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Hör mal, wer da schreibt

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Hallo, liebe Leute! Ich lebe noch, bin nur derzeit sehr beschäftigt (womit, erzähle ich euch ein andermal. Vielleicht.).

Gelegentlich finde ich aber noch die Zeit, mich mit unsinnigen Themen zu beschäftigen, und so sende ich euch heute den mit Abstand am bestesten recherchierten Blogeintrag aller Zeiten – Geschlechterrollen in „Hör mal, wer da hämmert“. Kennt die Serie überhaupt noch irgendjemand von euch?

Naja, wie auch immer, es war über Jahre meine Lieblingsserie und da die ja im Grunde ein einziges Abfeiern des Männerseins ist, drängt sich das Geschlechterthema da förmlich auf. Meine konfusen Notizen zu acht Jahren dieser Sitcom möchte ich euch nun in halbwegs geordneter Aufmachung darbieten.

So sind Männer

– Ihnen gehört das Haus, also sind sie der Bestimmer.
– Wenn ihre Frau sich über die Doppelbelastung Arbeit – Familie aufregt, sagen sie „Du musst doch nicht arbeiten!“.
– Männer sind stark. (Deswegen gibt Tim zunächst nicht zu, dass er sich nach dem Schleppen einer schweren Truhe die Leiste gezerrt hat.)
– Sie sind die großen Verführer, was Tim in einige Probleme stürzt.
– Wenn Frauen von Menstruation erzählen, reagieren Männer megaempfindlich. (Außerdem haben sie keine Ahnung von Monatshygiene-Artikeln. Oder wie der weibliche Körper überhaupt funktioniert.)
– Laut dem Buch, das Tim in Folge 8/14 schreibt, stellen sich Männer ihren Ängsten. (Frauen tun das also nicht?)
– In einer Ausgabe von „Tool Time“ gibt es ein ’salute to men‘ (als wäre die Sendung nicht schon ein einziges^^). Männlich sind demnach beispielsweise Armee / Navy, Hunde-Mögen und Filme wie „True Grit“ und „Spartacus“.

So sind Männer nicht

– Sie wissen nicht, wie ein Geschirrspüler funktioniert. Zumindest musste Jill es Tim erklären. (Und als er es dann weiß, baut er ihn um, denn das Gerät ist ihm zu unmännlich. Immerhin ist Tim aber grundsätzlich dafür, dass Männer im Haushalt helfen, wenn er es auch oft Jill überlässt.)
– Der Nachbar Wilson weiß, dass man für unterschiedliche Anlässe unterschiedliche Schuhe braucht. Als er sein Wissen über unterschiedliche Formen der Fußbekleidung demonstriert, wird er von Tim schief angeguckt. Ähnliches passiert, als Al beweist, dass er mehr Farbtöne als der Klischee-Mann unterscheiden kann. (Bei Autofarben wäre das aber auf einmal akzeptiert…)
– Sie mögen kein Ballett. Zumindest ist Tim dieser Ansicht, und es gibt einen Riesenstreit, als er mit Mark zum Ballett gehen soll (der darauf durchaus Lust hatte), ihn dann aber lieber zum Basketball mitnimmt. Jill ist enttäuscht von Tim, da sie ihre Söhne nicht nur männertypischen Dingen aussetzen möchte, und Tim da nicht mitzieht. Als Randy für die Schülerzeitung über das Ballettteam seiner Schule schreibt, sagt Tim sinngemäß, dass es nicht normal sei, sollte Randy sich für Ballett interesssieren.
– Sie trauern nicht, jedenfalls nicht mit Tränen. Tim hält das für unmännlich. (Wobei er sich da später durchaus korrigiert.)
– Sie backen keine Cupcakes.
– Tims ältester Sohn Brad benutzt in Folge 4/26 Makeup, um seine Hautunreinheiten zu kaschieren. Tim ist dagegen, Brads Brüder Randy und Mark machen sich über Brad lustig.
– Männer interessieren sich nicht für Dinge wie Bücher oder Jazztanz.
– Als Tim mit einer seiner Nichten „Teeparty“ spielt, sagt er ihr, sie solle das nicht seinen Freunden im Werkzeugladen erzählen. Den Nachmittag mit ihr mochte er, was allerdings letztlich auch mit stereotypem Mädchen- / Jungenverhalten zu tun hat („Jungen wollen raufen, Mädchen tun mehr Dinge wie Geschichten erzählen“).

So sind Frauen

– Bei „Tool Time“ sind Mädels im Prinzip nur zum Präsentieren da. Dabei kann zumindest Heidi deutlich mehr, denn laut Tim ist diese Elektrikermeisterin. Fun fact: Wegen so einer Sache ist Pamela Anderson, die das vormalige Tool-Girl Lisa gespielt hatte, sogar aus der Serie ausgestiegen. Heidi bzw. Debbe Dunning bekam dann etwas mehr Raum, aber viel war es auch nicht.
– Es gibt aber auch starke Frauen bei „Hör mal, wer da hämmert“. Eine solche ist Jill, die ihrem Ehemann Tim so manches Mal Paroli bietet und ihren Kopf durchsetzt, schließlich sogar nach x Jahren Hausfrauendasein eine neue Karriere startet. Sie wird als Feministin dargestellt, als sie z.B. mit einschlägiger Literatur gesehen wird oder ihren Söhnen beibringt, dass Frauen auch Rechte haben. Ein anderes Beispiel für eine starke Frau in der Serie ist Jills Freundin Karen. Sie kebbelt sich des Öfteren mit Tim, weil die seiner Machowelt etwas entgegensetzt („Natürlich haben Männer viel geschaffen, sie haben ja auch alle Arbeitsplätze“). Sie kann zwar zuweilen etwas aggressiv klingen, wenn sie bspw. allen Männern aggressive Tendenzen unterstellt, aber oft genug ist sie einfach nur der Spiegel, der Tim vorgehalten wird.
– Frauen sind manierlich (während Männer sich ruhig danebenbenehmen dürfen).
– Sie teilen sich anders mit als Männer, nämlich subtiler (was so manches Mal zu Streit führt).
– Frauen, die sich durchsetzen, laufen schnell Gefahr, als Drachen gesehen zu werden. Beispiel: Wanda, Staffel 2, Folge 4.
– Frauen wollen alle Singles verkuppeln. Beispiel: Jill in derselben Folge. Aber sie tut das nicht nur da. Sie verkuppelt eine ihrer Dozentinnen mit Wilson, weil „so eine wundervolle Frau nicht allein sein sollte“. (Mit anderen Worten: Ihrer Meinung nach brauchen Frauen unbedingt einen Partner.)
– Frauen mögen die Farbe Pink (und Männer Schwarz).
– Sie wollen alles zu Tode diskutieren.
– Hat hier jemand mal von dem Begriff „maternal gatekeeping“ gehört? Nein? Na gut. Auf jeden Fall, Jill zeigt, dass sie auch dazu fähig ist. Sie ist beispielsweise der Ansicht, dass Mütter manche Dinge besser können als Väter aufgrund einer speziellen Bindung zum Kind.
– Oft wird von Frauen aber auch verlangt, dass sie Arbeit UND Familie wuppen. (Warum muss Jill kochen, wenn sie wegen ihres Studiums viel um die Ohren hat? Und warum schätzt ihre Familie ihr Essen dann nicht?) Als Tim sich dann doch mal erbarmt und ein paar Wochen mal mehr tut als sie, erwartet er dafür dann so ungefähr den Nobelpreis.^^ Den bekommt er verständlicherweise nicht von Jill, der Dank dafür ist, dass er in einer Tool-Time-Ausgabe alle Frauen inkl. seiner eigenen als Meckertanten darstellt, die man austricksen muss, um seine Ziele zu erreichen.
– Bügeln ist Frauensache, sagt Tim.
– Er sagt außerdem, dass sie ihre Partner dazu zwingen, sich emotional zu öffnen.
– Als Tim sich einmal mit Heidi streitet, regt er sich darüber auf, dass Frauen überemotional seien und man es ihnen nicht recht machen könne.

So sind Frauen nicht

– Sie verstehen Männer im Allgemeinen nicht.
– Sie haben keine Ahnung von Autos (was trotz zahlreicher Gegenbeispiele geglaubt wird).
– Sie können keine Häuser bauen (auch hier gibt es Gegenbeispiele, die nicht helfen).
– Sie können kein scharfes Essen ab. (Heidi rächt sich umgehend für diese falsche Annahme.)

Und sonst so?

– Tim verzapft viel Blödsinn (wer hätte das nach all diesen Anmerkungen gedacht?^^), zeigt sich aber häufig einsichtig. Oft geschieht dies nach einem Gespräch mit Wilson, der als so eine Art Mentor für Tim (und viele andere Figuren) fungiert.
– Wenn Männer und Frauen etwas miteinander unternehmen, wird immer davon ausgegangen, dass sie etwas miteinander haben.
– In unzähligen Ausgaben von „Tool Time“ lästert Tim über seine Frau bzw. Frauen im Allgemeinen. Ein Höhepunkt: Er schnappt sich zwei Zuschauer und zieht mit denen richtig ausführlich über Frauen her, nur weil die eben so sind, wie sie sind.
– Alle möglichen Gegenstände und Dinge müssen „für Männer“ produziert oder umgestaltet werden, weil die normalen zu doof sind. Dies gilt u.a. für Haushaltsreinigungsgeräte, Bade- und Schlafzimmer.
– In Folge 20 wird darüber debattiert, ob Frauen Smokings tragen dürfen, Jill will einen solchen zu einem Opernabend mit Tim tragen, er mokiert sich darüber. Schlussendlich trägt sie ihn aber doch und er ist überrascht davon, wie gut er ihr steht.
– In Folge 2/14 eröffnet Jill ein eigenes Konto, auf das ihr Gehalt als freie Journalistin eingeht. Tim gefällt das überhaupt nicht. Es entbrennt ein Streit darüber, wem was gehört und wer die Macht worüber hat, da Tim der Familienernährer ist, Jill nur ein kleines Gehalt verdient, aber auch gerne Mitspracherechte haben will.
– Die Rosa-Hellblau-Falle existiert (vermutlich wenig überraschend) auch bei „Hör mal, wer da hämmert“. In Folge 3/1 taucht eine rosa Decke auf, die Jill gehäkelt hatte, als sie mit Mark schwanger war. Sie hatte auf ein Mädchen gehofft. Als Tim das seinen beiden älteren Söhnen verrät, machen die sich über Mark lustig.
– Tim kann schlecht akzeptieren, wenn Frauen auf einem männertypischen Gebiet, bspw. als Vorarbeiter auf einer Baustelle, mehr Ahnung haben. Er haut dann Vorurteile raus („hat bestimmt keinen Respekt bei männlichen Kollegen“), sexistische Sprüche (z.B. übers Aussehen) und gaaaanz viele herablassende Kommentare („brauchen Sie die Hilfe von einem starken Mann?“).
– In Folge 5/15 begleitet Jill Tim zu einem Aufenthalt auf einer Militärbasis. Er findet, Frauen hätten da nichts zu suchen – und das, obwohl Jill die Tochter eines Colonels ist und an dem Aufenthalt sehr viel Freude hat, zumindest so lange, bis Tim es ihr vermiest. Ihr wird ermöglicht, einen Panzer zu fahren, und Tim macht ihr die Freude daran zunichte, weil sie es besser kann als er.
– Tim soll sich auf Wunsch von Jill vasektomieren lassen, er ist zunächst nicht sehr offen. Seine Freunde im Werkzeugladen denken, man ist dann kein Mann mehr. Tim lässt sich zu einem Besuch in einer urologischen Praxis überreden, und als er feststellt, dass es sich um eine Ärztin handelt, macht er sofort zu, denn eine Frau könne Männer ja nicht angemessen „da unten“ behandeln. Er ist Argumenten nicht zugänglich, fragt Jill, was sie denn von Schmerzen da unten verstehe, und als sie die Geburtsschmerzen der Kinder aufbringt, ist er genervt. Jill musste sich all die Jahre ihrer Beziehung allein um Verhütung kümmern und es sieht so aus, als würde das so weitergehen. Ironischerweise hilft ihm dann einer der Freunde aus dem Werkzeugladen, Tims Meinung zu ändern – Harry, der eine Vasektomie hatte, das in seinem Laden aber nicht zugeben wollte.
– Interessant wird dies, als Jill sich aus medizinischen Gründen einer Totalhysterektomie unterziehen muss: Sie fühlt sich danach nicht mehr als Frau. Tim macht ihr aber klar, dass zu einer Frau mehr gehört als Eierstöcke, Gebärmutter und die Möglichkeit, Kinder zu kriegen.
– In einer Folge gibt es einen Streit, als festgestellt wird, dass Brads damalige Freundin Angela alle Hausarbeiten für ihn erledigt. Tim macht weniger im Haushalt als Jill und das bisschen, was er macht, auch nur um des häuslichen Friedens willen. Er zeigt sich nicht besonders bereit, Brad klarzumachen, dass der sich falsch verhält, aber schlussendlich tut er es doch.
– In Folge 7/24 ist Jill zu Gast in einer Talkshow mit dem Thema „Erfolgreiche Frauen“. Tim und seine Freunde sehen die Talkshow im Werkzeugladen. Als eine der talkenden Frauen erzählt „Ich bekam ein Jobangebot und mein Mann interessierte sich nur dafür, wer dann kocht“, fragt Harry, was daran falsch sei. Jill versucht, das Verhalten der jeweiligen Ehemänner zu erklären. Tim erscheint in ihrer Darstellung zunächst verständnisvoll (unterstützte Jill grundsätzlich in ihrer Berufswahl), dann wie ein Idiot (verständnislose erste Reaktion auf Studienwahl, hält Psychologie im Allgemeinen für Schwindel, Midlife-Crisis und verletzlicher Zustand). Seine Freunde und die Besucher eines Fitnesscenters, in dem die Sendung lief, machen sich daraufhin über Tim lustig. Tim und Jill fetzen sich heftig. Daraufhin kommt zur Sprache, dass Tim sich in „Tool Time“ regelmäßig über Jill auslässt, was ja etwas gaaaanz anderes sei. Als Jill mit Wilson über die Geschehnisse redet, wird ihr klar, dass all das passiert ist, weil sie glaubte, sich vor den anderen Frauen mit ihrem Psychologie-Wissen und besseren Stories beweisen zu müssen.
– Vielleicht am interessantesten ist das Serienende. Tim kündigt bei Binford, gleichzeitig bekommt Jill ein Jobangebot als Familientherapeutin in einer Hunderte von Meilen entfernten Stadt. Logisch, dass da umgezogen werden müsste. Tim möchte das aber nicht und Jill ist darüber enttäuscht, zumal sie sich 20 Jahre lang immer nur nach seiner Karriere ausgerichtet hat. Letztlich willigt Tim aber doch ein.

Puh.

Fazit

Die Serie lief von 1991 bis 1999. Natürlich findet man da sehr häufig noch klassisches oder klischeehaftes Männer- / Frauenverhalten, stellenweise ist das so extrem, dass man sich darüber aufregen will. Ich muss aber sagen: Für eine Serie aus den Neunzigern finde ich „Hör mal, wer da hämmert“, was Geschlechterthemen anbelangt, ziemlich fortschrittlich. Immer wieder tauchen Figuren auf, die aus den klassischen Rollen ausbrechen. Immer wieder wird sich dafür ausgesprochen, dass Männer und Frauen ihre Differenzen beilegen. Jill darf ein Leben außerhalb der Familie haben (wenn da auch viel verbesserungswürdig ist, aber ich will nicht zu viel erwarten). Und ganz großartig ist natürlich das Serienende, in dem sich Tim karrieremäßig nach seiner Frau richtet.

Habt ihr Fragen, Anmerkungen oder Kritik? Rein damit in die Kommentare (oder meinetwegen meinen Maileingang, auch wenn der mal wieder überquillt).

Mit freundlichen Grüßen

Die Kitschautorin

Bedeutungsschwanger, Teil 6

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Lukas stand, wie ich vermutet hatte, in der Küche. Nun stand ihm aber der Mund offen und seine äußerst weibliche Begleitung fing an zu lachen.
Ich kam mir in diesem Augenblick so blöd vor wie noch nie in meinem Leben. Schön, der ausgestellte Unterteil des Kleides sah etwas komisch aus, aber… ich fand, ich war schön…
„Wollen nur hoffen, dass du nicht immer so rumläufst“, prustete die Frau, die da neben meinem Freund stand. Wer zur Hölle war das?
Lukas beantwortete sogleich meine Frage. „Sara, das ist Kiki, unsere neue Bassistin.“
Aus irgendeinem Grund war ich nicht sehr erfreut, behauptete aber das Gegenteil und checkte sie schon einmal per Augen ab.
Sie sah gut aus. Sie hatte lange, schwarze und zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare, ein breites Lächeln mit unheimlich vielen weißen Zähnen und eine Figur wie eine Sanduhr.
Das trug natürlich nicht dazu bei, meine Laune zu heben. „Sehr schön, dich mal kennen zu lernen“, flötete ich mit einem Haifischlächeln, „ich geh mich nur eben schnell umziehen, bevor wir losfahren.“ Ich lachte auf und verzog mich wieder ins Bad.
In Windeseile zog ich das rote Kleid aus, verstaute es in der Tüte und zog meine normale Kleidung wieder an. Als ich in den Spiegel sah, fand ich allerdings, dass ich aussehtechnisch einfach gegen Kiki verlieren musste. Nicht willens, diesen Umstand anzuerkennen, arbeitete ich tonnenweise Haarspray in meine Mähne ein, schmierte etwas Abdeckung über Hautunreinheiten und verzierte meine Augen. Hätte ich mir auch sparen können.
„Kommst du, Sara?“
„Natürlich, Lukas!“, trällerte ich, verdrehte die Augen und verließ das Bad mit meiner Handtasche.
Wir fuhren in ihrem Auto zum Probenraum. In ihrem Auto. Die Fahrt war die Hölle. Die ganze Zeit erzählten sich Lukas und Kiki irgendwelche Anekdoten und Insider von früher, die ich nicht verstand und die mich beunruhigten. Um überhaupt irgendwas zum Gespräch beizutragen, sprach ich Kiki auf die ersten beiden Buchstaben ihres Autokennzeichens an, die weder auf Frankfurt noch auf unsere Heimat lauteten.
„Oh, das!“ Sie lachte. „Ich dachte schon, dass du danach fragst.“
Ach, echt?
„Das hat das Kennzeichen von dort, wo meine Oma wohnt. Die hat mir nämlich ihr Auto überlassen.“
„Aha.“
„Ach, du weißt doch noch, damals, wo wir deine Oma zum ersten Mal besucht haben?“, rief Lukas aus.
„Ja!“, antwortete Kiki nicht weniger laut. „Und dann hast du doch…!“ Gelächter. „Und dann hab ich…!“ Noch mehr Gelächter. Das ging einige Minuten so. Wenn wir nicht angekommen wären, hätten sie noch weiter gelacht. Kiki wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht und rief: „Hach, war das lustig!“
Ja, wahnsinnig lustig.
Die Bandmitglieder machten ihre typischen Männerumarmungen mit Patschehändchen auf den Rücken. Um Kiki kümmerten sie sich alle besonders. Ich bekam aufmerksame Blicke und Äußerungen wie „Du bist also die, nach der wir so lange gesucht haben!“ mit. Wie konnten sie auch anders. Klar. Ich lachte auf.
Ich setzte mich auf einen Stuhl und die Bandmitglieder positionierten sich um ihre Instrumente.
„Okay, wir probieren heute ein neues Stück aus“, kündigte Lukas an.
„Welches denn?“
„Ich dachte, wir nehmen Velvet in unser Programm auf“, informierte er mich. Ich freute mich darüber, dass die Students das Stück spielen wollten, denn es gehörte zu meinen Lieblingsliedern. Weniger erfreut war ich darüber, dass er es mit Kiki als Backgroundsängerin aufführte.
Und dann machte Kiki ihren Mund auf. Mir blieb der Mund offen stehen. Ich kam nicht umhin, den Gesang, der ihr entströmte… schön zu finden.
Sie brachte die Melodie so unheimlich schön herüber – ich dachte fast, jemand hätte das Radio angestellt. Bezüglich ihrer Fähigkeiten am Bass konnte ich nur das Gleiche behaupten.
Weil das Stück mehrmals geübt wurde, hatte ich noch mehr Gelegenheit, dies zu erfahren. Und danach standen ja noch viele andere Stücke auf dem Programm. Eigene und gecoverte. Sie meisterte sie alle brilliant.
Nach ungefähr einer Stunde machten die Students kurz Pause. Sie klopften sich alle auf den Rücken. Bei Kiki bekam es noch eine anerkennende Note.
Ich ging zu ihr hin.
„Wow, du hast wirklich toll gespielt!“
„Vielen Dank!“ Sie strahlte mich an. „Hab mir auch echt Mühe gegeben. Ist schließlich meine erste Probe.“
„Ja, beim ersten Mal strengt man sich immer besonders an, was?“
„Genau!“
„Bitte entschuldige mich, ich muss mal kurz für kleine Mädchen!“
„Klar, kein Problem!“
Ich suchte die nächstgelegene und dafür geeignete Örtlichkeit auf, riss die Hose runter, pinkelte und dachte nach.
Hatte ich vorhin übertrieben? Ich meine, wenn sich alte Bekannte wiedersahen, war es wohl ganz normal, dass man beisammen saß und sich über alte Zeiten amüsierte. Warum sollte das nicht auch bei Expartnern gehen? Und sie hatte ja wirklich große musikalische Talente. Warum sollte sie nicht mit Lukas in einer Band spielen? Da lief doch überhaupt nichts. Was dachte ich mir da nur wieder?
Ich lachte über meine eigene Dummheit, ging mir die Hände waschen und danach Richtung Probenraum.
Mir blieb das Herz stehen.
Schlagartig versuchte ich mir einzureden, man sehe gegen das Licht eh nichts und das sei nur eine Umarmung. Aber das war doch eh alles Selbstbetrug. Es war deutlich zu sehen, dass Kiki Lukas‘ Kopf in beiden Händen hielt und ihn küsste.
Absurderweise dachte ich daran, meine Handtasche mitzunehmen, bevor ich die Tür zuknallte und den Flur runterrannte.
„Sara! Bleib doch hier, ich liebe dich doch!“, rief Lukas hinter mir her. „Na toll, bist du froh, dass du alles kaputtgemacht hast?“, bildete ich mir noch ein, zu hören, aber da war ich schon fast weg.

Ich hatte das Glück, dass ich bei Nachhausekommen allein war. Ich blieb auch eine ganze Weile allein. Ich knallte mich auf die Küchenbank, als Unterlage für meinen Kopf diente die Handtasche. Einfach nur daliegen und auf die Decke starren. Hatte ich auch schon lang nicht mehr gemacht.
Die Tür klingelte, das war mir egal. Das Telefon klingelte, das war mir egal. Mein Handy war mir erst recht egal.
Blöde Schlampe. Blöder Idiot. Wieso hatte ich das nicht verhindert? Blöde Schlampe. Blöder Idiot.
Ganz ohne dass ich es merkte, wurde es dunkel. Genauso wie man lange nicht merkt, wie die eigenen Haare wachsen. Die Sonne sank, irgendwann taten es meine Augenlider ihr gleich. Jedenfalls schreckte ich hoch, als das Licht anging und Anna in der Tür stand.
„Was machst du denn hier?“
„Oh, äh…“ Ich sah mich um und rieb meine leicht feuchten Augen. „Es war so heiß in meinem Zimmer, da dachte ich, ich verzieh mich in die Küche.“
Mit hochgezogener Augenbraue entgegnete sie: „Wie wär’s erst mal mit Schuhe und Hose ausziehen? Und ich bin mir sicher, es gibt bessere Kühlungsmethoden, als die Wasserproduktion im Auge einzusetzen.“
Ich schluchzte los.
„Hey, was ist denn los? Das war doch nicht so gemeint. Was hast du denn?“ Anna setzte sich neben mich.
Zuerst kamen nur unzusammenhängende Leute aus mir raus.
„Was ist denn los? Erzähl’s mir doch.“ Anna streichelte mir die Wange.
„Dieser Idiot von Lukas und diese verdammte Schlampe von Kiki haben geknutscht!“
„Oh mein Gott! Wann ist das denn passiert?“
„Heute Nachmittag bei der Bandprobe. Ich hätt’s wissen müssen. Die haben sich ja schon so toll amüsiert heute!“, murmelte ich düster.
„Was meinst du damit?“, fragte Anna.
„Ha! Die haben sich so viel erzählt… so viel zusammen gelacht! Und dann…“ Ich schluchzte wieder. „Wieso tut er mir so was an?“
„Ich glaube nicht, dass er Gefühle für diese andere Frau hat.“
„Woher willst du das denn bitte wissen?“
„Ich bin mir sicher, dass er dich liebt. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass sie ihn überrumpelt haben könnte?“

„Wie meinst du das?“
„Ich will mal so fragen: Wie war denn seine Körpersprache bei dem Kuss?“
„Denkst du, ich hab darauf geachtet?“
„Sprich doch auf jeden Fall erst mal mit ihm. Ich bin mir sicher, ihr könnt das alles klären, vorausgesetzt, ihr sprecht miteinander.“
„Ich weiß noch nicht, ob ich das will.“ Ich entleerte meinen Nasenrotz lautstark in ein Taschentuch. „So, und jetzt geh ich richtig schlafen. Gute Nacht.“ Raus aus der Küche. Zimmertür zu. Welt aus.

Geschützt: Untersuchung einer „Bravo Girl“

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Bedeutungsschwanger, Teil 2

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Den Nachmittag verbrachte ich damit, laut Musik zu hören. Hauptsächlich deshalb, weil mein Bruder dasselbe tat. Laute Musik war im Prinzip das Einzige, was gegen laute Musik half. Auch wenn meine Eltern das nicht einsehen wollten und es weiterhin mit Ermahnungen versuchten. Wenigstens gaben die restlichen Familienmitglieder Ruhe.
Irgendwann brüllte ich „Tschau!“ ins Zimmer meines Bruders, verabschiedete mich von allen anderen Familienmitgliedern herzlich und ging zurück zum Bahnhof. Ich war ziemlich gut drauf.
Ich wollte mich nämlich mit Lukas treffen. Das war zuletzt irgendwie untergegangen, im Uni-Stress et cetera. Jetzt hatten wir endlich frei. Aber das war nicht der einzige Grund, warum wir uns treffen wollten.
Er hatte mich vor drei Tagen aufgeregt angerufen und gesagt, es gäbe wunderbare Neuigkeiten. Und dass er mich zum Essen einladen wollte. Ich konnte mir nun überhaupt nicht vorstellen, worum es ging, aber ich freute mich auf jeden Fall auf einen schönen Abend mit meinem Freund.
Vor dem Rendezvous machte ich noch einen Zwischenstopp in der WG, um mich ein wenig aufzuhübschen. Ich wollte ja gut aussehen. Ich lief die knapp über siebzig Stufen hoch, öffnete die Tür und ließ die Tasche auf den Boden fallen. Im selben Augenblick streckte Anna den Kopf durch ihre Zimmertür. „Hi, Sara! Na, wie geht’s?“ Mir fielen sofort ihr Elan und ihre gute Laune auf, die in ihrer Stimme lagen. Dann schritt sie auch noch aus der Tür und drehte sich einmal im Kreis. „Na, wie findest du mein neues Outfit?“
Mir blieb der Mund offen stehen. „Wow, du siehst unglaublich aus!“
In der Tat konnte ich es einfach nicht glauben. Anna hatte ihr Erscheinungsbild komplett verändert. Normalerweise immer in der klassischen Sweatjacke-Jeans-Kombination gekleidet, war sie jetzt in ein rosafarbenes, ärmelloses Kleid und Ballerinas verpackt. Und das war nicht alles. Statt die Haare wie üblich in ein Haargummi nach hinten zu binden, waren sie offen. So fiel mir erst auf, wie lange Haare Anna eigentlich hatte. Sogar ihre Brille hatte sie weggelassen. Trug sie Kontaktlinsen? Jedenfalls musste Anna ihre Augen nicht zusammenkneifen, um mich zu sehen.
Wieso hatte sie sich so verändert? „Wow, du hast deinen Stil komplett verändert… was ist los?“
„Ach, ich fühle mich so glücklich, ich könnte die Welt umarmen!“, freute sich Anna und tänzelte auf dem Flurteppich herum. Das war für sie höchst ungewöhnlich. Nicht, dass sie sonst immer rumlief wie sieben Tage Regenwetter, aber explosiv gute Laune kam nun auch nicht gerade oft vor…
„Was ist denn los?“
„Ich habe gleich ein Date!“
Anna ein Date? Das war aber nun wirklich ungewöhnlich. In den fast zehn Jahren, die ich sie nun schon kannte, hatte sie sich noch kein einziges Date gehabt. Sie war nicht mal verliebt gewesen. Klar, ein bisschen verknallt schon, aber nie war es was Richtiges gewesen. Ich hatte ja auch sehr lange liebestechnisch nichts am Laufen gehabt, aber ich war ja immerhin tausend Mal verliebt gewesen…
„Ich freue mich schon so. Sehe ich eigentlich hübsch aus? Oder soll ich doch noch mal ein anderes Teil anprobieren?“
„Du siehst toll aus. Aber mit wem hast du dich denn verabredet?“
Annas Gesichtsausdruck rutschte ins Eigenartige. So zwischen geheimnisvoll und glücklich. „Ist ein Geheimnis!“, sagte sie dann auch dazu passend. „Ich will das erst sagen, wenn was draus wird.“
„Wieso? Hast du eine Affäre mit einem Politiker und keiner soll’s erfahren?“
„Nee, aber es ist eben mein Geheimnis.“ Ihr Lächeln verschwand kurz, um gleich darauf wiederzukommen. „So, ich muss gleich los, ich hoffe –“ In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. „Ja? – Ja, ich bin’s, was gibt’s?“ Sie verschwand in ihrem Zimmer…
Wieso zur Hölle verschwand sie zum Telefonieren in ihr Zimmer? Das hatte sie doch sonst auch nicht für nötig gehalten. Was hatte das nur wieder alles zu bedeuten?
Kopfschüttelnd ging ich in mein Zimmer, zog mein kleines schwarzes Kleid mit den Pailletten drauf an und schminkte mein Gesicht ein bisschen. Gerade, als ich mein Spiegelbild ein letztes Mal betrachten wollte, flog die Tür plötzlich auf und Anna stürmte herein. „So, ich muss jetzt los. Ich freu mich schon so auf sie! Äh, ich meine, auf die Person. Bis dann!“ Drückte mir einen Schmatzer auf die Wange und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.
Meine beste Freundin verhielt sich so irre wie noch nie. Ich hatte aber auch nicht mehr viel Zeit, um darüber nachzudenken, denn schon klingelte Lukas an der Haustür, um mich abzuholen.

Er hatte sich einen Anzug angezogen, worüber ich mich sehr freute. In Anzügen sah er nämlich unheimlich gut aus. Ob das der einzige Grund war, aus dem er jetzt in Schwarz und Weiß und Krawatte steckte?
Vorm Restaurant stiegen wir von seinem Roller runter. „Ist irgendwas?“, fragte Lukas. „Du siehst so konfus aus.“
„Schon gut, reden wir gleich drüber.“
Das Restaurant war ziemlich schick. Ich war fast ein bisschen eingeschüchtert.
„Wie war denn dein Tag, Sara?“, fragte Lukas mich, als wir uns auf den Stühlen niederließen.
„Ach, frag nicht.“
„Wieso, was war denn los?“
„Meine Familie spielt verrückt und Anna dreht durch vor Liebe.“
„Was haben sie denn gemacht?“
Ich trank einen Schluck Orangensaft. „Die werdenden Eltern streiten sich über jeden Scheiß zur Zeit. Sogar über so lächerliche Sachen wie die Wandfarbe fürs Kinderzimmer. Lea will Rosa, Gero ist dagegen. Und was alles noch schlimmer macht: Oma will unbedingt, dass die beiden heiraten.“ Ich sprach das Wort so aus, als hielte ich das für etwas total Schlimmes.
„Was ist denn daran so schlimm?“, fragte Lukas und zuckte mit den Achseln.
„Keine Ahnung“, antwortete ich und zuckte nun meinerseits mit den Achseln. „Die beiden sind vielleicht auch nicht so unbedingt fürs Heiraten… Aber vielleicht hätten sie sich noch dazu entschlossen, wenn Oma jetzt nicht so angekommen wäre. So waren sie natürlich dagegen. Du weißt ja, besonders Lea hasst es, wenn man ihr etwas aufzwingen will.“
„Naja, um ehrlich zu sein, hätte ich das schon erwartet bei deiner Oma“, gab er zu. „Sie kommt halt noch aus einer Generation, in der das so üblich war. Und jetzt muss ihrer Meinung nach das Kind wohl legitimiert werden.“
„Tjaja, da hast du wohl Recht“, pflichtete ich ihm bei. „Jedenfalls gab es zu Hause einen Riesenzoff. Und was alles nicht besser gemacht hat, war Pauls verspätetes Erscheinen beim Essen. Der Kleine kommt wohl grad in die Pubertät und so, jedenfalls soll so was in letzter Zeit häufiger vorkommen. Und er läuft jetzt rum wie einer dieser Unterstufengangster.“
„Buah, schrecklich!“ Lukas verzog sein Gesicht.
„Ja, das kannst du wohl sagen. Und natürlich hat er auch so ein Monsterhandy. All das hat natürlich nicht dazu beigetragen, die Stimmung zu heben.“
„Kann ich mir lebhaft vorstellen.“
Jetzt brachte uns die Kellnerin die Vorspeise. Sie schmeckte sehr gut. „Ich freue mich, dass du mich zum Essen eingeladen hast. Haben wir schon länger nicht gemacht“, sagte ich und lächelte ihn an. Er nahm meine Hand. „Ja, und es ist nicht einfach so. Ich habe tolle Neuigkeiten!“
„Echt? Welche denn?“
„Es ist so unglaublich!“
„Na, was denn? Nun erzähl schon!“, forderte ich Lukas ungeduldig und lächelnd auf.
Er schien zu zögern. Schließlich entschloss er sich aber doch dazu, es mir zu erzählen. „Erinnerst du dich noch daran, wie ich mit diesem Typen gesprochen habe, dem der Club in der Rosenstraße gehört?“
„Ja, warum?“
„Er fand uns total cool und wir werden bald regelmäßig dort auftreten! Jeden Freitagabend!“
„Wow, das ist ja toll!“ Ich freute mich für ihn.
„Und das ist noch nicht alles: Wir haben endlich einen neuen Bassisten!“
Jetzt hechtete ich so halb über den Tisch, um ihn zu drücken. Dabei hätte ich fast meinen Orangensaft umgestoßen. Lachend setzte ich mich wieder hin. „Das sind ja wirklich gute Neuigkeiten!“
„Hast du nicht Lust, zur ersten Probe vorbeizukommen? Ich bin mir sicher, du würdest dich mit ihr verstehen.“
„Mit ihr?“ Ich war verwundert.
„Ja. Es ist eine Sie.“
„Gibt ja nicht viele Frauen, die Bass spielen, oder? Wie heißt sie denn?“
„Kiki.“
Kiki, bei dem Namen klingelte irgendwas in meinem Kopf, ich konnte aber nicht genau sagen, was.
„Entschuldigst du mich bitte kurz? Ich muss eben für kleine Jungs“, sagte Lukas plötzlich. Zerstreut antwortete ich: „Jaja, geh nur.“ Dann setzte ich meine Gedanken fort…
Kiki, wieso kam mir dieser Name bekannt vor?
War es jemand, den er aus der Schule kannte? Aus der Uni? Eine Verwandte?
Lukas kam zurück und rieb sich freudig die Hände. „Du glaubst mir gar nicht, wie sehr ich mich auf die erste Probe freue! Echt super, dass ich Kiki wieder getroffen habe. Und was wir uns nicht alles zu erzählen hatten! Nach all der Zeit.“
Und da fielen mir die Tomaten von meinen Augen.
Kiki war seine Exfreundin.
Im Gegensatz zu mir hatte er vor mir schon Beziehungen gehabt, und ich wusste das. Es hatte mich im Grunde nie besonders interessiert. Aber jetzt wurde ich doch unruhig…
„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass Kiki deine neue Bandkollegin ist?“
„Wieso sollte ich?“ Er schien unsicher.
„Wieso solltest du“, echote ich. „Vielleicht, weil es mich doch ein klein bisschen interessiert, wenn du mit deiner Exfreundin ZUSAMMENSPIELST?“
„Bitte beton das Wort nicht so!“
„Wie denn sonst?“
„Sara!“, rief er. Er ergriff meine Hand. „Bitte. Sie ist nur eine gute Freundin. Da passiert nicht. Sie hat doch selbst einen Freund. Ich würde doch nie eine andere wollen als dich!“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich. Ich liebe dich doch, wie könnte ich da je was mit einer anderen anfangen?“

Krümelmonster, Teil 29

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Der Mann stand vor mir. Im entfernten Licht der Straßenlaterne enthüllte sich mir endlich seine Identität. Lukas. Er hatte mich gesucht.

„Was ist passiert?“, fragte er erschrocken.

„Ich bin gestürzt. Diese doofen Schuhe“, schniefte ich und wischte mir über das Gesicht. Mit dem Erfolg, dass ich Make-up in den Händen hatte. Na super.

„Kannst du aufstehen?“

„Ich glaube nicht“, sagte ich. Lukas nahm mich unter den Schultern und hob mich hoch. „Du solltest jetzt nicht dein rechtes Bein belasten“, riet er mir. „Hier hast du ein Taschentuch.“ Er gab es mir und hob meinen rechten Schuh auf. Kritisch musterte er ihn. „Ich hab sowieso nie verstanden, warum Frauen so etwas tragen.“

„Weil sie gut aussehen wollen. Für die Männer zum Beispiel.“

„Und du hast dir ganz viel Mühe gegeben.“

„Wie kommst du darauf?“ Ich schnäuzte mich laut ins Taschentuch.

„Na ja, du trägst solche Schuhe, obwohl sie brandgefährlich sind, du hast ein aufwändiges Make-up und beim Frisör warst du wohl auch.“

„Ja, und es war alles umsonst! Du willst mich ja gar nicht mehr haben.“

Jetzt war er damit dran, zu fragen: „Wie kommst du darauf?“

„Du hast mich einfach weggeschickt!“

„Aber doch nur, weil das Konzert anfing.“ Er streichelte mir über die Schulter. „Glaub mir, wenn wir einen Termin nicht punktgenau einhalten, können die aus der Band ganz schön stinkig werden. Besonders Tobias.“ Ich zitterte. Und das lag immer noch nicht an der Kälte. „Aber es war nicht nur, weil du mich weggeschickt hast. Ich habe mich dir gegenüber so fies verhalten. Da konntest du ja gar nichts mehr von mir wollen. Es muss wirklich so ausgesehen haben, als wollte ich nur Hannes und nicht dich. Aber das stimmt nicht“, sagte ich.

„Meinst du das wirklich ernst?“

Ich war mindestens so aufgeregt wie bei der Notenvergabe fürs Abitur. „Ja“, flüsterte ich. Und ich zitterte weiter fürchterlich.

„Wird dir kalt?“

„Ich glaube schon…“

Lukas zog sein Sakko aus und legte es mir um die Schultern. „Besser?“

„Darf ich dich was fragen?“

„Das hast du hiermit schon getan“, antwortete ich schief grinsend.

Lukas grinste zurück. „Warum bist du einfach weggelaufen?“

„Weil du dieses doofe Lied gespielt hast.“ Ich sah auf den Boden. „Mit einem noch blöderen Text.“

„Das hat sich Kati für dich gewünscht.“

„Wie, sie war das?“

„Nein“, erklärte er, „eigentlich wollte sie nur, dass ich dir sage, was ich wirklich für dich empfinde. Ich habe dir in die Augen gesehen, als ich es dir… na ja… gesagt habe.“

„Ja? Aber was wolltest du mir damit sagen?“, stotterte ich. Er beugte sich vor und flüsterte mir etwas ins Ohr. Was sagte er da?

„Ich liebe dich.“

Jetzt konnte ich nicht mehr anders, ich musste ihn küssen. Mehrere Minuten standen wir da und küssten uns, unsere Lippen und unsere Zungen berührten sich, und ich strich leicht durch seine Haare.

Eine halbe Ewigkeit später humpelte ich an seiner Seite zurück zum Ball. „Weißt du, was mir aufgefallen ist?“, fragte Lukas.

„Was denn?“

„Na ja, das Tuch, das ich umhatte… Es roch nach dir.“

„Ach, ich hab es doch mit zu mir genommen, als du es bei dem Auftritt vergessen hast.“

„Ich hatte es danach die ganze Nacht bei mir“, verriet Lukas mir.

„Ach, du bist süß“, rief ich und küsste ihn gleich noch mal.

„Ja“, rief auf einmal jemand ganz laut. Verwundert lösten wir uns voneinander – und da liefen nacheinander Aurélie, Anna, Kati und Tobias auf uns zu.

„Mensch, Sara, wieso bist du denn gerade einfach weggelaufen? Es tut mir wirklich Leid, dass ich so doof zu dir war. Ich hab jetzt auch gemerkt, warum du so abgelenkt warst“, lachte sie.

„Ja, der Grund steht neben mir“, antwortete ich. Wir lächelten uns an.

„Aber jetzt komm endlich rein! Wir müssen tanzen!“, befahl Anna und zog an meiner freien Hand. „Hey, vorsichtig! Sie ist gerade gestürzt, sie kann jetzt noch nicht so schnell laufen“, rief Lukas.

„Aber warum ist denn dein Make-up so im Eimer? Komm mit, ich helf dir, es aufzufrischen.“ Jetzt wollte Kati mich zurück ins Unigebäude ziehen.

„Hey, nicht so schnell!“, versuchte ich, sie zu beruhigen. „Das Make-up ist gerade echt nicht so wichtig.“
„Na klar“, lachte Kati. „Na dann, bis gleich, ihr Turteltauben!“

„Nix da ‚bis gleich‘!“, meldete sich da Tobias lautstark zu Wort. „Wir müssen jetzt wieder anfangen, zu spielen! Die Leute warten schon!“

„Tobi?“

„Ja?“

„Du singst doch drei der Lieder. Können wir die nicht einfach vorziehen?“

„Na gut. Aber nur ausnahmsweise.“ Skeptisch sah er uns an und verzog sich dann auf seinen Platz auf der Bühne.

Die Band fing unter dem tosenden Applaus der Gäste wieder an zu spielen. Anna tanzte mit dem Unbekannten, Aurélie mit Freddy, und ich tanzte mit Lukas. Ganz vorsichtig natürlich, aber es klappte wieder. Wir machten sowieso hauptsächlich Engtanz. Und es gefiel mir unheimlich gut. Wir hatten nur Augen füreinander, auch, als er nach drei Liedern auf die Bühne zurückmusste.

Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass Hannes uns beobachtet hatte. Er wollte auf mich zugehen, doch kurz, bevor er mich hatte, schnappte Kati ihn sich einfach und wirbelte ihn herum. Ich lachte, sie lachte zurück und zeigte mir das Peace-Zeichen.

Die nächsten Tage konnten Lukas und ich nicht voneinander lassen. Ich war richtig traurig, als wir uns am 24. Dezember gegen Mittag verabschiedeten, weil wir getrennt voneinander Weihnachten feierten. Jeder bei seinen Eltern.

„Sei nicht traurig“, tröstete Lukas mich, „in drei Tagen sehen wir uns doch schon wieder.“

„Ja, das ist wahr. Treffen wir uns hier am Bahnhof?“
„Ja, ich hole dich vom Zug ab. Bis dann, Sara, ich glaube, mein Zug fährt gerade ein.“

„Bis dann!“ Nach einem dicken Abschiedskuss musste ich ihn gehen lassen und steuerte mein Gleis an.

Als ich zu Hause ankam, steckten alle schon in den Vorbereitungen für den Kirchbesuch. Oma war katholisch, aber sie hatte es weitgehend aufgegeben, uns in die Kirche zu zerren. Bis auf Heiligabend, da mussten wir alle los. Da gab es keinen Weg dran vorbei. Normalerweise finde ich das ziemlich nervig und schimpfe mindestens genauso darüber wie mein kleiner Bruder Paul. Doch an diesem Abend brachte ich alles ganz fröhlich hinter mich.

Nach dem Kirchbesuch gab es die Geschenke. Alle freuten sich riesig über das, was ich ihnen gekauft hatte. Papa fand, das Bild würde prima in seine Kanzlei passen. Oma freute sich über die Malsachen, Paul über das Spielzeugauto, Mama über das Buch und Lea und Gero freuten sich über die Babysachen.

„Du hast noch keins von deinen Geschenken aufgemacht“, rief Paul.

„Stimmt.“ Wieso eigentlich nicht? Ein Paket nach dem anderen wurde von mir geöffnet. Oma schenkte mir einen schicken Terminkalender („Damit du deine Uni nicht vergisst!“), von meinen Eltern bekam ich einen schön warmen Pullover, Lea schenkte mir eine CD und Paul übergab mir ein selbst gemaltes Bild. Es sah wunderschön aus.

Später am Abend saßen wir alle noch bei einem Glas Wein, oder in Leas und Pauls Fall Mineralwasser, und Weihnachtsliedern beisammen und unterhielten uns.

„Ich habe euch neutrale Babysachen gekauft, weil ich nicht wusste, ob ihr einen Jungen oder ein Mädchen kriegt“, sagte ich.

„Das ist voll in Ordnung“, meinte Gero. Und Paul wollte natürlich wissen: „Was ist es denn jetzt? Hoffentlich bekommt ihr einen Jungen!“

„Paul, du musst jetzt langsam ins Bett. Es ist schon viel zu spät“, ermahnte Mama ihn und wollte mit ihm nach oben in sein Zimmer gehen.

„Ich bin doch kein kleines Baby mehr“, meckerte er.

„Einmal darf er doch länger aufbleiben, oder? Schließlich wird er nicht alle Tage Onkel“, bestimmte Papa. Worauf Paul sich wieder setzen durfte.

„Also“, begann Lea, „wir haben vor zwei Wochen einen Test beim Arzt gemacht und der hat uns das Geschlecht des Babys verraten.“ Sie sah ihn an. „Willst du oder soll ich?“

„Du kannst.“

„Also, es wird ein Mädchen!“

Alle freuten sich. Bis auf Paul, der schmollte ein bisschen. „Hurra, es wird ein Mädchen!“, freute sich Mama und wir freuten uns mit ihr.

„Wir wissen auch schon, wie es heißen soll und wer Patentante wird!“, rief Gero.

„Ja, wie denn? Wer denn?“, erkundigte ich mich neugierig.

„Na ja, eigentlich haben wir uns überlegt, dass du die Patentante wirst und dass wir das Kind nach dir benennen“, verriet Gero.

„Oh mein Gott“, rief ich. Auf einmal wurde mir ganz blümerant. Ich merkte nur noch, wie meine Schwester rief: „Sara? Oh nein, nicht schon wieder!“ und vom Sofa ganz schnell zu mir stürzte.

Krümelmonster, Teil 27

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Die nächsten anderthalb Wochen machte ich nur Dienst nach Vorschrift. Ich ging brav zur Uni, schrieb in den Vorlesungen mit, ansonsten versteckte ich mich in den Vorlesungssälen bzw. zu Hause. Ich lachte kaum, sprach außerhalb der Veranstaltungen niemanden an und Nachfragen von meinen Freundinnen watschte ich mit Angst vor den Klausuren im Januar ab. Und die glaubten mir das auch noch, aber vielleicht wollten sie auch einfach nicht nachfragen.

Lukas sah ich in der Zeit nicht einmal. Aber ich musste ständig an ihn denken, vor allem, wenn ich mal wieder an einem der zahllosen Plakate vorbeilief, die den Weihnachtsball ankündigten. Wieso mussten die überall hängen und mich daran erinnern, was für ein Scheißmensch ich war?

Ein paar Tage vor dem Ball hing ich emotionslos im Gesicht und mit lauter Gedanken im Kopf auf meiner hässlichfarbenen Sitzschale herum, als Kati zu mir in den Vorlesungssaal kam. Sie wirkte ziemlich atemlos.

„Was ist denn?“, fragte ich ungeduldig. „Die Vorlesung fängt gleich an.“

„Ich weiß, ich hab dich schon überall gesucht. Man sieht dich ja in letzter Zeit nirgendwo. Hier ist jedenfalls deine Ballkarte.“ Sie reichte mir ein bunt bemaltes Teil, auf dem Eintrittskarte für den Weihnachtsball der Universität Frankfurt stand.

„Hör mal, ich hab dir schon gesagt, ich will da nicht hin“, rief ich und warf ihr das Teil wieder entgegen.

„Und ich hab dir schon gesagt, du darfst dich nicht verstecken“, entgegnete Kati und setzte sich neben mich. „Wenn du Lukas wirklich haben willst, musst du mit ihm sprechen. Du darfst dich nicht in deinem Schneckenhaus verkriechen. Also: Komm zum Ball. Ich schenk dir auch die Karte, wenn’s sein muss.“

„Ich will da nicht hin. Und überhaupt, wer hat gesagt, dass ich ihn wirklich haben will?“

Kati sah mir tief in die Augen.

„Okay, du hast Recht“, gab ich zu, „aber er wird doch eh die ganze Zeit auf der Bühne stehen.“

„Irgendwann wird die Band Pause machen“, warf Kati ein. Vorne an der Tafel stellte sich der Dozent bereit. „Na ja, ich muss jetzt in meine Vorlesung. Hier ist die Karte, du kannst es dir ja noch mal überlegen. Aber du solltest wirklich dort hinkommen. Ich werde jedenfalls da sein.“ Und weg war Kati.

Jeder kennt sicher das Gefühl, etwas zu machen, das man überhaupt nicht will. Nie habe ich dieses Gefühl tiefer empfunden als an diesem Tag. Mittags rauschte ich aus der Uni, ohne Mittagessen, nur um anderthalb Stunden beim Frisör zu sitzen für einen Termin, den ich gar nicht wahrnehmen wollte. Ich sah ihm dabei zu, wie der Mann meine Haare zu einer Hochsteckfrisur auftürmte und mein Make-up erledigte, und wollte ihm die ganze Zeit sagen, dass er sich die Mühe eigentlich sparen konnte. Ich sprühte mich mit meinem schönsten Parfüm ein und hüllte mich in mein tolles Abendkleid und dachte: Wozu das alles? Hat doch eh keinen Sinn. Ich will da nicht hin. Hey, das reimte sich.

Um mich herum war alles still. Ich sah in den Spiegel, in mein geschminktes zwanzigjähriges Gesicht, im selben Kleid wie vor anderthalb Jahren beim Abiball, und überlegte, wie der Abend heute wohl aussah. Ich wusste ganz genau, dass er beschissen werden würde.

In der U-Bahn zur Uni starrten mich alle an. Nun, es war wohl nicht alltäglich, dass sich eine junge Frau in so einem Filmstaroutfit (als ob ich wie einer aussähe…) in ein öffentliches Verkehrsmittel setzte. Ich wünschte, ich hätte mich mit dem Auto bringen lassen. Tja, zu spät. Fing ja schon gut an, der Abend. Ich war froh, als ich endlich wieder aussteigen konnte… und auch wieder nicht. Ich steckte nämlich nicht nur im selben Kleid wie beim Abiball, ich war auch mindestens genauso aufgeregt.

Was das Ganze nicht besser machte, war die komplette Aufmachung der Uni. Sie hatten sogar einen roten Teppich vorm Eingang hingelegt. War ich hier in Frankfurt am Main oder in Hollywood? Viele Studentinnen standen aufgebrezelt und mit Sektglas in der Hand herum und quatschten. Die Jungs trugen Anzüge und helle Biere.

Ich zitterte. Und das lag nicht an der Kälte. Am Eingang zeigte ich meine Eintrittskarte vor und bekam ein Sektglas in die Hand gedrückt. Für alle Ladys umsonst, wie mir der Kellner erklärte. Na dann. Ich kippte sofort einen ordentlichen Schluck herunter und sah mich erst einmal um.

Auf der Bühne stand noch niemand herum, aber alle Instrumente und die Anlagen waren schon aufgebaut. Das Mikrofon auch, und die Leadgitarre stand auf einem Ständer daneben. Ich seufzte laut.

„Hey, Sara! Endlich sieht man dich mal wieder!“

„Ja, da hast du wohl Recht. Hallo, Anna“, begrüßte ich sie und bemühte mich um ein Lächeln.

„Was war denn los? Hast du wirklich solche Probleme mit den Klausuren?“

„Ich hab jetzt keine Lust, noch mal darüber zu reden. Jedenfalls scheint Lukas jetzt zu denken, ich wäre nicht an ihm interessiert, sondern an dieser Pappnase von Hannes.“

„Stimmt das denn?“

„Nein!“, rief ich und trank noch einen Schluck Sekt. Mir fiel auf, dass die Flüssigkeit in Annas Glas orange war. „Was hast du denn da?“

„Ach, ich habe den Kellner gebeten, mir etwas ohne Alkohol zu geben. Deswegen bekam ich Orangensaft“, erläuterte Anna.

„Musst du heute fahren?“

„Ich weiß auch nicht, wieso ich mich dazu breitschlagen ließ. Aber ich habe versprochen, Aurélie und Freddy auf dem Heimweg mitzunehmen.“

„Wo sind die eigentlich?“

„Die kommen später. Sag mal, du bist wohl ziemlich aufgeregt, was?“

„Ja, ich wollte mit Lukas reden. Würde mich wundern, wenn er das noch will, nach dem, was passiert ist.“

„Willst du mir wirklich nicht erzählen, was mit euch war?“

„Na schön, komm mit, ich sag’s dir.“

Auf der Toilette sagte ich dann: „Ich habe ihm erzählt, dass Hannes und ich miteinander geschlafen haben und er mich dann sitzen ließ, und er hat auch gesehen, wie Hannes und ich miteinander gesprochen haben und ich meinte, wir könnten Freunde bleiben und er mich dann umarmt hat.“

„Oh, das ist wirklich ein ganz schön dicker Hund“, stöhnte Anna. „Deswegen hast du kaum mit uns gesprochen? Aurélie dachte schon, es läge an uns.“

„Nein, das bestimmt nicht. Weißt du“, erklärte ich ihr, „es wird schon wieder nichts. Nur diesmal fühlt es sich… noch schlimmer an als bei Hannes.“

„Hast du mit Lukas eigentlich überhaupt schon mal direkt über die ganze Sache gesprochen?“, fragte Anna.

„Nein.“

„Wie willst du dann überhaupt wissen, dass es nichts wird? So kann das ja nichts werden“, empörte sich meine beste Freundin. „Du musst ihm sagen, dass du Gefühle für ihn hast!“

„Er will auf keinen Fall mehr mit mir reden!“, rief ich nicht weniger laut zurück.“

„Aber du mit ihm! Und das zählt.“

„Na schön, in der Bandpause guck ich mal, ob ich ihn abgreifen kann.“

„Nein, du machst das jetzt!“, befahl sie mir. „Sonst machst du’s nie. Ich bin mit dir jetzt zehn Jahre befreundet, ich kenn dich.“

Sie war ja aufgeladen! „Okay, okay“, beruhigte ich sie.

Vor der Bühne, auf der alle Bandmitglieder – außer Lukas – bereits standen und die Instrumente stimmten, blieben wir stehen. Anna entfernte sich plötzlich Richtung Ausgang.

„Wo willst du denn hin?“, rief ich verzweifelt hinterher.

„Aurélie und Freddy suchen. Ich habe versprochen, am Eingang zu stehen, wenn sie kommen!“

Na super. In meinem Hals steckte ein Kloß, der viel dicker war als die, die Oma sonntags immer zum Mittagessen kochte.

Ich rief zum Bassisten herüber: „Habt ihr Lukas gesehen?“ Doch der hörte mich nicht. Kurzerhand stieg ich auf die Bühne.

Der Bassist rief: „Ey, du…“

„Ich habe einen Namen. Ich heiße Sara.“

„Gut, ich heiße Tobias. Also, Sara, eigentlich darfste hier nich‘ drauf stehen.“

Ich ignorierte seinen Einwand. „Kann ich zu Lukas? Ich muss dringend mit ihm sprechen.“

Seine Augen hellten sich auf. „Lukas? Na klar. Der hat in den letzten Tagen nur noch über dich geredet.“

„Echt?“

„Moment, ich hol ihn mal eben.“ Er ging nach hinten… und kam nach ein paar Minuten mit Lukas zurück. Mein Herz schlug so doll, dass es nicht gesund sein konnte.

„Sie wollte mit dir sprechen“, informierte Tobias ihn und dampfte dann wieder ab.

„Also, was willst du von mir?“, fragte Lukas.

Ich schluckte. „Ich wollte dir sagen, dass es mir Leid tut, dass ich dir von Hannes und mir erzählt habe… ich wollte dir damit nicht weh tun. Und dass Hannes mich umarmt hat, geschah gegen meinen Willen. Ich hab ihm gesagt, dass wir Freunde bleiben können, aber er meinte, gute Freunde würden sich umarmen, und dann hat er mich gedrückt. Ich wollte das alles nicht! Ehrlich.“

„Und warum erzählst du mir das alles?“, entgegnete er und hing sich die Gitarre um.

„Weil…“ Die ganze Band starrte mich an. Einige Ballgäste, die unten auf der Tanzfläche standen, ebenfalls. Ich meinte sogar, zu hören, dass die Gespräche leiser wurden.

Krümelmonster, Teil 20

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Nach ein paar Stunden kamen wir auch wieder zurück. Das Erstaunliche war, wir hatten Lea und Gero im Café getroffen. Zuerst wollte ich zu ihnen gehen, aber sie schienen sich ernsthaft zu unterhalten, da wollte ich nicht stören. Ich bekam nur mit, dass Lea bei der Kellnerin „etwas Alkoholfreies“ bestellte. Da hatte ich lächeln müssen. Ob das Gespräch ein Ergebnis gehabt hatte? Wir würden es sehen, hatte ich mir gedacht und nach dem Zahlen einfach gehen wollen. Doch da hatte Lea mich doch noch gesehen.
„Hallo, ihr beiden! Sara, ich wollte dir nur sagen, dass Gero an Weihnachten auch zu uns kommt.“ Er hatte genickt.
„Ähm… okay! Du, wir müssen jetzt dringend zurück in die WG, ich meld mich dann bei dir!“, hatte ich Lea informiert. „Okay, bis dann!“, hatte sie geantwortet. Hatte ich da eine kleine Rundung an ihrem Bauch gesehen?
„Wahrscheinlich wird sie das Baby behalten“, meinte Anna, als ich sie darauf ansprach. „Die beiden wirkten so glücklich zusammen, und sie hat ja extra nur Wasser bestellt.“
„Meinst du?“, fragte ich. „Das weiß man bei Lea nie so genau. Die kann ihre Meinung mal eben so“ – ich schnipste mit den Fingern – „ändern. Das kannst du nicht vorhersehen.“
„Wir werden sehen.“ Mittlerweile waren wir wieder beim Haus angelangt, in dem Anna und Aurélie wohnten. „Jetzt werden wir aber erst mal sehen, ob sich unsere Lieblingsfreunde wieder eingekriegt haben. Deren Meinung zu ändern, ist sicher sehr viel schwieriger.“
„Da hast du wohl Recht“, stimmte ich ihr zu und nahm 2 Stufen auf einmal. „Ich wette, die zoffen sich immer noch.“
„Da könntest du wieder Recht haben. Mal sehen…“ Als wir vor der Wohnungstür standen, war es auffällig ruhig. Wir pressten beide unsere Ohren an die Tür, aber es war nichts zu hören.
Anna schloss auf. In der Wohnung war immer noch nichts zu hören, außer der tickenden Küchenuhr. Wir schlichen zur Stubentür und schlossen sie vorsichtig auf. Und was erblickten wir?
Aurélie und Freddy Arm in Arm, auf dem Fernsehbildschirm lief das Menü von „Die fabelhafte Welt der Amélie“, wahrscheinlich zum hundertsten Mal. Die beiden lagen da und schliefen. Und bei noch genauerem Hinsehen entdeckte ich… unter der Sofadecke, die sie verhüllte, waren beide nackt!
Ich zerrte Anna in ihr Zimmer. „Die haben beide miteinander geschlafen! Im Wohnzimmer!“
„Tja, ich würde mal sagen, das Ganze war ein voller Erfolg. Lass uns schlafen gehen, ich bin echt müde.“
Auf der unbequemen Gästematratze ruhte ich zur Nacht und ich muss sagen: Lange habe ich nicht mehr so gut geschlafen wie damals.

Das konnte ich auch sehr gut brauchen, denn der Tag darauf wurde genauso ereignisreich. Mindestens genauso ereignisreich, würde ich sagen.
In der Uni wurden viele bedeutungsvolle Blicke ausgetauscht zwischen mir und anderen Leuten.
Zwischen Anna und mir, weil sich Aurélie und Freddy endlich wieder vertragen hatten und Arm in Arm die Uni durchquerten. Wir lächelten uns an.
Zwischen Kati und mir, weil wir eine Zweckverbrüderung geschlossen hatten und uns heute Abend deswegen treffen wollten. Verschwörerisch grinsten wir uns einander an.
Zwischen Hannes und mir. Ihn verwunderte es, dass Kati und ich in stetigem Blickkontakt standen und gelegentlich ein Wort miteinander wechselten. Das verstand er nicht. Sollte er auch nicht.
Wie hast du dich entschieden?, fragte sein Blick.
Belästige mich nicht weiter!, antwortete mein Blick.
Aber du bist doch so eine tolle Frau!, entgegnete sein Blick verständnislos.
Und du bist ein Weiberheld, der sich nicht darum schert, ob er anderen Menschen mit seinen Taten wehtut, sagte mein Blick. So einen will ich nicht haben, egal, wie sehr er mich beglückt hat, fügte mein Blick hinzu.
Und so eine hab ich wiederbelebt, ärgerte sich sein Blick.
Dafür bin ich dir auch sehr dankbar, gab mein Blick zurück. Trotzdem will ich dich nicht mehr haben. Das hättest du dir früher überlegen sollen. Damit wandte sich mein Blick ab.
Das war jedoch nicht das Wichtigste, diese Gespräche mit Blicken, die während Politikvorlesungen und auf den Unigängen stattfanden. Das Wichtigste kam erst heute Abend.
Da kehrte ich wieder ins Studentenwohnheim zurück. Dieser Mief hatte mir fast schon gefehlt. Aber nur fast.
Ich warf schnell meine Sachen ins Zimmer und ging dann los zum Zimmer 405, das viel größer als meins war und in dem Kati wohnte. Sie erwartete mich wohl schon, denn ihre Tür war geschlossen und sie hatte eine Tasche aufgesetzt.
„Hallo“, sagte Kati. „Ich muss gestehen, ich bin ganz schön nervös.“
„Ich auch. Hast du alles dabei?“
„Ja, hab ich“, behauptete sie. „Schere, Minischraubenzieher, Zimmerschlüssel, ich hab sogar ’ne Digitalkamera dabei…“
„Wieso das denn?“
„Damit ich alles fotografieren kann“, lachte sie.
„Du hast sogar einen Minischraubenzieher dabei? Wo hast du den denn her?“, wollte ich wissen.
„Denkst du, ich bin ein kleines Püppchen, das nichts selber machen kann? Den hab ich mir vorm Auszug gekauft, falls irgendwas von meinen Sachen kaputt geht“, informierte Kati mich.
Während wir den Flur Richtung Hannes’ Zimmer entlanggingen, flüsterten wir. Wie lächerlich, als ob uns irgendjemand hören könnte. „Hast du den Schlüssel zu Hannes’ Zimmer?“
„Ja, klar. Er hat den, den er für mich hat abziehen lassen, noch nicht zurückverlangt.“
„Sag mal, wie bist du eigentlich in mein Zimmer gekommen damals?“, erkundigte ich mich bei mir.
„Es war nur einmal abgeschlossen“, erzählte sie. „Da brauchte ich bloß meine Kreditkarte durchschieben und schon war ich drin.“
Ich ärgerte mich, dass ich das nicht bedacht hatte. Aber jetzt ging es um wichtigere Dinge.
Mittlerweile waren wir bei seinem Zimmer angelangt. „Bist du dir wirklich sicher, dass er gerade nicht da ist?“, wisperte ich.
„Na klar, er hat um die Zeit immer seinen Sportkurs an der Uni. Dann wollen wir mal.“ Mit diesen Worten schloss sie die Tür auf. Sofort machten wir uns an die Arbeit. „Ich kümmere mich um die Stereoanlage, und du machst seinen Computer an“, befahl Kati. Fachmännisch schraubte sie die Rückseite der Anlage auf.
„Was soll ich denn da tun?“
„Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er morgen eine Hausarbeit abgeben muss. Und so wie ich ihn kenne, hat er die weder ausgedruckt noch auf USB gespeichert“, meinte Kati mit einem diebischen Unterton in der Stimme.
„Du meinst…“
„Ja, genau, ich meine.“
Jetzt tauchte die Passwortabfrage auf seinem Bildschirm auf. „Tipp mal Passwort ein“, verlangte Kati, während sie einige Kabel vertauschte. Ich gehorchte ihr. „Boah, ist der Kerl einfallsreich.“
„Wem sagst du das?“
Normalerweise war ich nicht der Mensch, der daraus Freude bezog, anderen Menschen zu schaden. Doch ich muss gestehen, dass es mir tierischen Spaß machte, all den Quatsch, den er zum Thema Sportpsychologie zusammengeschrieben hatte, zu löschen und beim Schließen des Word-Dokuments auf die Frage „Möchten Sie die Änderungen speichern?“ mit Ja zu antworten.
Eine Weile werkelten Kati und ich noch herum und stifteten Unordnung, wie negative Heinzelmännchen sozusagen. Irgendwann ließ meine Mitverschwörerin ihr Werkzeug sinken und schaute auf die Uhr. „So, wir müssen uns langsam vom Acker machen. In einer Viertelstunde kommt er wieder.“ Sie holte ihren Lippenstift aus der Tasche, malte sich die Lippen rosa an und drückte einen Kuss auf den Monitor. „Hast du auch irgendwas, das du hier zurücklassen kannst?“, wandte sie sich an mich.
„Ja, klar, einen Moment…“, überlegte ich und rannte schnell ins Zimmer. Fein säuberlich breitete ich den mitgebrachten Gegenstand auf seinem Bett aus. Es war das Handtuch, das ich getragen hatte, als Hannes und ich uns in der Dusche begegnet waren.
Zum Abschluss versprühte Kati noch etwas Parfüm im Zimmer und dann verließen wir den Raum. Natürlich schlossen wir die Tür wieder ab.
In meinem Zimmer, dessen Tür wir eine Spur weit offen ließen, legten wir uns auf die Lauer. Es war nicht meine Idee. „Findest du das nicht etwas kindisch?“, fragte ich sie. „Mag sein“, gab sie zurück, „aber ich will sehen, wie er den Schock seines Lebens erleidet.“ Wir müssten beide höllisch lachen.
Da kam Hannes pfeifend den Flur heraufgelaufen, die American-Apparel-Tasche locker über die Schulter gehangen, den Schlüssel schon in der Hand. Er schloss auf und wir konnten sehen, dass er die Tür nicht schloss. Verwirrt betrachtete er das Chaos in seinem Zimmer und schnupperte. Es klang ulkig.
Als Nächstes wollte er wohl, soweit wir das sehen konnten, die Stereoanlage andrehen. Die aber nicht funktionierte. Zunächst fluchte er laut herum. Dann war zu hören, wie er sich über den Lippenstift auf dem Computer wunderte, und es klang schon etwas ängstlich. Er murmelte etwas, das Kati und ich nicht so genau verstehen konnten und tippte auf seinem Handy herum, das er sich ans Ohr hielt. Allerdings schien es nicht zu funktionieren, denn Hannes fluchte erneut wie wild herum. „Scheiße, was passiert denn hier? Okay, ganz ruhig…“ Was dann geschah, konnte ich nicht so genau sehen.
„Was macht er da?“, wisperte ich.
„Er macht den PC an“, antwortete Kati ebenso leise. „Und den Drucker hat er auch angeschaltet… Hm…“ Sie kniff die Augen zusammen… „Er hat irgendwas geöffnet…“ Und plötzlich ertönte so laut, dass man es noch am anderen Ende Frankfurts hören musste, ein verzweifeltes „NEIN!!!“
„Er hat die Arbeit geöffnet!“, rief Kati mir begeistert zu. Wir mussten beide lachen und klatschten High-Five, als wären wir Basketballspieler. Doch das „Nein“ war noch nicht alles, was wir aus Hannes’ Zimmer hörten. Fassungslos hob er, so beobachteten wir, mein Handtuch auf und sah es sich an, dann betrachtete er den Monitor. Schlagartig schien ihm alles klar zu werden. „NEIN!!! Diese verdammten Schlampen! Na wartet…“
Kati und ich lagen auf dem Boden meines Zimmers vor der einen Spalt offenen Tür und konnten uns nicht mehr einkriegen vor Lachen. Gut, vielleicht war all das, was wir gerade gemacht hatten, kindisch und übertrieben, und vielleicht würden wir es irgendwann bereuen. Doch im Augenblick fühlten wir uns einfach göttlich.

Krümelmonster, Teil 18

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Die Uni ging rasend schnell vorbei. Gerade hatte ich mich noch im Hörsaal mit Anna zum gemeinsamen Mittagessen in der Mensa verabredet und schon stand ich in der Riesenschlange, die sich vor der Essensausgabe auftürmte. Lautstark unterhielten sich alle Studenten darüber, woraus das Mensaessen heute wohl bestand, und wie sie sich heute wieder durch alle Übungen geschludert hatten. So richtig nahm wohl niemand das Studium ernst, dachte ich.
Im Augenblick musste ich aber etwas anderes ernst nehmen… ich verspürte ein dringendes natürliches Bedürfnis. Also bat ich Anna: „Kannst du mir etwas mitbringen? Ich gebe dir das Geld dann gleich wieder.“
„Kein Problem“, erwiderte sie.
Ich rannte raus und erleichterte mich auf der Toilette. Ah, tat das gut. Wie neugeboren wusch ich mir die Hände. Als ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser abpatschte, hörte ich plötzlich etwas. Neben der surrenden Lampe über den Spiegeln ertönte noch ein Geräusch. Ich dachte eigentlich, ich wäre alleine in den Mädchenwaschräumen gewesen. Komisch, was war denn da los?
Neugierig spitzte ich meine Ohren. Erschrocken stellte ich fest, was ich da hörte: Es klang wie weibliches Schluchzen. Untermalt von leisem Schniefen drang es verzweifelt in meine Ohren. Was sollte ich denn jetzt machen? So etwas war mir noch nie passiert, zumal mir die erstickte Stimme irgendwie bekannt vorkam.
Zögerlich ging ich zur verschlossenen Kabine und klopfte an die Tür. „Hallo? Ist da jemand?“
„Was willst du?“, heulte die Person, die auf der anderen Seite der Tür war. Ich erschrak abermals, denn es handelte sich um niemand anderen als Kati. Jetzt war ich noch ratloser.
Wie ein Dummkopf fragte ich: „Weinst du etwa?“
Die Antwort war: „Na und? Was geht dich das an? Hau ab!“
Plötzlich stieg Wut in mir auf. „Ja, genau! Warum interessiere ich mich eigentlich für jemanden, der meine CD, die so schwer zu finden war, einfach kaputt macht? Ganz zu schweigen davon, dass ich vielleicht so was wie Angst hatte, als einfach jemand in mein Zimmer eingebrochen ist. Dann heul doch weiter!“ Ich steuerte den Ausgang an.
„Nein, bitte bleib da!“, ertönte Katis schwache Stimme. Sie schnäuzte sich irgendwo rein, wahrscheinlich ins Klopapier. War das nicht viel zu rau für ihre zarte Nase?
Trotzdem drehte ich mich wieder um und kehrte zurück zur Tür, die mittlerweile offen war.
Kati war ein jämmerlicher Anblick. Sonst stolzierte sie immer wie die Königin von Saba durch die Welt, nahm sich alles, was sie wollte, kümmerte sich nicht darum, ob sie jemandem schadete oder nicht und sah dabei auch noch immer gut aus. Jetzt saß sie da wie ein Häufchen Elend , ihre Klamotten saßen grundfalsch und ihre Wimperntusche war verschmiert; um sie herum lagen dutzendweise vollgeweinte Taschentücher und Klopapierhaufen. Eigentlich hätte ich in diesem Moment Schadenfreude empfinden sollen, das hätte jeder Mensch in meiner Lage getan, denke ich. Aber ich konnte es irgendwie nicht.
Um mich zu sortieren, fragte ich erst einmal: „Was ist denn los, dass du dir fast das Hirn rausweinst?“
Sie schniefte. „Hannes hat mich verlassen.“
„Wirklich?“
„Ja.“ Schnief. „Ich habe mit ihm darüber geredet, wie sehr mir das wehtut, dass er ständig mit anderen Mädels herummacht. Ich habe immer so getan, als würde mir das nichts ausmachen, weil ich mich so gefreut habe, dass jemand mit mir zusammen sein wollte.“
„Wie? Ich dachte, die Jungs fliegen auf dich.“
„Ja, das stimmt auch“, schnaubte Kati bitter und schnäuzte sich erneut. „Sie fliegen auf mich, weil mein Vater eine Firma hat und mir pausenlos das Geld in den Arsch schiebt. Ich will das alles gar nicht! Diesen tollen Wagen, den ich zum Abitur gekriegt habe, wollte ich ablehnen. Aber da hat mein Vater mir ins Gewissen geredet. Dass ich ihn nicht mehr lieben würde und dass ich doch dankbar für solch ein Geschenk sein sollte. Der kapiert auch echt gar nichts mehr!“ Sie schaute mir in die Augen. „Als ich Hannes getroffen habe, dachte ich, er wäre der Erste, der kein schnelles Abenteuer mit mir wollte, der nicht so oberflächlich ist wie alle anderen. Aber da hab ich mich wohl getäuscht. Ich bin bei ihm geblieben… wieso eigentlich? Weil ich ihn liebe, verdammt noch mal!“ Jetzt fing sie richtig an zu weinen. Oh mein Gott, was machte ich nur mit einem Mädchen, das ich eigentlich von Grund auf gehasst hatte? Verlegen klopfte ich ihr auf dem Rücken herum. „Du… darfst dir nicht alles gefallen lassen!“, sagte ich zu ihr.
„Hab ich doch auch nicht“, murmelte Kati.
„Ja, du hast meine CD, die ich jetzt mühsam wieder irgendwo suchen darf, kaputt gemacht, und mir mit dem Einbruch einen Riesenschrecken eingejagt. Super, wirklich!“
„Ich war total sauer auf dich. Nachdem ich rausgefunden habe, dass er mit dir geschlafen hat, wollte ich einfach nicht mehr. Ich hab rot gesehen.“
„Aber wieso verschwendest du deine sinnlose Wut an mich? Sieh es doch ein“, versuchte ich ihr klarzumachen, „der Typ ist ein totales Arschloch. Er verführt alle Weiber und kümmert sich nicht darum, ob er mit irgendjemandes Gefühlen spielt. Das hat er mit mir doch auch gemacht! Wir dürfen das nicht länger tolerieren.“
„Und was schlägst du vor?“, fragte Kati schwach.
„Wir müssen uns an ihm rächen. Hast du Zugang zu seinem Zimmer?“
„Klar, wieso?“
„Wir werden ihm zeigen, dass wir beide nicht alles mit uns machen lassen. Also, hast du morgen Abend Zeit?“

Fünf Minuten später kam ich an Annas Tisch an. Sie sah erst nach einigen Sekunden von ihrem Handy auf. „Tut mir Leid, ich hab gerade eine SMS von Aurélie gekriegt. Sie kommt gleich in die Mensa. Aber wo warst du denn so lange? Wollten alle Studentinnen gleichzeitig aufs Klo oder was?“
„Nein, ich hab noch was wegen der Uni besprochen.“ Das war nicht mal gelogen, Kati und Hannes studierten ja auch hier.
„Na gut, hier ist jedenfalls dein Essen. Hat ein Euro achtzig gekostet, gibste mir die wieder?“, fragte sie und deutete dabei auf einen Teller mit Curry-Tofu-Risotto.
Ich gab ihr das Geld zurück. „Also“, rief Anna, während sie ihr Portmonee wieder einsteckte, „hast du mal wieder was von unserem Traumpaar gehört?“
„Du meinst Aurélie und Freddy? Nein, nicht das Geringste. Das letzte Mal, als ich die beiden zusammen gesehen habe, ist schon Ewigkeiten her. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass Aurélie wohl ganz schön wütend auf ihn sein muss. Ich hab dir doch erzählt, wie sie mich im Café angemeckert hat. Und das war noch stark untertrieben.“
„Ja, das hast du mir erzählt. Neuerdings kommt Aurélie immer sauspät nach Hause und von Freddy redet sie gar nicht mehr“, berichtete Anna. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, die sind gar nicht mehr zusammen. Aber das hätte sie mir wohl gesagt.“
„Ja, das seh ich auch so“, pflichtete ich ihr bei. „Das kann so nicht weitergehen. Die lieben sich doch.“
„Deswegen haben wir doch gesagt, dass wir etwas unternehmen. Oh, da kommt sie ja! Hey, Aurélie! Hier sind wir!“ Anna winkte unserer gemeinsamen Freundin zu, die sich gerade etwas zu essen geholt hatte. Als sie näher kam, sah ich, dass sie sich zu ihrem Hauptgericht noch Baguette und Crème brûlée genommen hatte – typisch französisch.
„Hey, Mädels, wie geht es euch?“, begrüßte Aurélie uns und stellte das Tablett auf dem Tisch ab. Sie wirkte recht gut gelaunt.
„Gut, und dir?“, entgegnete ich.
„Mir geht’s perfekt. Ich denke schon gar nicht mehr an diesen Idioten von Freddy. Den hab ich völlig ausgeblendet“, erzählte sie und begann, zufrieden an ihrem Baguette zu mampfen.
Sie sprach uns darauf an, ohne dass wir sie dazu aufgefordert hatten? Verdächtig.
Ich tauschte einen Blick mit Anna aus. Sie schien dasselbe zu denken wie ich. Wie oft hatten wir solche Momente schon gehabt?
„Schau, Aurélie“, begann Anna das Gespräch, „wir wollten heute Abend zusammen ein paar Filme gucken. Willst du mitmachen?“
„Gerne, was guckt ihr denn so?“
Scheiße, so weit hatten wir noch nicht geplant. „Ähm“, stammelte ich, „wie wäre es denn mit ‚Die fabelhafte Welt der Amélie’? Du magst doch die Musik so gerne“, sagte ich und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Als es Aurélie so dreckig gegangen war, hatte sie doch die ganze Nacht diese Musik gehört – bestimmt wollte sie nicht, dass Anna es mir erzählte, wie es Aurélie gegangen war.
Aber sie schien nichts bemerkt zu haben (oder es machte ihr nichts aus). „Oh, klar, für den Film bin ich immer zu haben. Ich hab heute ziemlich lange Uni, wann wolltet ihr denn anfangen?“
Anna sah mich an. „So um sieben vielleicht?“
„Ja, das passt gut, da bin ich schon wieder zurück.“
Da schien Anna was einzufallen. Sie stand auf einmal auf und sagte: „Einen Moment, wir sind gleich wieder da, okay?“ Sprach’s und zog mich vom Stuhl. Verwundert ließ ich mich von ihr aus der Mensa schleppen und sah noch, wie Aurélie uns verwundert hinterher sah.
„Was sollte das denn?“, wollte ich sofort von Anna wissen, sobald wir draußen standen.
„Es gibt einen wichtigen Punkt, den wir nicht bedacht haben, und das wollte ich dir vor Aurélie nicht sagen!“
„Ach, du meinst…“
„Ja, genau. Irgendjemand muss Freddy doch auch noch Bescheid sagen. Nur wie machen wir das? Das Ganze findet ja bei uns in der WG statt, da wird er wohl kaum hinkommen wollen“, gab Anna zu bedenken.
„Wir könnten ihn ja etwas früher kommen lassen…“, schlug ich vor.
„Hm, na ja, vielleicht kann er da nicht… Wir müssen irgendwie verbergen, dass Aurélie da sein wird…“
„Ja, aber wie?“
„Vielleicht könnten wir… Ach, du Scheiße!“, fluchte Anna plötzlich los.
„Was ist denn nun schon wieder?“

Wo ist die Liebe hin?, Teil 6

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Die besten Ideen bekommt man immer dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Wer hatte das noch mal gesagt? Es wollte mir nicht mehr einfallen. Aber das war ja eigentlich auch egal. Voller Tatendrang fuhr ich, so schnell ich konnte, nach Hause und stürmte in Leas Zimmer.

„Hey, was soll das, ich lackiere mir grade die Fußnägel!“, beschwerte sich Lea. Aber das kümmerte mich nicht im Geringsten.

„Ich habe den perfekten Plan, wie wir unsere Familie wieder zur Vernunft bringen.“

„Familie! Hör mir damit auf! Du kannst froh sein, dass du für eine Weile abgehauen bist. Gemütlicher ist es hier nicht gerade geworden“, berichtete sie.

Ich rief: „Hör doch mal. Ich habe eine Idee. Wie würde es Oma und unseren Eltern denn gehen, wenn wir auf einmal weg wären?“

„Hä, wie meinst du das denn?“

„Du weißt doch, dass ich mir bald einen Job suchen sollte, wenn ich mit der Schule fertig bin. Und du hast selbst gesagt, dass du lieber ausziehst, als den Krach hier noch weiter mitzumachen.“

„Du meinst, wir sollen hier ausziehen? Und was soll das bringen?“

„Nein, nicht nur einfach ausziehen. Ich hab da nämlich so eine Idee…“

Der Plan, den ich gefasst hatte, musste schnell realisiert werden. Nachdem Lea anfangs skeptisch gewesen war, hatte ich sie schnell für mich gewinnen können und sie hatte mir bei der Endausarbeitung des Plans geholfen.

In meinem Auftrag hatte sie bei der Nummer angerufen, die ich mir aufgeschrieben hatte, und uns die Wohnung für einen Monat besorgt. In der Zwischenzeit hatte ich mir den Job beim Fastfoodrestaurant geholt. Lea konnte coolerweise auch mit anfangen.

Der günstigste Zeitpunkt zur Vollendung des Plans war einige Tage später, am frühen Nachmittag, wenn Paul bei seinem Kumpel war, Mamas Mittagspause bereits geendet hatte, Papa noch in seiner Kanzlei arbeitete und Oma gerade zum Reha-Sport unterwegs war. Und es musste wirklich verdammt schnell gehen. In der Eile, in der Lea und ich unsere Sachen packten, fielen wir ein Dutzend Mal übereinander, rempelten uns an oder fauchten uns an.

„Wo ist mein grünes T-Shirt?“, rief ich beispielsweise.

„Woher soll ich das wissen?“

„Hast du es dir nicht mal ausgeliehen? Und nicht zurückgegeben? Hab ich mir ja gleich gedacht.“

„Ich hab dein blödes T-Shirt nicht. Aber was ist mit meinem pinken Lippenstift?“

„Lenk nicht ab! Außerdem würde ich so eine Farbe nie im Leben benutzen.“

„Ach was, ich glaube du hast aaaaaaaaaah…“ Lea fiel über einen der Kartons, die uns ihr Freund besorgt hatte, mit dem Gesicht steil in einen anderen Karton herein. Mühsam rappelte sie sich auf und zog das gesuchte Teil aus dem Karton. „Hier ist dein blödes T-Shirt. Und jetzt beeil dich, sonst sind wir nie fertig, bevor Oma kommt.“

Wir rannten hin und her.

Schlussendlich standen wir vor dem Transporter, der uns ebenfalls von Leas Freund zur Verfügung gestellt worden war, und sahen uns an.

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee war?“

„Aber klar. Jedenfalls ist doch sicher, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Extreme Situationen erfordern extreme Maßnahmen.“

Lea setzte sich ans Steuer, ich auf den Beifahrersitz und weg waren wir.

Natürlich nicht, ohne einen Brief da zu lassen. Er ging folgendermaßen:

Hallo Mama, hallo Papa, hallo Oma.

Wenn ihr diesen Brief lest, sind wir schon weg. Wir haben beschlossen, auszuziehen, weil wir es hier einfach nicht mehr aushalten. Wir werden ab und zu vorbeikommen, um im Haushalt zu helfen. Aber zu euch zurückkommen werden wir erst, wenn ihr aufhört, euch ständig zu streiten.

Lea und Sara.

„Meine Güte, ich bin so kribbelig, ich weiß gar nicht, was ich machen soll!“, rief Lea, als wir uns in der karg wirkenden Wohnung auf den Badezimmerboden setzten.

„Blas die Luftmatratzen auf“, befahl ich ihr. Die hatten wir als Notbetten mitgenommen. In der Zeit, in der Lea sich die Seele aus dem Leib prustete, telefonierte ich mit der Band.

„Hallo, Larry am Rohr?“, meldete sich der Sänger, der, wie ich neulich gehört hatte, dringend seine Miete bezahlen musste.

„Hey, hier ist Sara. Die von neulich Abend. Ihr sucht doch dringend eine Auftrittsmöglichkeit, oder?“

„Korrekt. Und du hast eine, oder was?“

„Genau. Ich habe mit einem Mädel aus meinem Jahrgang gesprochen, das für die Abiballband zuständig ist. Zufällig habe ich ihre Telefonnummer. Soll ich sie dir geben?“

„Sieht das Mädel gut aus?“ Lachen am anderen Ende der Leitung. „Nein, war nur Ulk. Gib sie mir mal. Ich hab was zu schreiben.“

„3-4-4-6-7. Das ist sie. Dann melde dich mal bei ihr, wir suchen wirklich dringend eine Abiballband.“

„Supi. Dann bis die Tage.“

„Auf Wiedersehen.“

Es war das Letzte, was ich sagen konnte, bevor irgendjemand an der Tür Sturm klingelte, mehrmals laut anklopfte und schrie: „Macht sofort die Tür auf! Ich weiß, dass ihr da drin seid!“

Oh oh. Das war nicht nur irgendjemand, das war unser Vater. Jetzt endlich hatte er seinen Hintern aus dem Sessel gekriegt, auf dem er immer Zeitung las und sich aus allem heraushielt. Aber ich wusste, dass das jetzt nicht unbedingt gut war.

Lea und ich sahen uns an. Ein bisschen war es wie damals, als wir uns in Paris im Klo eingeschlossen hatten und Frau Lacombe nach mir gerufen hatte.

Einen Augenblick lang war es ganz still.

Dann wieder Türenklopfen und laute Rufe: „Lea, Sara, macht sofort die Tür auf!“ Diesmal von unserer Mutter.

„Sollen wir jetzt aufmachen oder nicht?“, flüsterte ich.

„Natürlich, genau darauf haben wir doch gewartet“, erwiderte meine Schwester und zog mich entschlossen zur Wohnungstür.

Zum letzten Mal minderjährig, Teil 1

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Vor einigen Jahren begann ich eine Reihe über eine junge Frau namens Sara und stellte die entstandenen Teile auf neon.de hoch. Ich habe meinen dortigen Account gestern löschen lassen und werde die Sara-Geschichten jetzt im Blog präsentieren, in der Hoffnung, dass sie jemandem gefallen. Viel Spaß beim Lesen.

Alles fing damit an, dass meine Mutter wieder anfangen wollte zu arbeiten. Doch vielleicht sollte ich erst einmal unsere Familie vorstellen. Da wären meine Oma, meine Eltern, meine beiden Geschwister – und ich.

Meine Schwester heißt Lea und ist nur anderthalb Jahre älter als ich. Sie hat jetzt ihr Abitur und ständig musste sie sich von irgendwem anhören: „Wie willst du das nur schaffen?“ Meistens von meinen Eltern. Manchmal denke ich, sie verwenden ihre ganze Zeit dafür, zumindest solange sie nicht arbeiten. Mein Vater ist Anwalt, meine Mutter Ärztin. Als mein Bruder geboren wurde, hat sie aufgehört, zu arbeiten. Aber darauf komme ich später noch.

Genau, mein Bruder! Er heißt Paul und ist sieben Jahre alt. Seit Sommer letzten Jahres geht er zur Schule und ist total stolz auf alles, was er lernt. Ich glaube, am liebsten würde er bei jedem neuen Buchstaben und bei jeder neuen richtigen Rechenaufgabe laut rufen: „Siehst du, ich bin besser wie du!“ Diesen Sprachfehler macht Paul ständig. Oft korrigiert ihn dann Oma, die seit Opas Tod vor fünf Jahren bei uns wohnt.

Ich bin auch froh, wenn ich den Schulstoff korrekt behalte und wiedergeben kann. Das liegt allerdings nicht daran, dass ich damit angeben möchte, oh nein. Ich freue mich einfach, dass ich so schwere Sachen kann. Ein Berg an Wissen, der sich anscheinend jeden Tag quadratisch vermehrt. Und wehe, ich behalte nicht alles richtig. Dann trifft mich auch schon mal der Satz, den sonst nur Lea zu hören kriegt. Ich bin achtzehn und mache nächstes Jahr mein Abitur, da ist das schon ziemlich wichtig.

Und eines schönen Tages saßen wir alle am Frühstückstisch, als Mama mit der sensationellen Neuigkeit herausrückte.

Eine Freundin von ihr wolle eine Arztpraxis aufmachen und sie könne mit einsteigen. Zunächst blieben wir ruhig sitzen. Papa und Oma nickten und brummten so etwas wie „Aha“, ich nahm mir eine weitere Toastscheibe und belegte sie mit Käse, Lea trank einen Schluck Milch.

„Und ich finde das eine ausgezeichnete Idee. Am liebsten würde ich sofort einsteigen. Was meint ihr dazu?“

Einen Moment lang guckten wir uns entgeistert an, dann redeten alle durcheinander. Kaum ein Wort war zu verstehen, doch eines war klar: Niemand war total begeistert.

„Wer macht dann den Haushalt?“, fragte Lea alarmiert.

„Kannst du dann nicht mehr mit mir spielen?“, wollte Paul ängstlich wissen.

„Aber ich verdiene doch genug Geld für uns beide!“, entgegnete Papa. Woraufhin Mama ziemlich wütend guckte. Als Oma dann auch noch meinte, dass sie lieber auf die Kinder aufpassen sollte, pfefferte sie ihr Brötchen aufs Brettchen, rief beleidigt: „Also, ich hätte von euch ein bisschen mehr Unterstützung erwartet!“ und verließ die Küche. Ich nehme an, sie ging zum Telefon.

Alles, was mir dazu einfiel, war: Oh Mann. Ich wusste gar nicht, was ich von den Plänen meiner Mutter halten sollte. Später saßen Lea und ich zusammen in meinem Zimmer und quatschten.

„Wie findest du es, dass Mama wieder arbeiten will?“, fragte sie.

„Hmm… weiß nicht“, antwortete ich und starrte an die Decke.

„Also, ich finde es überhaupt nicht gut“, rief Lea und haute zur Bekräftigung mit ihrer Handkante aufs Bett. „Wenn sie nicht da ist, wird Paul uns die ganze Zeit nerven und außerdem bleibt dann die ganze Hausarbeit an uns hängen.“

„Naja“, warf ich ein, „immerhin wäre dann eine Person weniger da, die die ganze Zeit auf uns aufpasst und an uns herummeckert. Und Paul ist doch eh ständig bei seinen Kumpels.“

„Sag bloß, du findest es gut, dass Mama wieder arbeiten will?“ Lea sprang auf und rannte auf und ab.

„Mir gefällt das jedenfalls überhaupt nicht. Und ich werde sie irgendwie davon abbringen. Ich weiß noch nicht, wie, aber irgendwas wird mir schon einfallen!“ Mit diesen Worten rauschte sie aus meinem Zimmer.

Oh Hilfe, was hatte sie bloß vor? Ich kannte meine Schwester. Wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hatte, konnte sie nichts davon abbringen, ihr Ziel zu erreichen.

Abends kam Paul zu mir. Er trug bereits seinen Schlafanzug mit den Rennautos und hatte seinen Teddy in der Hand.

„Sara?“

„Ja, was ist denn?“

„Wenn Mama wieder arbeitet, dann kann doch niemand mehr mit mir spielen! Ich will, dass Mama hier bleibt!“

„Mach dir keine Sorgen, Kleiner!“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Es sind genug Leute da, die mit dir spielen können. Oma, Lea, ich, der Niklas aus deiner Schule…“

„Aber keiner kann mit mir so spielen wie Mama! Und sie kümmert sich immer um mich. Wer macht mir mein Lieblingsessen, wenn Mama weg ist? Nur sie kriegt das hin!“

„Weißt du, Mama –“, begann ich, wurde aber von Mama unterbrochen, die plötzlich in der Tür stand und fragte: „Wieso bist du noch nicht im Bett, Paul?“

Sie sah sehr betrübt und nachdenklich aus.

„Komm, Paul!“ Sie nahm die Hand, in der nicht der Teddy war, und ging mit ihm aus dem Zimmer. Ich hörte noch, wie Paul fragte: „Liest du mir die Geschichte mit den Dinosauriern vor?“ Und Mama erwiderte: „Aber natürlich!“

Ich war fast froh, als ich zur Schule musste. Beim Frühstück war außer „Holst du die Zeitung aus dem Briefkasten?“ so gut wie kein Wort zu hören. Das ist sonst immer ganz anders, da diskutieren wir über irgendwas und die Eltern wollen wissen, was die Kinder so vorhaben und wann sie aus der Schule kommen. Doch an diesem Tag hatte Papa Paul lediglich gebeten, die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen.

Oh fantastisch. Mir gefiel die Stimmung beim Frühstück überhaupt nicht und ich spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. So konnte es nicht weitergehen.

Als Lea und ich ins Auto stiegen, um zur Schule zu fahren, sagte ich ihr das ganz genau so. Sie meinte: „Ganz recht, so kann das nicht weitergehen.“ Dabei hatte sie einen entschlossenen Gesichtsausdruck, so, als wüsste sie ganz genau, was sie tun würde. Und wieder fragte ich mich, was sie nur vorhatte.

Am Schwarzen Brett traf ich auf meine beste Freundin Anna.

„Hi, Sara, du siehst ja müde aus!“, begrüßte sie mich.

„Vielen Dank“, muffelte ich, „eigentlich hatte ich eine andere Begrüßung erwartet!“

„Hey, was ist denn los?“

„Ach, Probleme zu Hause. Mama will wieder arbeiten, deswegen schieben alle total Stress.“

„Und was meinst du dazu?“, erkundigte sich Anna.

„Keine Ahnung“, antwortete ich und musterte nachdenklich den Aushang zu den Schulschachmeisterschaften. „Irgendwie bin ich weder dafür noch dagegen.“

„Bestimmt ist deine Mum relaxter, wenn sie wieder arbeitet. Immer nur zu Hause herumzuhocken, hat ihr auf Dauer wohl nicht mehr gereicht. Da wollte sie halt wieder anfangen.“

Das konnte ich mir gut vorstellen. Nach so vielen Jahren Haushalt und Babysitter-Spielen hätte ich wohl auch keine Lust mehr auf mein altes Leben. Ich würde etwas ändern wollen.

„Also, ich kann meine Mutter ja verstehen“, erklärte ich Anna, während wir zum Kursraum gingen. „Das eigentlich Ätzende sind die anderen aus der Familie. Besonders meine Schwester. Ich glaube, sie hat irgendwas vor.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Keine Ahnung“, sagte ich und stieß die Tür zu unserem Kursraum auf.

„Du solltest dir nicht so viele Sorgen machen. Die beruhigen sich schon wieder, bestimmt müssen sie sich erst mal an den Gedanken gewöhnen.“ Sie setzte sich auf ihren Platz in der vorletzten Reihe.

Apropos gewöhnen, dachte ich. Da saß eine Neue bei uns in der Klasse. Komisch, war uns gar nicht angekündigt worden. Sie trug eine schwarze Franzosenmütze, eine Jeansjacke und ein rot-weiß geringeltes Shirt, außerde, starkes Make-up.

Ich ging zu Anna. „Du, sag mal, kennst du die da vorne?“

Plötzlich bekam Anna einen unkontrollierten Lachanfall. Sie konnte sich gar nicht wieder einkriegen. Schließlich antwortete sie keuchend: „Das ist doch Aurélie!“

Was, das sollte unsere gemeinsame Freundin sein? ich konnte das gar nicht glauben, so verändert sah sie aus.

Anna erläuterte: „Neulich hat sie herausgefunden, dass sie zu einem Achtel Französin ist. Und das hat sie dazu veranlasst, mal eben ihren gesamten Typ zu verändern.“

Da kam Aurélie auch schon auf uns zu. „Bonjour, mes copines! Comment ca va?“ Jetzt lachte sie auf ihre typische Art.

Anna und ich tauschten einen Blick. Oh Mann, dachte ich.

„Äh, hi, Aurélie, bei mir ist eigentlich alles in Ordnung. Was, ähm, hat dich denn dazu veranlasst, deinen Typ derartig zu verändern?“, fragte ich.

„Meine Uroma kam aus Frankreich“, erzählte Aurélie. „Ich habe es herausgefunden, als ich über meinen Stammbaum geforscht habe. Ahnenforschung ist ja so spannend…“

„Ja, ja, da hast du wohl Recht“, rief Anna mit hochgezogenen Augenbrauen, während sie ihre Deutschsachen auspackte. Ich wusste genau, was das bedeutete. Sie schien dasselbe über Aurélies Typwechsel zu denken wie ich. Oh Mann.

„Verstehe. Und da überkam dich einfach der Wunsch, dich so… äh… stark zu verändern“, bemerkte ich und starrte auf die Tafel, auf die irgendwelche Fruchtzwerge aus der Fünften gekritzelt hatten, wer nun alles doof ist.

„Ja, ich wollte mich einfach ein bisschen von meinen Vorfahren inspirieren lassen“, sagte Aurélie und lachte wieder.

Mittlerweile waren fast alle in der Klasse, wir warteten eigentlich nur noch auf unseren Deutschlehrer, Herrn Nowitzki. Er war mindestens so groß wie sein berühmter Basketball spielender Namensvetter und auch so athletisch gebaut, insgesamt sah er ziemlich gut aus und er war noch sehr jung. Deswegen rechnete ich mir aus, dass er noch mit irgendeiner Referendarin flirtete.

Aber eigentlich war es mir ganz recht, dass er noch nicht da war. Wie bereits erwähnt, war er noch ziemlich jung, er kam eigentlich gerade aus dem Studium. Und wie alle modernen Lehrer versuchte Herr Nowitzki, seinen Unterricht besonders pädagogisch wertvoll zu gestalten.

Ich packte mein Deutschbuch, meinen Block, mein Etui und eine kleine Dose Geleebohnen aus. Dann lehnte ich mich zurück, packte die Beine auf den Tisch und aß die Geleebohnen. Anna und Aurélie bekamen je zwei ab.

Fünf Minuten später betrat Herr Nowitzki die Klasse.