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Schlagwort-Archive: Palästinensertuch

Krümelmonster, Teil 29

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Der Mann stand vor mir. Im entfernten Licht der Straßenlaterne enthüllte sich mir endlich seine Identität. Lukas. Er hatte mich gesucht.

„Was ist passiert?“, fragte er erschrocken.

„Ich bin gestürzt. Diese doofen Schuhe“, schniefte ich und wischte mir über das Gesicht. Mit dem Erfolg, dass ich Make-up in den Händen hatte. Na super.

„Kannst du aufstehen?“

„Ich glaube nicht“, sagte ich. Lukas nahm mich unter den Schultern und hob mich hoch. „Du solltest jetzt nicht dein rechtes Bein belasten“, riet er mir. „Hier hast du ein Taschentuch.“ Er gab es mir und hob meinen rechten Schuh auf. Kritisch musterte er ihn. „Ich hab sowieso nie verstanden, warum Frauen so etwas tragen.“

„Weil sie gut aussehen wollen. Für die Männer zum Beispiel.“

„Und du hast dir ganz viel Mühe gegeben.“

„Wie kommst du darauf?“ Ich schnäuzte mich laut ins Taschentuch.

„Na ja, du trägst solche Schuhe, obwohl sie brandgefährlich sind, du hast ein aufwändiges Make-up und beim Frisör warst du wohl auch.“

„Ja, und es war alles umsonst! Du willst mich ja gar nicht mehr haben.“

Jetzt war er damit dran, zu fragen: „Wie kommst du darauf?“

„Du hast mich einfach weggeschickt!“

„Aber doch nur, weil das Konzert anfing.“ Er streichelte mir über die Schulter. „Glaub mir, wenn wir einen Termin nicht punktgenau einhalten, können die aus der Band ganz schön stinkig werden. Besonders Tobias.“ Ich zitterte. Und das lag immer noch nicht an der Kälte. „Aber es war nicht nur, weil du mich weggeschickt hast. Ich habe mich dir gegenüber so fies verhalten. Da konntest du ja gar nichts mehr von mir wollen. Es muss wirklich so ausgesehen haben, als wollte ich nur Hannes und nicht dich. Aber das stimmt nicht“, sagte ich.

„Meinst du das wirklich ernst?“

Ich war mindestens so aufgeregt wie bei der Notenvergabe fürs Abitur. „Ja“, flüsterte ich. Und ich zitterte weiter fürchterlich.

„Wird dir kalt?“

„Ich glaube schon…“

Lukas zog sein Sakko aus und legte es mir um die Schultern. „Besser?“

„Darf ich dich was fragen?“

„Das hast du hiermit schon getan“, antwortete ich schief grinsend.

Lukas grinste zurück. „Warum bist du einfach weggelaufen?“

„Weil du dieses doofe Lied gespielt hast.“ Ich sah auf den Boden. „Mit einem noch blöderen Text.“

„Das hat sich Kati für dich gewünscht.“

„Wie, sie war das?“

„Nein“, erklärte er, „eigentlich wollte sie nur, dass ich dir sage, was ich wirklich für dich empfinde. Ich habe dir in die Augen gesehen, als ich es dir… na ja… gesagt habe.“

„Ja? Aber was wolltest du mir damit sagen?“, stotterte ich. Er beugte sich vor und flüsterte mir etwas ins Ohr. Was sagte er da?

„Ich liebe dich.“

Jetzt konnte ich nicht mehr anders, ich musste ihn küssen. Mehrere Minuten standen wir da und küssten uns, unsere Lippen und unsere Zungen berührten sich, und ich strich leicht durch seine Haare.

Eine halbe Ewigkeit später humpelte ich an seiner Seite zurück zum Ball. „Weißt du, was mir aufgefallen ist?“, fragte Lukas.

„Was denn?“

„Na ja, das Tuch, das ich umhatte… Es roch nach dir.“

„Ach, ich hab es doch mit zu mir genommen, als du es bei dem Auftritt vergessen hast.“

„Ich hatte es danach die ganze Nacht bei mir“, verriet Lukas mir.

„Ach, du bist süß“, rief ich und küsste ihn gleich noch mal.

„Ja“, rief auf einmal jemand ganz laut. Verwundert lösten wir uns voneinander – und da liefen nacheinander Aurélie, Anna, Kati und Tobias auf uns zu.

„Mensch, Sara, wieso bist du denn gerade einfach weggelaufen? Es tut mir wirklich Leid, dass ich so doof zu dir war. Ich hab jetzt auch gemerkt, warum du so abgelenkt warst“, lachte sie.

„Ja, der Grund steht neben mir“, antwortete ich. Wir lächelten uns an.

„Aber jetzt komm endlich rein! Wir müssen tanzen!“, befahl Anna und zog an meiner freien Hand. „Hey, vorsichtig! Sie ist gerade gestürzt, sie kann jetzt noch nicht so schnell laufen“, rief Lukas.

„Aber warum ist denn dein Make-up so im Eimer? Komm mit, ich helf dir, es aufzufrischen.“ Jetzt wollte Kati mich zurück ins Unigebäude ziehen.

„Hey, nicht so schnell!“, versuchte ich, sie zu beruhigen. „Das Make-up ist gerade echt nicht so wichtig.“
„Na klar“, lachte Kati. „Na dann, bis gleich, ihr Turteltauben!“

„Nix da ‚bis gleich‘!“, meldete sich da Tobias lautstark zu Wort. „Wir müssen jetzt wieder anfangen, zu spielen! Die Leute warten schon!“

„Tobi?“

„Ja?“

„Du singst doch drei der Lieder. Können wir die nicht einfach vorziehen?“

„Na gut. Aber nur ausnahmsweise.“ Skeptisch sah er uns an und verzog sich dann auf seinen Platz auf der Bühne.

Die Band fing unter dem tosenden Applaus der Gäste wieder an zu spielen. Anna tanzte mit dem Unbekannten, Aurélie mit Freddy, und ich tanzte mit Lukas. Ganz vorsichtig natürlich, aber es klappte wieder. Wir machten sowieso hauptsächlich Engtanz. Und es gefiel mir unheimlich gut. Wir hatten nur Augen füreinander, auch, als er nach drei Liedern auf die Bühne zurückmusste.

Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass Hannes uns beobachtet hatte. Er wollte auf mich zugehen, doch kurz, bevor er mich hatte, schnappte Kati ihn sich einfach und wirbelte ihn herum. Ich lachte, sie lachte zurück und zeigte mir das Peace-Zeichen.

Die nächsten Tage konnten Lukas und ich nicht voneinander lassen. Ich war richtig traurig, als wir uns am 24. Dezember gegen Mittag verabschiedeten, weil wir getrennt voneinander Weihnachten feierten. Jeder bei seinen Eltern.

„Sei nicht traurig“, tröstete Lukas mich, „in drei Tagen sehen wir uns doch schon wieder.“

„Ja, das ist wahr. Treffen wir uns hier am Bahnhof?“
„Ja, ich hole dich vom Zug ab. Bis dann, Sara, ich glaube, mein Zug fährt gerade ein.“

„Bis dann!“ Nach einem dicken Abschiedskuss musste ich ihn gehen lassen und steuerte mein Gleis an.

Als ich zu Hause ankam, steckten alle schon in den Vorbereitungen für den Kirchbesuch. Oma war katholisch, aber sie hatte es weitgehend aufgegeben, uns in die Kirche zu zerren. Bis auf Heiligabend, da mussten wir alle los. Da gab es keinen Weg dran vorbei. Normalerweise finde ich das ziemlich nervig und schimpfe mindestens genauso darüber wie mein kleiner Bruder Paul. Doch an diesem Abend brachte ich alles ganz fröhlich hinter mich.

Nach dem Kirchbesuch gab es die Geschenke. Alle freuten sich riesig über das, was ich ihnen gekauft hatte. Papa fand, das Bild würde prima in seine Kanzlei passen. Oma freute sich über die Malsachen, Paul über das Spielzeugauto, Mama über das Buch und Lea und Gero freuten sich über die Babysachen.

„Du hast noch keins von deinen Geschenken aufgemacht“, rief Paul.

„Stimmt.“ Wieso eigentlich nicht? Ein Paket nach dem anderen wurde von mir geöffnet. Oma schenkte mir einen schicken Terminkalender („Damit du deine Uni nicht vergisst!“), von meinen Eltern bekam ich einen schön warmen Pullover, Lea schenkte mir eine CD und Paul übergab mir ein selbst gemaltes Bild. Es sah wunderschön aus.

Später am Abend saßen wir alle noch bei einem Glas Wein, oder in Leas und Pauls Fall Mineralwasser, und Weihnachtsliedern beisammen und unterhielten uns.

„Ich habe euch neutrale Babysachen gekauft, weil ich nicht wusste, ob ihr einen Jungen oder ein Mädchen kriegt“, sagte ich.

„Das ist voll in Ordnung“, meinte Gero. Und Paul wollte natürlich wissen: „Was ist es denn jetzt? Hoffentlich bekommt ihr einen Jungen!“

„Paul, du musst jetzt langsam ins Bett. Es ist schon viel zu spät“, ermahnte Mama ihn und wollte mit ihm nach oben in sein Zimmer gehen.

„Ich bin doch kein kleines Baby mehr“, meckerte er.

„Einmal darf er doch länger aufbleiben, oder? Schließlich wird er nicht alle Tage Onkel“, bestimmte Papa. Worauf Paul sich wieder setzen durfte.

„Also“, begann Lea, „wir haben vor zwei Wochen einen Test beim Arzt gemacht und der hat uns das Geschlecht des Babys verraten.“ Sie sah ihn an. „Willst du oder soll ich?“

„Du kannst.“

„Also, es wird ein Mädchen!“

Alle freuten sich. Bis auf Paul, der schmollte ein bisschen. „Hurra, es wird ein Mädchen!“, freute sich Mama und wir freuten uns mit ihr.

„Wir wissen auch schon, wie es heißen soll und wer Patentante wird!“, rief Gero.

„Ja, wie denn? Wer denn?“, erkundigte ich mich neugierig.

„Na ja, eigentlich haben wir uns überlegt, dass du die Patentante wirst und dass wir das Kind nach dir benennen“, verriet Gero.

„Oh mein Gott“, rief ich. Auf einmal wurde mir ganz blümerant. Ich merkte nur noch, wie meine Schwester rief: „Sara? Oh nein, nicht schon wieder!“ und vom Sofa ganz schnell zu mir stürzte.

Krümelmonster, Teil 25

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Ich fühlte mich irgendwie besser. Normalerweise bin ich morgens immer ziemlich müde, doch an diesem Tag erledigte ich selbst das Zähneputzen voller Energie und durch den Schnee, der mittlerweile wieder zentimeterdick über Frankfurts Straßen lag, ging ich zielstrebig zur S-Bahn.

An diesem Morgen erwartete alle Studenten eine Veranstaltung mit allen Kandidaten zur Studentenparlamentswahl (doofes Wort). Dort würden sie sich vorstellen und uns versuchen, davon zu überzeugen, dass wir sie wählen sollten. Naja, wieso auch nicht, wenn deswegen die Staatsphilosophievorlesung flachfiel.

Im Audimax saßen schon alle meine Freunde sowie meine Schwester mit ihrem Freund. Lea streichelte mal wieder über ihren Bauch, während sie mit Gero sprach. Freddy redete mit Aurélie, und neben Anna war noch ein Platz frei. Sie trug einen Riesenschal, wahrscheinlich von ihrer Oma.

„Morgen, Leute.“ Ich pflanzte mich auf die hässlichfarbene Sitzschale. „Na, was habt ihr am Wochenende gemacht?“

„Freddy und ich waren im Kino“, berichtete Aurélie. „Shutter Island. Der war vielleicht gruselig… oh Mann!“ Sie schüttelte sich und lachte. „Mir hat er aber gefallen“, warf Freddy ein. „Toll, dass wir dahin gegangen sind!“ Nasereiben, Küsschen.

„Ich bin in eine Kunstausstellung gegangen“, teilte Anna mit und packte einen Flyer aus, den sie uns allen zeigte. Bewunderndes Gemurmel. „Ich fand diese Bilder wirklich unglaublich. So einfach und doch so wunderschön.“

„Ja, ich finde, die sehen gut aus. Obwohl ich nichts von Kunst verstehe“, gab Gero zu.

„Und, was hast du noch so am Wochenende gemacht?“, fragte Anna. Bevor ich meine Version des Wochenendes aufsagen konnte, platzte meine Schwester bereits heraus: „Sie hat sich mit einem Kerl getroffen!“

„Was, du hast dich mit Lukas getroffen?“, kreischten Anna und Aurélie so laut, dass es noch die Wahlkandidaten hören mussten, die sich mittlerweile vor der großen Tafel aufgestellt hatten.

„Wer ist Lukas?“, wollte Freddy wissen.

„Er hat sie wiederbelebt, nachdem sie umgekippt ist“, setzte Aurélie ihren Freund in Kenntnis. „So ein großer, dunkelhaariger Kerl, der in ‘ner Band spielt. Medizinstudent. Sieht ziemlich gut aus.“ Der letzte Satz klang sehr lauernd.

Allerdings fuhr da schon Gero dazwischen: „Sag mal, Sara, ist dieser Lukas zufällig ausgebildeter Krankenpfleger und hat immer ein Palästinensertuch um?“

„Ja, wieso?“

„Den kenne ich, ich hab mit ihm zusammen Abi gemacht!“, erklärte Gero.

„Ach so…“

„Und, wie läuft es mit ihm?“, erkundigte sich Lea.

„Es läuft gar nichts“, rief ich genervt. „Können wir jetzt bitte den Kandidaten zuhören? Ich will wissen, was sie zu sagen haben.“

Obwohl das im Grunde irrelevant war. Der Nachwuchs der großen Parteien betete brav runter, was ihre politischen Eltern ausgebrütet hatten, die Spaßorganisation konnte man eh nicht ernst nehmen, außerdem verkündeten alle immer „bessere Studienbedingungen für alle!“.

Nach der Veranstaltung standen wir alle noch vor der Tür herum und redeten. „Eigentlich müssen wir mal wieder alle zusammen was machen“, fand Aurélie. Alle stimmten ihr zu, also verabredeten wir uns für den nächsten Tag im Grüneburgpark.

 

Dort hatten wir einen Riesenspaß. Und das meine ich sogar ernst. Der Schnee lag hier immer noch ziemlich dick, und ohne Vorwarnung begann Freddy eine Superschneeballschlacht. Alle bewarfen sich gegenseitig mit Schneebällen, bis wir selber fast aussahen wie Schneemänner. Oder Schneefrauen. „Hey, ich hab Schonzeit, ich erwarte ein Baby!“, versuchte Lea, sich zu retten. Vergeblich. Batsch, schon bekam sie die nächste Ladung ab.

Irgendwann lag Aurélie auf dem Boden und strampelte einen Engel in den Schnee. Mit dem Finger schrieb sie fett das Wort Schneeengel daneben. Einleuchtend.

Gero wäre fast mit der Zunge an einer der Laternen festgefroren, aber Anna konnte ihn mit ihrem heißen Kakao wieder retten. „Oh Mann, was machst du denn für Sachen?“, brummte sie.

„Eie Ahun“, versuchte Gero, zu antworten. Sollte wohl heißen Keine Ahnung.

Als er wieder frei war, setzten wir uns alle auf eine Bank. Jetzt kriegten wir alle was vom Kakao. Jeder hatte seinen Becher dabei. Auf Geros Becher stand Geek.

„Sag mal, was heißt dieses Geek eigentlich? Es scheint ja jeder Mann eine solche Tasse zu besitzen“, bemerkte ich.

„Kann schon sein. Grob gesagt lässt sich das Wort mit Computernerd übersetzen“, erläuterte der Freund meiner Schwester.

Anna räusperte sich. „Tut uns übrigens Leid, dass wir dich gestern so genervt haben. Das wollten wir nicht.“

„Schon gut. Kann ich auch was vom Kakao haben?“ Ich hielt ihr meinen schlichten schwarzen Becher hin. Sie goss mir etwas ein. „Boah, ist der heiß!“, schrie ich. Ich wedelte mit meinen Armen und rief immer wieder Laute wie „Oh!“ und „Au!“ Anna beugte sich über mich und plötzlich tauchte auf dem Boden vor mir ein Schatten auf, nachdem sich Schritte mir laufartig genähert hatten.

„Alles in Ordnung?“

Das war Lukas! Ich schaute ihn verdattert an. Hilfe, mir hingen Kakao-Spucke-Fäden aus dem Mund! Wie peinlich. Ich zerrte mein Taschentuch aus der Tasche und wischte mir den Mund ab. „Alles in Ordnung, der Kakao war etwas zu heiß.“

„Na, dann. Genug Eis zum Kühlen gibt’s hier ja“, lachte er. Sein Gesicht hellte sich plötzlich auf. „Hey, Gero, was machst du denn hier? Wir haben uns ja lange nicht gesehen!“ Die beiden umarmten sich kurz, mit Patschehänden auf die Rücken. So, wie Männer das eben tun. Ich habe mal gehört, dass Männer das Patschen machen, um Distanz zu zeigen und zu sagen: Ich bin kein Weichei.

Lukas und Gero palaverten fröhlich herum und tauschten sich über ihre Leben aus. „Was machst du denn hier?“ war dabei nur eine der Fragen, die Gero an ihn hatte. „Ich wohne doch hier in der Nähe“, gab Lukas zur Antwort. Stimmte ja. Ich hatte diesen Park vom Fenster aus gesehen, als ich ihn besucht hatte.

„Ich musste einfach mal raus aus meiner Bude. Konnte Medizin einfach nicht mehr sehen“, raunte er. „Bei so einem Wetter bekommt man auch Lust auf einen schönen Schneespaziergang.“

Gero stand auf. Ich konnte sehen, wie er uns zuzwinkerte.

Anna grinste auch. „Weißt du, worauf wir Lust bekommen bei so einem Wetter?“

„Keine Ahnung.“ Lukas zuckte mit den Schultern. Hinter ihm formte Gero einen Schneeball… der direkt an Lukas‘ Hinterkopf landete. „Ich weiß es!“, antwortete Gero. „Auf eine zünftige Schneeballschlacht!“

Die dann auch prompt folgte. Wir lachten und jauchzten, aber nur so lange, bis uns die nächste Ladung gefrorenes Wasser traf. Lea traf Aurélie, sie traf Gero, der traf mich, ich warf Anna ab, die traf Freddy und er bewarf Lukas. Und das alles geschah innerhalb von drei Sekunden. Alle bewarfen sich gegenseitig mit Schnee. Doch auf einmal rappelte sich Lukas auf und sah mich an. Dann schnappte er sich meine Hand und rannte los.

„Hey, wo wollt ihr denn hin?“

„Keine Ahnung!“

„Zu mir nach Hause!“ Und wir ließen die anderen zurück, die mindestens genauso irritiert waren wie ich.

 

Der Lauf dauerte nicht lange, aber hinterher waren wir ganz schön kaputt. „Wow, du hattest ja ein ganz schönes Tempo drauf!“, japste ich. „Du hättest mich aber überholt, wenn ich dich losgelassen hätte“, bemerkte Lukas, nicht weniger außer Atem. „Ach Quatsch, so sportlich bin ich doch gar nicht“, winkte ich ab.

„Siehst aber so aus“, rief er, bevor er in seinem Zimmer verschwand. Er zog seine Jacke und das Tuch aus. „Wahrscheinlich sollte ich duschen. Ich bin wohl ziemlich verschwitzt. Willst du so lange hier im Zimmer warten?“

„Kein Problem.“

Mit einem Riesenhandtuch und ein paar frischen Klamotten verschwand Lukas im Badezimmer. Ich sah mir sein Zimmer genau an. Er hatte viele Plakate und Poster an seinen Wänden hängen. Von Filmen und so. Reservoir Dogs, Inglourious Basterds, Pulp Fiction, From Dusk till Dawn. Er war wohl ein Tarantino-Fan… das fand ich gut. Außerdem entdeckte ich noch Matthew Bellamy und seine Jungs! Ich konnte es kaum glauben – es gab noch Menschen außer mir, die Muse toll fanden? Bisher hatte es immer nur geheißen: Muse? Kenn ich nicht.

Sein Bücherregal war auch ziemlich groß. Eigentlich hatte er einen ganzen Schrank voller Bücher. Ich fand neben einem Haufen medizinischer Fachliteratur viele Bücher über Musiker, aber auch viele Bücher, die ich nicht kannte. Ganz oben im Regal standen Bücher von Charles Bukowski.

Ich setzte mich zurück aufs Bett. Im Fernen hörte ich Klappergeräusche. Mir fiel auf, dass ich Durst hatte. Er hatte nichts zu trinken bei sich im Zimmer herumstehen. Nur ein paar Geschenkdosen von alkoholischen Getränken als Dekoration. Also ging ich in die Küche und goss mir Leitungswasser ein. Auf einmal hörte ich jemanden laut fluchen. Ich ging in den Flur gucken und erblickte, wie die Badtür aufgeschlossen wurde… und Lukas nur mit einem Handtuch bekleidet erschien. Vor Schreck wäre ich fast nach hinten gestolpert. Auf einmal fühlte ich auf schreckliche Weise in eine mir allzu bekannte Situation versetzt. Ich, Hannes, fast nackt, in der Gemeinschaftsdusche. Was für ein scheußliches Wort!

„Ich, ähm, hab nur was vergessen…“, stotterte er und holte irgendwas aus seinem Wäscheschrank. Ich konnte gar nicht sehen, was er holte, eigentlich wollte ich es auch gar nicht wissen.

Er war schnell wieder im Bad, aber trotzdem fand ich mich grübelnd und mit dem Kopf in den Handflächen auf dem Bett wieder. Was sollte ich hiervon halten? Alles war wieder genauso wie an dem denkwürdigen Abend, an dem man mich erst entjungferte und dann schnöde sitzen ließ. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass ich diesmal angezogen war.

Lukas kam, jetzt komplett bekleidet, ins Zimmer. „Tja, tut mir Leid, normalerweise passiert mir so etwas nicht. Aber manchmal kriegt mich eben mein schlechtes Gedächtnis… voll in die Eier. Was ist denn los? Hast du irgendwas?“

Ich zuckte zusammen. „Was? Oh, äh, alles in Ordnung. Nichts Besonderes.“

„So siehst du aber nicht aus. Willst du’s mir erzählen? Musst du natürlich nicht.“

Ich stöhnte. „Ich hab mich von diesem Arschloch von Hannes entjungfern lassen und er ließ mich sitzen!“ Sogleich dachte ich: Oh mein Gott! Was hatte ich denn da gemacht? Lukas stand mit offenem Mund da. „Wie, du hast mit ihm geschlafen?“

„Ja! Und warum hab ich es dir überhaupt gesagt?“

„Ist doch in Ordnung“, versuchte er mich zu beruhigen. „Aber was hast du gesagt? Er ließ dich sitzen?“

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Wie ich Hannes kennen lernte, wie wir uns in meinem Zimmer unterhalten hatten, wie wir uns in der Gemeinschaftsdusche getroffen und in seinem Zimmer miteinander geschlafen hatten. Dass es wunderbar gewesen war und Hannes mich danach total ignoriert, sogar mit Kati einen auf glückliches Paar gemacht hatte.

„Diese Tussi!“, erregte sich Lukas.

„Nein, Kati ist in Ordnung“, verteidigte ich sie. „Der wirklich Schlimme ist Hannes. Es ist jetzt schon etwas her… und trotzdem tut es mir so weh, was er gemacht hat. Es ist wie ein Stachel, der in mir drinsitzt.“

„Das Gefühl kenn ich gut“, seufzte Lukas. „Aber glaub mir, das geht irgendwann vorbei. Ähm, tut mir Leid, aber ich hab nachher noch eine Bandprobe und muss mich darauf noch vorbereiten. Wärst du mir sehr böse, wenn ich dich jetzt rausschmeiße?“

„Äh, nein, auf keinen Fall…“, stammelte ich.

Lukas begleitete mich noch zur Tür. „Also, man sieht sich bestimmt morgen in der Uni. Auf Wiedersehen!“

„Ja, tschüs…“

Und schon war ich draußen und die Tür war hinter mir zugeklappt. Er hatte beim Abschied ziemlich kalt geklungen. Obwohl er gelächelt hatte. Hatte er dabei nicht seine Augen unbewegt gelassen? Ich hatte mal gehört, dass es ein Zeichen für ein unechtes Lächeln war. Ein unechtes Lächeln? Aber warum? Hatte ich etwas falsch gemacht?

Krümelmonster, Teil 24

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Die ganze Nacht hatte ich es bei mir und schaute es mir an. Es sah wirklich so aus wie meines. Nur die Farbe war leicht anders… oder etwa doch nicht? Immer wieder betrachtete ich es. Ein paar Mal roch ich sogar dran. Männerschweiß, Zigarettenrauch, Shampoo, Duschgel. Was für ein… angenehmer Geruch. Am nächsten Morgen, nachdem mein Wecker klingelte, griff ich sofort zum Handy und rief Kati an. Kurz bevor sich die Mailbox melden konnte, ging sie endlich ran.

„Hallo?“, murmelte sie verschlafen.

„Hallo, Kati, ich brauche unbedingt Lukas‘ Adresse!“

Kati stöhnte. „Was ist denn so wichtig daran, dass du mich wachklingelst?“ Ein ausgedehntes Gähnen war zu hören.

„Es ist wichtig!“, betonte ich. „Er hat gestern Abend beim Konzert sein Palästinensertuch vergessen und das muss ich ihm unbedingt zurückbringen!“

„Beim Konzert, hm?“ Auf einmal klang Kati ziemlich wach. „Habt ihr euch gedatet oder was?“

„Nein, ich bin mit Anna und Aurélie im Erdbeergrün gewesen und da hat er gespielt.“

„Ach so.“ Sie gähnte wieder. „Er wohnt in der Rostocker Straße 35. Aber überfall ihn nicht so wie mich. Gute Nacht.“ Und zack, hatte sie aufgelegt.

Hm. Rostocker Straße 35? Wo lag das?

Kati hatte mir als Tipp gegeben, ihn nicht zu überfallen. Deswegen ging ich erst nach der Uni zu ihm. Trotzdem öffnete mir an der Tür mit dem „Achtung, Gefahr!“-Schild ein verschlafener Typ in Unterhose. Hatte der nicht gestern mit Lukas auf der Bühne gestanden?

„Guten Morgen, schöne Frau, was führt dich zu uns?“

„Ähm…“ Ich sah auf die Uhr. „Ist Lukas da? Ich möchte ihm das hier zurückbringen.“ Ich hielt das Tuch hoch.

„Sekunde, ich hol ihn.“ Der Mensch ging Richtung offene Badezimmertür und brüllte: „Lukas!!! Damenbesuch für dich.“ Eine halbe Ewigkeit später erschien der Angesprochene, nicht mehr bekleidet als der, der mir die Tür aufgemacht hatte.

„Hallo, ähm… was gibt’s?“

„Hi, ähm… ich wollte dir das hier zurückbringen, das hast du gestern beim Konzert vergessen.“

Sein Gesicht hellte sich auf. „Mensch, das hab ich schon überall gesucht! Dankeschön!“ Er strahlte mich an. „Willst du kurz reinkommen?“

„Klar.“

Er schloss die Tür und bedeutete mir, in die Küche zu gehen. Danach verschwand Lukas kurz in seinem Zimmer. Als er wiederkam, war er komplett angezogen. Auch das Tuch hatte er sich wieder umgewickelt.

„Willst du ‘nen Kaffee?“

„Gerne.“

Er setzte ihn auf und ich schaute ihm stumm zu. Irgendwann setzte er sich hin und stellte mir eine Tasse hin. Ich sah sie mir an. Geek stand da drauf. Was auch immer das sein sollte.

„So ein Palästinensertuch haben nicht viele Männer, oder?“, begann ich das Gespräch.

„Ja, da bin ich wahrscheinlich eine echte Ausnahme.“ Er zog seine Augenbraue hoch. Ich musste lachen.

„So was tragen normalerweise nur Frauen. Da war ich ganz schön überrascht.“

„Du hast auch so eins, oder?“

„Woher weißt du das?“

„Übersinnliche Kräfte.“ Er trank seinen Kaffee. „Na ja, du läufst ganz schön häufig damit herum. Sieht ja sogar so aus wie meins.“

„Stimmt, das ist mir auch schon aufgefallen.“ Jemand lief an der Küche vorbei. „Du wohnst in einer WG?“

„Ja, das stimmt. Der Typ, der dir gerade aufgemacht, war mein Bassist.“

„Ach, deswegen kam er mir so bekannt vor.“

„Wohnst du auch in einer WG?“

„Nein, ich bin in einem Studentenwohnheim.“

„Naja, davon hört man nicht so tolle Geschichten.“ Lukas goss sich Kaffee nach.

„Das stimmt“, antwortete ich. „Ich bin froh, dass ich eine Küchenzeile für mich alleine habe. Ich habe gehört, dass in den Gemeinschaftsküchen immer die Sachen rumstehen, sodass man denken könnte, die Biostudenten haben ihre Experimente nach Hause mitgenommen.“

Jetzt lachte er. Er hatte ein wirklich schönes Lachen, das musste ich ja sagen. Und ich hörte es noch oft, während ich in der Küche bei ihm saß. Als ich gehen wollte, war es schon dunkel und das lag ganz bestimmt nicht nur an der Jahreszeit.

„Eine Frage hab ich aber noch“, sagte Lukas, als ich schon aus der Tür raus war. „Woher weißt du, wo ich wohne?“

„Übersinnliche Kräfte“, antwortete ich und streckte die Zunge raus.

Am Wochenende besuchte ich wieder meine Familie. Diesmal natürlich angekündigt. Und – oh Wunder – es öffnete mir Gero. Gehörte er jetzt schon dazu, dass er die Tür öffnen durfte? Interessant.

„Hey“, begrüßte er mich. „Deine Familie schmückt gerade das Haus.“

Das Haus. Schmücken. Das hatte ich als Kind unheimlich gern gemacht. Gleich nachdem ich meine Eltern und meine Oma begrüßt hatte, schnappte ich mir einen Karton mit Deko und begann, ihn über’s ganze Haus zu verteilen.

„Na, mein Kind, wie geht es dir? Isst und trinkst du auch immer schön?“, wollte Oma wissen.

„Ja, das mache ich, Oma. Ich will doch nicht noch mal Lea vor die Füße fallen. Apropos, wo ist sie eigentlich? Geht es ihr und dem Baby gut?“

„Sie ist bei der Vorsorgeuntersuchung“, erzählte Oma, während sie auf einen Stuhl stieg. „Es geht den beiden ausgezeichnet.“

„Das ist ja schön. Warte, ich helf dir“, rief ich und hing die lilafarbene Perlenkette über die Gardinenstange im Wohnzimmer.

„Du hast es gut, du bist körperlich noch fit und kannst so was noch machen. Ich mit meinen schwachen Knochen – da geht das nicht mehr.“ Oma holte ein neues Bild und zeigte es mir. „Hab ich gemalt. Was meinst du?“

„Sieht gut aus!“

„Dankeschön. Kannst du hier mal weitermachen? Ich muss eben nach dem Essen schauen.“

„Was gibt es denn?“, erkundigte ich mich.

„Hackbraten.“

„Gibt es auch eine vegetarische Alternative?“

„Vegetarisch? Wieso das denn?“

„Oma!“ Ich verdrehte den Kopf und hätte beinahe die Weihnachtsengelchen fallen lassen.

„Oh, natürlich, es gibt bestimmt was für dich. Da isst du schon so lange kein Fleisch mehr und ich kann es mir immer noch nicht merken. Furchtbar.“

Beim Essen grinste ich die ganze Zeit in mich hinein. Ich trank Cola und im Ohr hatte ich immer noch den ersten Song von gestern Abend.

„Warum bist du denn heute so fröhlich?“, wollte Mama wissen.

„Du grinst schon die ganze Zeit in dich hinein, das tust du doch sonst nicht“, wunderte sich auch Papa.

„Ach, einfach so“, antwortete ich… grinsend. „Die Uni läuft eben gut.“

„Na, dann.“ Papa fuhr damit fort, von seiner Arbeit zu erzählen. Er berichtete vom Mann einer Klientin, der ihn in seiner Kanzlei aufgesucht hatte und ihm ans Leder wollte, da der Irre keine Lust hatte, den Unterhalt zu bezahlen, den Papa für die Frau einfordern sollte.

„Ich hoffe, so etwas wird uns nie passieren“, seufzte Lea. „Sicher nicht“, tröstete Gero sie und drückte ihr einen Kuss auf den Babybauch. Er war noch nicht besonders dick, aber ein bisschen hatte Lea wohl zugenommen.

„Wie geht es dem Baby denn?“, erkundigte sich Mama und lud sich eine Scheibe Hackbraten auf den Teller.

„Es geht ihm ausgezeichnet“, lächelte Lea. Sie blickte auf ihren immer noch enthüllten Bauch.

„Wisst ihr denn schon, was es wird?“, fragte Papa. Er wollte bestimmt einen Jungen.

„Ein Baby“, entgegnete Gero. Alle lachten.

„Ja, aber was für ein Baby?“

„Wird nicht verraten“, antwortete Lea zwinkernd. „Erst an Weihnachten.“

„Da fällt mir ein“ – Mama kaute an ihrem Hackbraten herum – „kommst du nächstes Wochenende?“

„Nein, da kann ich nicht“, teilte ich mit. „Da hab ich einen Termin.“

„Was für einen denn?“, stocherte Lea, neugierig wie immer.

„Verrat ich dir nicht.“ Ich streckte ihr die Zunge raus und aß mein Ersatz-Essen weiter.

Ich verriet es ihr natürlich trotzdem, aber erst, als sie mich wieder zum Bahnhof fuhr. Ja, Auto fahren konnte sie noch! Das versicherte sie mir lautstark. Auf die Neuigkeit, dass ich jemanden kennengelernt hatte, reagierte sie genauso wie meine Freundinnen.

„Das war der, der mich wiederbelebt hat, als ich dir vor die Füße gekippt bin“, verriet ich ihr. „Ach, der war das“, murmelte Lea. „Ist er nett?“

„Aber unheimlich. Wir haben so viel gelacht, als ich ihm das Tuch wiedergebracht hab, unglaublich.“

„Was für ein Tuch?“, hakte Lea nach und bog links ab.

„Sein Palästinensertuch, das er immer trägt. Er hat es bei seinem Konzert verloren.“

„Soso, sein Konzert“, flötete sie. „Du warst schon extra auf seinem Konzert?“

„Nein“, beteuerte ich, „es war zufällig. Ich bin mit Anna und Aurélie ausgegangen.“

„Ja klar, zufällig“, entgegnete meine große Schwester, mit einem Unterton in der Stimme, der preisgab, dass sie mir nicht glaubte. Sie hielt vorm Bahnhofsgebäude. „Endstation!“ Sie stieg aus und machte mir die Tür auf. „Viel Spaß in der Uni, Kleine. Und viel Glück mit deinem Lukas, oder wie er heißt.“

Die letzten zehn Worte, die sie zu mir gesagt hatte, hallten noch lange in meinem Kopf nach. Viel Glück? Konnte ich das gebrauchen? Wofür?