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Fünf Jahre
Schon wieder eine neue Geschichte. Viel Spaß beim Lesen.
Fünf Jahre
Ich mag Bahnfahrten. Vor allem in Schnellzügen. Sie sind bequem und man kommt trotzdem rasch an. Kein langwieriges Kreuzen über deutsche Autobahnen, und obendrein muss man nicht ständig halbstündige Ruhepausen einlegen. Was ja tödlich ist, wenn man, so wie ich an jenem Tag, mehrstündige Fahrten einlegen muss. Muss zwar sein, aber die Ankunft verzögert sich dadurch endlos nach hinten.
An jenem Tag hatte ich mir also vorgenommen, mich in einen Zug zu setzen, um fünfeinhalb Stunden durch Deutschland zu fahren.
Warum tat ich so was? Der Anlass für so eine lange Bahnfahrt war ein Klassentreffen. Eine furchtbare Einrichtung, die nur dazu diente, voreinander anzugeben. Wer hatte den tollsten Lebensplan? Wer war so ein Loser und in der Provinzhauptstadt stecken geblieben?
Im Prinzip gab es nur einen Grund, und der war meine beste Freundin, die in unserer Heimatstadt Biologie studierte. Ich sah sie recht selten, wir unterhielten uns zwar ständig am Telefon und übers Internet, aber das war leider kein guter Ersatz. Und so fuhr ich eben hin.
Wenn sie da war, würde die ganze Veranstaltung sicher lustig werden. Wir würden uns Roten bestellen, in die Ecke setzen und über die Anwesenden lästern.
Da war zum Beispiel Carsten, der seine fehlenden Körpergrößenzentimeter damit ausglich, dass er wahnwitzig schnell über die Straßen raste. Oder Rachel, die zwar über Aussehen wie ein Supermodel verfügte, dafür aber weder über Hirn noch über Sozialverhalten. Oder Viola, die es im Alleingang fast geschafft hatte, mich bei all meinen Freunden in Misskredit zu bringen. Oder Paul, der trotz mieser Noten ein duales Studium ergattert hatte. Oder Stefan, der jedes Wochenende damit angegeben hatte, wie besoffen er gewesen war. Oder…
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Bis dahin war ich allein im Abteil gewesen. Und ich hatte gehofft, dass das so bleiben würde. Das Bedauern verstärkte sich noch, als ich sah, wer da das Abteil betreten hatte.
„Was zur Hölle machst du denn hier?“, entfuhr es uns fast gleichzeitig. Mir stand der Mund sperrangelweit offen. Ich wusste zwar, dass Sven in Heidelberg studierte, aber ich hatte nicht damit gerechnet, ihn hier zu treffen. Sonst hätte ich wohl auch einen anderen Zug genommen.
Sven starrte ungläubig auf seine Sitzplatzkarte und dann auf mich, und dann wieder auf die Karte und dann wieder auf mich. „Das kann doch nicht sein…“, murmelte er und sprach damit genau aus, was ich dachte. Widerwillig setzte er sich auf den Platz, der gegenüber von meinem war. Der Rollkoffer, wie ihn vermutlich fünfundneunzig Prozent aller deutschen Studenten besaßen, blieb einfach auf dem Boden stehen. „Ich wusste nicht, dass du auch kommst“, war das Erste, was Sven zu mir sagte. „Tja, da kann man mal sehen“, antwortete ich und sah zu, dass ich meine MP3-Player-Kopfhörer in die Ohren kriegte. Was ziemlich nutzlos war, denn ich sah ihn ja immer noch, und ich konnte nicht die ganze Zeit die Augen zuhalten. Selbst dann wäre er ja immer noch da gewesen.
Bis Mannheim hielt ich es aus, dann packte ich meine Wertsachen in meine Jackentaschen und verließ das Abteil.
Im Bordbistro nahm ich etwas zu mir. Es war sehr teuer, aber wenigstens hielt mich das eine Weile von Sven fern. Während ich also die nicht gerade preiswerte Nahrung (wenn man das so nennen konnte) zu mir nahm, betrachtete ich die auf der anderen Seite des Fensters vorbeirasende Landschaft und dachte nach.
Er war nett zu mir gewesen, als es kein anderer war. Das hätte er nicht tun sollen. Denn von da an klebte ich wie eine Klette an ihm und vergötterte ihn geradezu – das war für beide Seiten nicht gut. Was tut ein Mädchen, das niemand anderen hat? Sie macht sich komplett abhängig von einer Person. Und wie fühlt sich diese Person wohl? Richtig, total genervt. So was konnte nicht gut ausgehen. In unserem Fall ging es so aus, dass ich über Dritte erfuhr, was er von mir dachte und von da an nie wieder mit ihm geredet hatte. Er war ein Heuchler und Angeber. Sein Einserabitur und seinen Aufenthalt in Chile rieb er jedem unter die Nase. Unbegreiflich, wie ich mal auf so jemanden gestanden hatte. Und doch hatte ich es getan.
Ich stand auf und ging wieder zurück auf meinen Platz. Gegenüber von mir saß immer noch Sven und las irgendein intelligentes Buch. Als ich wiederkam, sah er kurz auf. Ich versteckte mich hinter der riesigen Ausgabe einer bekannten Wochenzeitung, wo ich auch blieb, bis der Zug in den Bahnhof einfuhr. Während der ganzen restlichen Bahnfahrt redeten wir kein Wort mehr miteinander. Auch nicht auf dem Weg vom Bahnhof zum Veranstaltungsort. In der Aula des Gymnasiums gingen wir schließlich auseinander, er nach rechts zu seinen ganzen Untertanen und ich nach links zu Isa. Ich umarmte sie zur Begrüßung. „Na, wie lange bist du schon hier?“
„Keine 10 Minuten. Und du bist gerade erst in der Stadt angekommen?“
„Ja, mit dem Arsch da. Ich musste fast die ganze Fahrt mit ihm zurücklegen!“
„Oh, das war sicher ein Horror.“
„Na, klar!“ Ich nickte lebhaft. „Ich lege keinen Wert darauf, irgendwas mit ihm zu tun zu haben. Und dann passiert so was!“
„Komm, wir verbringen hier einfach einen schönen Abend. Der Trottel hat überhaupt keine Aufmerksamkeit verdient.“
Da hatte Isa wohl Recht. Und so verbrachten wir den Abend damit, bei einem Glas Cola-Roten über die Anwesenden zu lästern. Wie ich es mir gedacht hatte.
Irgendwann hatten sich die ein oder zwei Getränke durch meinen Verdauungstrakt gearbeitet. Und wie das eben so ist, muss man in solchen Fällen häufig aufs Klo. Dorthin ging ich – am Chemietrakt vorbei, durch die Glastür, zweite Tür links. Ich wusste es immer noch.
Ich ging auf Toilette, wusch mir die Hände und trat wieder vor die Tür. Dort erblickte ich plötzlich Sven. Hatte er etwa auf mich gewartet?
„Hi, wie geht’s?“
Ich legte meinen Silberring wieder an.
„Komm, willst du nie wieder mit mir reden? War ich so schlimm?“
„Schlimmer.“
„Komm, man kann doch die Vergangenheit ruhen lassen, oder? Ich meine, wir haben beide Fehler gemacht – Schwamm drüber.“ Er starrte mich hilflos an.
„Kein Interesse.“ Ich schritt davon.
„Du musst jetzt nicht so pseudobetroffen sein!“, rief Sven mir noch hinterher, und der Satz brachte mich so zum Lachen, dass Isa mich fragte, was los sei. „Ach, der Junge“, informierte ich sie prustend, während ich mich hinsetzte, „hat versucht, sich mit mir zu versöhnen. Als ob ich das je tun würde.“
„Oh Mann, der ist ja bescheuert“, entgegnete sie, nicht minder belustigt. Wir stießen an und tranken.
Auch Sven kehrte irgendwann wieder an seinen Platz zurück. Er redete mit Marie und Jan und guckte immer wieder zu mir rüber. Ich schaute demonstrativ weg. Und während ich mit Isa quatschte, überlegte ich, was jetzt von ihm zu denken war.
Wollte ich mich wirklich nie wieder mit ihm versöhnen? Nein, wollte ich nicht. Wirklich nicht? Verdient hatte er es wohl nicht. Schon oft waren wir in solchen Situationen gewesen und Sven hatte mich bitter enttäuscht.
Ich wollte aufstehen und ihm sagen, was ich dachte, doch in diesem Augenblick umarmte er Marie und stand auf. Jacke angezogen, Rollkoffer geschnappt und schon war er draußen. Verschwunden in der entstandenen Dunkelheit.
Lange starrte ich ihm hinterher. Ich schätzte, ich würde ihm nie wieder begegnen. Früher wäre ich daran verzweifelt. Heute nicht.
Ende