Zu Hause wollte ich jetzt nur noch meine Ruhe haben. Ich schaltete mein Handy aus, schloss die Zimmertür zwei Mal ab und hängte ein Tuch über die Klingel, damit ich sie nicht hörte. Zur Entspannung wollte ich Musik hören, aber die CD, die ich hören wollte, war nicht da. Es war eine ganz besondere CD, die ich mir in Frankreich gekauft hatte und die es in Deutschland gar nicht gab. Eine CD mit Liedern von meiner Lieblingsband, allerdings nur auf Französisch. Aus Interesse hatte ich mal im Internet geguckt, da fand man die Songs nirgendwo.
Das konnte doch nicht wahr sein! Wieso hatte ich die ganze Welt verschworen, um meinen Tag zu vermiesen? Was hatte ich denn getan? Gut, ich hatte Aurélie ‚blöde Kuh’ hinterhergerufen, aber ich hatte doch nicht gewusst, dass sie es war, sonst hätte ich das doch nie gemacht! Das war ja fürchterlich!
Aus lauter Ärger über den rundum verpfuschten Tag schmiss ich alle Sachen, zumindest die, die nicht zerbrechlich waren, durchs Zimmer und schrie meinen Ärger aus mir raus. Ich verwendete dabei alle Schimpfwörter, die mir einfielen, in drei Sprachen, und war überrascht, dass ich so viele konnte. Irgendwann bummerte es an der Zimmertür.
„Was willst du? Ich hab keine Musik an, also halt verdammt noch mal deine Klappe, Kati!“, keifte ich Richtung Tür.
„Ich bin nicht Kati“, erklärte überraschenderweise eine männliche Stimme. Wo hatte ich die nur schon mal gehört? Es fiel mir nicht ein.
Ich schob eben die nötigsten Sachen aus dem Weg und öffnete die Tür.
Es war Hannes, Katis Freund, der mich am ersten Tag so nett begrüßt hatte.
„Was willst du hier?“
„Es war ziemlich laut hier, da wollte ich mal fragen, was hier los ist.“
„Hat deine Kati dich geschickt? Dann kannst du gleich wieder gehen. Da will man einmal im Leben seine Ruhe haben und dann kommst du und machst alles kaputt.“
„Nein, ich komme tatsächlich freiwillig hierher. Und es sieht hier eher so aus, als würdest du hier alles kaputt machen. Was hast du denn?“
„Als würde dich das was angehen. So eine Scheiße!“ Wütend haute ich ins Kissen und übersah dabei leider, dass mein Radiowecker noch drunter lag. Aua.
„Klar, du weißt noch fast gar nichts über mich. Aber das möchte ich gern ändern. Ich heiße Hannes Wehmeyer, bin 1,92 groß und wurde vor ziemlich genau einundzwanzig Jahren geboren, am 3. Dezember. Ich bin in Berlin zur Welt gekommen, aber mit sechs Jahren kam ich in die hessische Provinz. Meine Hobbys sind Snowboarden, lesen und Partys feiern.“
Er lehnte sich zurück. „Und möchtest du mir was über dich erzählen?“
„Nein, möchte ich nicht. Es interessiert mich auch gar nicht, wer du bist. Also, von mir wirst du nichts über mich erfahren.“
„Ich weiß schon eine Menge über dich.“
„Ach ja, und was wäre das, bitte?“
„Du heißt Sara Lehmann, bist zwanzig Jahre alt und studierst Politologie. Zur Welt gekommen bist du in Wetzlar, du liebst Rockmusik, vor allem Muse und Placebo, und dein Lieblingsautor ist Paul Auster.“
Schockiert fragte ich: „Woher weißt du das denn?“
Er hob schweigend drei meiner Bücher auf und hielt sie mir entgegen. Es handelte sich um Mond über Manhattan, Das Buch der Illusionen und Nacht des Orakels.
„Gib mir meine Bücher zurück!“, rief ich und stellte sie ins Regal zurück, ohne auf die alphabetische Reihenfolge zu achten.
„Du lässt niemanden an dich ran, oder?“, fragte Hannes und schaute mich dabei von der Seite an. Er grinste.
„Sag mal, was bildest du dir eigentlich ein? Nur weil du per Zufall meinen Lieblingsautor erraten hast, denkst du, du kannst mir solche intimen Fragen stellen? Du weißt gar nichts über mich!“
„Kati hat mir vieles über dich erzählt. Ungefähr so: Den ganzen Tag lässt sie diese schreckliche Rockmusik dudeln, Placebo und Muse, oder wie die alle heißen! Gibt’s da überhaupt einen Unterschied? Und erst diese Bücher, die sie liest: Paul Auster! So was würde ich ja nicht mal mit spitzen Fingern anfassen.“
„Noch besser!“ Ich sprang auf und riss die Arme nach oben. Unruhig lief ich im Zimmer hin und her. „Dann hast du wahrscheinlich noch ihre Meinung über mich von ihr übernommen. Super. Solche Leute kann ich nicht brauchen. Am besten, du gehst jetzt.“
„Wieso hast du so eine schlechte Meinung von uns? Für so eine hätte ich dich eigentlich nicht gehalten.“ Er zwinkerte mir zu.
Was sollte das denn jetzt schon wieder? „Was willst du eigentlich? Du kannst gar nicht wissen, wie ich wirklich bin. Mit Leuten wie euch habe ich schon genug schlechte Erfahrungen gemacht, besonders mit deiner tollen Freundin. Und jetzt hau ab“, fauchte ich.
Im Rausgehen sagte er noch: „Schade, dass du so eine schlechte Meinung von…“ Den Rest hörte ich nicht mehr, er war unverständlich, weil ich ihm die Tür praktisch vor der Nase zuschlug.
Aber was hatte er denn jetzt gesagt? Von wem sollte ich eine schlechte Meinung haben? Nur von ihm oder von beiden oder von Kati? Und wie hatte er das gemeint? Er hatte Schade gesagt und wie hatte er das bloß gemeint?
Ich rannte immer noch im Zimmer hin und her und tat das so schnell, dass ich einen Stolperstein in Form einer Tasche übersah und auf die Schnauze flog. Ich blieb auf dem Boden liegen und starrte zur Decke. Ohne noch eine andere CD anzumachen.
Ich dachte über mein bisheriges Leben nach. Ließ ich wirklich niemanden an mich ran? Das stimmte nicht. Ich hatte drei gute Freunde und meine Familie, mit der ich schon über meine Probleme sprach. Mehr hatte ich nie gebraucht. Und ich bildete mir auch nicht schnell eine Meinung über andere Leute. Gut, Kati hatte mir früher immer die Haare rausgerissen, als wir miteinander spielen mussten, aber ich hatte sie doch deswegen nicht gleich gehasst! Und Freddy hatte ich auch nicht sofort für einen Freak gehalten damals. Nur für etwas merkwürdig.
Ich überlegte auch, was Kati mir bereits alles angetan hatte. Sie hatte mir besagte Haare ausgerissen, sich über meine Kufiyas und meine roten Haare lustig gemacht, ihren Luxus, den wir so nicht hatten, zur Schau gestellt und mir so manchen Tag mit ihrer ewig schlechten Laune vermiest. Hatte man ja oft genug gesehen. Und diese Liste ließe sich wohl beliebig fortsetzen.
Langsam stank mir die Sache. Ich atmete tief durch und roch dabei, dass wirklich etwas stank. Bei näherer Nachprüfung stellte ich fest, dass ich die Geruchsquelle war. Ich sollte wahrscheinlich mal duschen. Ich zog mich aus, wickelte mein Riesen-Badehandtuch, auf dem mein Name stand, um meinen Körper und tappte mitsamt Duschgel und Waschlappen ins Bad.
Meine Bude, die ich gemietet hatte, war zwar im Vergleich zu vielen anderen Studenten-Einzelzimmern, die es in Frankfurt so gab (beispielsweise Freddys Zimmer) ziemlich luxuriös. Aber auf eine Sache musste ich verzichten, nämlich auf eine Einzeldusche.
Also tappte ich handtuchumwickelt und mit Waschutensilien versehen über den Flur zum Bad. Es gab dort drei Duschkabinen. Leider konnte ich nicht hören, welche Duschkabine frei war, da auf dem Flur irgendwelche Musik dudelte, und sehen konnte ich es schon gar nicht, da alle Vorhänge geschlossen waren. Also riss ich einfach einen Vorhang beiseite.
Und da sah ich ihn.