen Schlafanzug mit den Rennautos und hatte seinen Teddy in der Hand.

„Sara?“

„Ja, was ist denn?“

„Wenn Mama wieder arbeitet, dann kann doch niemand mehr mit mir spielen! Ich will, dass Mama hier bleibt!“

„Mach dir keine Sorgen, Kleiner!“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Es sind genug Leute da, die mit dir spielen können. Oma, Lea, ich, der Niklas aus deiner Schule…“

„Aber keiner kann mit mir so spielen wie Mama! Und sie kümmert sich immer um mich. Wer macht mir mein Lieblingsessen, wenn Mama weg ist? Nur sie kriegt das hin!“

„Weißt du, Mama –“, begann ich, wurde aber von Mama unterbrochen, die plötzlich in der Tür stand und fragte: „Wieso bist du noch nicht im Bett, Paul?“

Sie sah sehr betrübt und nachdenklich aus.

„Komm, Paul!“ Sie nahm die Hand, in der nicht der Teddy war, und ging mit ihm aus dem Zimmer. Ich hörte noch, wie Paul fragte: „Liest du mir die Geschichte mit den Dinosauriern vor?“ Und Mama erwiderte: „Aber natürlich!“

Ich war fast froh, als ich zur Schule musste. Beim Frühstück war außer „Holst du die Zeitung aus dem Briefkasten?“ so gut wie kein Wort zu hören. Das ist sonst immer ganz anders, da diskutieren wir über irgendwas und die Eltern wollen wissen, was die Kinder so vorhaben und wann sie aus der Schule kommen. Doch an diesem Tag hatte Papa Paul lediglich gebeten, die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen.

Oh fantastisch. Mir gefiel die Stimmung beim Frühstück überhaupt nicht und ich spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. So konnte es nicht weitergehen.

Als Lea und ich ins Auto stiegen, um zur Schule zu fahren, sagte ich ihr das ganz genau so. Sie meinte: „Ganz recht, so kann das nicht weitergehen.“ Dabei hatte sie einen entschlossenen Gesichtsausdruck, so, als wüsste sie ganz genau, was sie tun würde. Und wieder fragte ich mich, was sie nur vorhatte.

Am Schwarzen Brett traf ich auf meine beste Freundin Anna.

„Hi, Sara, du siehst ja müde aus!“, begrüßte sie mich.

„Vielen Dank“, muffelte ich, „eigentlich hatte ich eine andere Begrüßung erwartet!“

„Hey, was ist denn los?“

„Ach, Probleme zu Hause. Mama will wieder arbeiten, deswegen schieben alle total Stress.“

„Und was meinst du dazu?“, erkundigte sich Anna.

„Keine Ahnung“, antwortete ich und musterte nachdenklich den Aushang zu den Schulschachmeisterschaften. „Irgendwie bin ich weder dafür noch dagegen.“

„Bestimmt ist deine Mum relaxter, wenn sie wieder arbeitet. Immer nur zu Hause herumzuhocken, hat ihr auf Dauer wohl nicht mehr gereicht. Da wollte sie halt wieder anfangen.“

Das konnte ich mir gut vorstellen. Nach so vielen Jahren Haushalt und Babysitter-Spielen hätte ich wohl auch keine Lust mehr auf mein altes Leben. Ich würde etwas ändern wollen.

„Also, ich kann meine Mutter ja verstehen“, erklärte ich Anna, während wir zum Kursraum gingen. „Das eigentlich Ätzende sind die anderen aus der Familie. Besonders meine Schwester. Ich glaube, sie hat irgendwas vor.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Keine Ahnung“, sagte ich und stieß die Tür zu unserem Kursraum auf.

„Du solltest dir nicht so viele Sorgen machen. Die beruhigen sich schon wieder, bestimmt müssen sie sich erst mal an den Gedanken gewöhnen.“ Sie setzte sich auf ihren Platz in der vorletzten Reihe.

Apropos gewöhnen, dachte ich. Da saß eine Neue bei uns in der Klasse. Komisch, war uns gar nicht angekündigt worden. Sie trug eine schwarze Franzosenmütze, eine Jeansjacke und ein rot-weiß geringeltes Shirt, außerde, starkes Make-up.

Ich ging zu Anna. „Du, sag mal, kennst du die da vorne?“

Plötzlich bekam Anna einen unkontrollierten Lachanfall. Sie konnte sich gar nicht wieder einkriegen. Schließlich antwortete sie keuchend: „Das ist doch Aurélie!“

Was, das sollte unsere gemeinsame Freundin sein? ich konnte das gar nicht glauben, so verändert sah sie aus.

Anna erläuterte: „Neulich hat sie herausgefunden, dass sie zu einem Achtel Französin ist. Und das hat sie dazu veranlasst, mal eben ihren gesamten Typ zu verändern.“

Da kam Aurélie auch schon auf uns zu. „Bonjour, mes copines! Comment ca va?“ Jetzt lachte sie auf ihre typische Art.

Anna und ich tauschten einen Blick. Oh Mann, dachte ich.

„Äh, hi, Aurélie, bei mir ist eigentlich alles in Ordnung. Was, ähm, hat dich denn dazu veranlasst, deinen Typ derartig zu verändern?“, fragte ich.

„Meine Uroma kam aus Frankreich“, erzählte Aurélie. „Ich habe es herausgefunden, als ich über meinen Stammbaum geforscht habe. Ahnenforschung ist ja so spannend…“

„Ja, ja, da hast du wohl Recht“, rief Anna mit hochgezogenen Augenbrauen, während sie ihre Deutschsachen auspackte. Ich wusste genau, was das bedeutete. Sie schien dasselbe über Aurélies Typwechsel zu denken wie ich. Oh Mann.

„Verstehe. Und da überkam dich einfach der Wunsch, dich so… äh… stark zu verändern“, bemerkte ich und starrte auf die Tafel, auf die irgendwelche Fruchtzwerge aus der Fünften gekritzelt hatten, wer nun alles doof ist.

„Ja, ich wollte mich einfach ein bisschen von meinen Vorfahren inspirieren lassen“, sagte Aurélie und lachte wieder.

Mittlerweile waren fast alle in der Klasse, wir warteten eigentlich nur noch auf unseren Deutschlehrer, Herrn Nowitzki. Er war mindestens so groß wie sein berühmter Basketball spielender Namensvetter und auch so athletisch gebaut, insgesamt sah er ziemlich gut aus und er war noch sehr jung. Deswegen rechnete ich mir aus, dass er noch mit irgendeiner Referendarin flirtete.

Aber eigentlich war es mir ganz recht, dass er noch nicht da war. Wie bereits erwähnt, war er noch ziemlich jung, er kam eigentlich gerade aus dem Studium. Und wie alle modernen Lehrer versuchte Herr Nowitzki, seinen Unterricht besonders pädagogisch wertvoll zu gestalten.

Ich packte mein Deutschbuch, meinen Block, mein Etui und eine kleine Dose Geleebohnen aus. Dann lehnte ich mich zurück, packte die Beine auf den Tisch und aß die Geleebohnen. Anna und Aurélie bekamen je zwei ab.

Fünf Minuten später betrat Herr Nowitzki die Klasse.