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Bedeutungsschwanger, Teil 7

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Ich hatte großes Glück, dass ich die nächsten Tage nichts zu erledigen hatte. So konnte ich es mir erlauben, vier Tage in Folge mein Mobiltelefon einfach mal ausgeschaltet zu lassen. Anna hatte ich die Order gegeben, Lukas am Telefon abzuwimmeln. Besonders gut geheißen hatte sie das natürlich nicht. Sie meinte ja immer noch, ich müsse mit ihm persönlich sprechen. Pf, die hatte ja keine Ahnung. „Wenn du nicht mit ihm sprichst, wirst du das nie klären können! Ich dachte, du liebst ihn?!“, mahnte sie. „Was weißt denn du?“, gab ich zurück.
Diese vier Tage waren ausgefüllt von Internet, Pizzabestellungen und Gammeloutfits. Die Wohnung hatte ich während dieser Zeit ja nicht verlassen. Man kann sich denken, was das für den WG-Haushalt bedeutet hatte, zumal wir ja unterbesetzt waren. Am ersten Tag erledigte Anna noch alle anfallenden Tätigkeiten bereitwillig.
Am zweiten nicht mehr ganz so gern. Am dritten war ihr ärgerliches Brummen deutlich bis in mein Zimmer zu hören. Am vierten schließlich stapfte sie abends in mein Zimmer, nachdem wir den ganzen Tag kein Wort miteinander geredet hatten.
„Hör mal, Mädel. Wenn Kati fremdknutschen würde, wäre ich auch sauer. Ich würde mich gewiss auch ausheulen und ‘ne Weile in meinem Zimmer verkriechen. Es geht aber nicht, dass du dich völlig hängen lässt und mich auch noch damit reinziehst, indem du mich die ganze Drecksarbeit erledigen lässt! Wenn du bis morgen Mittag nicht einkaufen warst, steig ich aus! Die Liste findest du in der Küche.“ Mit diesen Worten rauschte sie ab und verschwand in ihrem Zimmer.
Meine Güte!
Es war hell draußen und der Supermarkt um die Ecke hatte noch geöffnet, also ging ich hin.
Die Luft war angenehm. Es tat gut, mal die miefige Wohnung für einen Spaziergang zu verlassen. Ortswechsel waren wohl ganz hilfreich. Irgendwie hob die an frischer Luft zu erledigende Besorgung sogar ansatzweise meine Laune.
Fünfzehn Minuten später und um sieben Haushaltsprodukte reicher verließ ich das Geschäft wieder. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Als ich die Augen wieder öffnete, stand plötzlich jemand vor mir.
„Sara! Welch freudige Überraschung.“
Ich riss die Augen auf. Mein unerwartetes Gegenüber war Hannes!
„Hannes! Wow, ich hab dich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Hallo!“
„Ja, hey, darf ich dich ein Stück begleiten?“
„Warum nicht?“
Wir gingen die Straße runter.
„Was machst du so zurzeit? Du warst ja ziemlich selten in der Uni, kann das sein?“
„Naja, ich hatte sehr viel für die Uni nachzuarbeiten. Vor allem, nachdem ich urplötzlich feststellen durfte, dass meine Arbeit einfach gelöscht wurde.“
Ich senkte das Gesicht Richtung Bürgersteig. „Tut mir Leid.“
„Hey, das ist schon in Ordnung! Richtige Arschlöcher brauchen wahrscheinlich mal einen Denkzettel. Ich war nicht gerade ein Gentleman euch beiden gegenüber.“
„Das kann man wohl sagen“, bemerkte ich.
„Was ist denn aus euch so geworden? Bist du immer noch mit Lukas zusammen?“
Ich seufzte. „Ja, noch bin ich mit ihm zusammen.“
„Was ist denn los? Habt ihr Probleme?“
„Naja…“ Ich bemühte mich um mein Lächeln. „Es geht schon alles in Ordnung.“
„Das hoffe ich doch.“
Mittlerweile waren wir an meinem Haus angelangt. „Was hast du eigentlich am Freitag vor?“
„Da gehe ich auf eine Hochzeit.“
„Echt? Wer heiratet denn?“
„Meine Schwester.“
„Wow, da kann man ja nur gratulieren!“
„Meiner Schwester schon. Mir eher weniger.“ Ich grinste schief.
Hannes nickte. „Verstehe. Hör zu, es war wirklich klasse, dich wieder zu treffen. Und ich bin mir sicher, ihr kriegt eure Probleme bald wieder geregelt. Was auch immer es ist.“
„Danke.“ Hannes und ich umarmten uns.
„Hey, was soll das denn?“, rief plötzlich eine mir sehr bekannte Männerstimme ein paar Meter von mir entfernt.
„Was soll was?“, rief Hannes zurück.
„Was hat meine Freundin in deinem Arm zu suchen?“, fragte Lukas schreienderweise. Er wirkte gar nicht nett. Seine Äußerung gefiel mir aber genauso wenig. Bevor ich etwas erwidern konnte, schoss Hannes schon zurück. „Ich hab nur versucht, Sara etwas zu trösten! Sie sagte, ihr hättet Probleme.“
Lukas nickte. „Das sieht dir ähnlich. Machst dich genau dann an sie ran, wenn es mal nicht so toll läuft. Wie du sie trösten willst, kann ich mir lebhaft vorstellen. Und was gehen dich eigentlich unsere Beziehungsprobleme an?“
„Was willst eigentlich grade du den Moralapostel hier spielen?“, rief ich, doch man hörte mich schon gar nicht mehr.
„Jetzt halt aber mal die Luft an!“, schrie Hannes. „Nur weil ich ihr einmal wehgetan habe, denkst du, ich mach das noch mal? Ich mache nichts mehr, was sie irgendwie verletzen könnte!“
„Was willst du damit sagen?“, knurrte Lukas und kniff die Augen zusammen.
„Oh, gar nichts.“ Hannes wollte sich davon machen und rempelte Lukas im Vorbeigehen ein klein bisschen an.
„Hey, mach das nie wieder!“, brüllte Lukas prompt. Hannes tat es wieder. Und schneller, als ich ‚Beziehungsprobleme‘ sagen konnte, gab es vor meinen Augen die schlimmste Prügelei, die ich je in meinem Leben beobachten durfte. Zwei Studenten in den Zwanzigern kloppten sich fieser, als ich es bei den Schulrowdys in neun Jahren weiterführender Schule je beobachten durfte. Und da hatte ich keinen Bock mehr. „Wisst ihr was? Macht euren Kram untereinander aus“, sagte ich zu dem ineinander verkeilten und keilenden Knäuel auf dem Boden und ging endlich in die WG, um die Einkäufe zu verstauen.

Das Erstaunliche war, ich fühlte mich danach echt gut. Zumindest fühlte sich alles so an, als ginge mich alles nichts mehr an. Nichts betraf mich. Ich schmiss mit Freuden den Haushalt, nachdem Anna das zuvor übernommen hatte. Ich erledigte wieder ein paar Schichten im Studentencafé. Es ging voran. Die S-Bahn brachte mich am Donnerstag nach Hause. Pfeifend lief ich die Treppenstufen hoch, schloss die Wohnungstür auf und deponierte meine Sachen in der Küche.
Irritiert stellte ich fest, dass meine Zimmertür offen war. Hatte ich sie nicht zugemacht, als ich heute Morgen gegangen war?

Bedeutungsschwanger, Teil 6

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Lukas stand, wie ich vermutet hatte, in der Küche. Nun stand ihm aber der Mund offen und seine äußerst weibliche Begleitung fing an zu lachen.
Ich kam mir in diesem Augenblick so blöd vor wie noch nie in meinem Leben. Schön, der ausgestellte Unterteil des Kleides sah etwas komisch aus, aber… ich fand, ich war schön…
„Wollen nur hoffen, dass du nicht immer so rumläufst“, prustete die Frau, die da neben meinem Freund stand. Wer zur Hölle war das?
Lukas beantwortete sogleich meine Frage. „Sara, das ist Kiki, unsere neue Bassistin.“
Aus irgendeinem Grund war ich nicht sehr erfreut, behauptete aber das Gegenteil und checkte sie schon einmal per Augen ab.
Sie sah gut aus. Sie hatte lange, schwarze und zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare, ein breites Lächeln mit unheimlich vielen weißen Zähnen und eine Figur wie eine Sanduhr.
Das trug natürlich nicht dazu bei, meine Laune zu heben. „Sehr schön, dich mal kennen zu lernen“, flötete ich mit einem Haifischlächeln, „ich geh mich nur eben schnell umziehen, bevor wir losfahren.“ Ich lachte auf und verzog mich wieder ins Bad.
In Windeseile zog ich das rote Kleid aus, verstaute es in der Tüte und zog meine normale Kleidung wieder an. Als ich in den Spiegel sah, fand ich allerdings, dass ich aussehtechnisch einfach gegen Kiki verlieren musste. Nicht willens, diesen Umstand anzuerkennen, arbeitete ich tonnenweise Haarspray in meine Mähne ein, schmierte etwas Abdeckung über Hautunreinheiten und verzierte meine Augen. Hätte ich mir auch sparen können.
„Kommst du, Sara?“
„Natürlich, Lukas!“, trällerte ich, verdrehte die Augen und verließ das Bad mit meiner Handtasche.
Wir fuhren in ihrem Auto zum Probenraum. In ihrem Auto. Die Fahrt war die Hölle. Die ganze Zeit erzählten sich Lukas und Kiki irgendwelche Anekdoten und Insider von früher, die ich nicht verstand und die mich beunruhigten. Um überhaupt irgendwas zum Gespräch beizutragen, sprach ich Kiki auf die ersten beiden Buchstaben ihres Autokennzeichens an, die weder auf Frankfurt noch auf unsere Heimat lauteten.
„Oh, das!“ Sie lachte. „Ich dachte schon, dass du danach fragst.“
Ach, echt?
„Das hat das Kennzeichen von dort, wo meine Oma wohnt. Die hat mir nämlich ihr Auto überlassen.“
„Aha.“
„Ach, du weißt doch noch, damals, wo wir deine Oma zum ersten Mal besucht haben?“, rief Lukas aus.
„Ja!“, antwortete Kiki nicht weniger laut. „Und dann hast du doch…!“ Gelächter. „Und dann hab ich…!“ Noch mehr Gelächter. Das ging einige Minuten so. Wenn wir nicht angekommen wären, hätten sie noch weiter gelacht. Kiki wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht und rief: „Hach, war das lustig!“
Ja, wahnsinnig lustig.
Die Bandmitglieder machten ihre typischen Männerumarmungen mit Patschehändchen auf den Rücken. Um Kiki kümmerten sie sich alle besonders. Ich bekam aufmerksame Blicke und Äußerungen wie „Du bist also die, nach der wir so lange gesucht haben!“ mit. Wie konnten sie auch anders. Klar. Ich lachte auf.
Ich setzte mich auf einen Stuhl und die Bandmitglieder positionierten sich um ihre Instrumente.
„Okay, wir probieren heute ein neues Stück aus“, kündigte Lukas an.
„Welches denn?“
„Ich dachte, wir nehmen Velvet in unser Programm auf“, informierte er mich. Ich freute mich darüber, dass die Students das Stück spielen wollten, denn es gehörte zu meinen Lieblingsliedern. Weniger erfreut war ich darüber, dass er es mit Kiki als Backgroundsängerin aufführte.
Und dann machte Kiki ihren Mund auf. Mir blieb der Mund offen stehen. Ich kam nicht umhin, den Gesang, der ihr entströmte… schön zu finden.
Sie brachte die Melodie so unheimlich schön herüber – ich dachte fast, jemand hätte das Radio angestellt. Bezüglich ihrer Fähigkeiten am Bass konnte ich nur das Gleiche behaupten.
Weil das Stück mehrmals geübt wurde, hatte ich noch mehr Gelegenheit, dies zu erfahren. Und danach standen ja noch viele andere Stücke auf dem Programm. Eigene und gecoverte. Sie meisterte sie alle brilliant.
Nach ungefähr einer Stunde machten die Students kurz Pause. Sie klopften sich alle auf den Rücken. Bei Kiki bekam es noch eine anerkennende Note.
Ich ging zu ihr hin.
„Wow, du hast wirklich toll gespielt!“
„Vielen Dank!“ Sie strahlte mich an. „Hab mir auch echt Mühe gegeben. Ist schließlich meine erste Probe.“
„Ja, beim ersten Mal strengt man sich immer besonders an, was?“
„Genau!“
„Bitte entschuldige mich, ich muss mal kurz für kleine Mädchen!“
„Klar, kein Problem!“
Ich suchte die nächstgelegene und dafür geeignete Örtlichkeit auf, riss die Hose runter, pinkelte und dachte nach.
Hatte ich vorhin übertrieben? Ich meine, wenn sich alte Bekannte wiedersahen, war es wohl ganz normal, dass man beisammen saß und sich über alte Zeiten amüsierte. Warum sollte das nicht auch bei Expartnern gehen? Und sie hatte ja wirklich große musikalische Talente. Warum sollte sie nicht mit Lukas in einer Band spielen? Da lief doch überhaupt nichts. Was dachte ich mir da nur wieder?
Ich lachte über meine eigene Dummheit, ging mir die Hände waschen und danach Richtung Probenraum.
Mir blieb das Herz stehen.
Schlagartig versuchte ich mir einzureden, man sehe gegen das Licht eh nichts und das sei nur eine Umarmung. Aber das war doch eh alles Selbstbetrug. Es war deutlich zu sehen, dass Kiki Lukas‘ Kopf in beiden Händen hielt und ihn küsste.
Absurderweise dachte ich daran, meine Handtasche mitzunehmen, bevor ich die Tür zuknallte und den Flur runterrannte.
„Sara! Bleib doch hier, ich liebe dich doch!“, rief Lukas hinter mir her. „Na toll, bist du froh, dass du alles kaputtgemacht hast?“, bildete ich mir noch ein, zu hören, aber da war ich schon fast weg.

Ich hatte das Glück, dass ich bei Nachhausekommen allein war. Ich blieb auch eine ganze Weile allein. Ich knallte mich auf die Küchenbank, als Unterlage für meinen Kopf diente die Handtasche. Einfach nur daliegen und auf die Decke starren. Hatte ich auch schon lang nicht mehr gemacht.
Die Tür klingelte, das war mir egal. Das Telefon klingelte, das war mir egal. Mein Handy war mir erst recht egal.
Blöde Schlampe. Blöder Idiot. Wieso hatte ich das nicht verhindert? Blöde Schlampe. Blöder Idiot.
Ganz ohne dass ich es merkte, wurde es dunkel. Genauso wie man lange nicht merkt, wie die eigenen Haare wachsen. Die Sonne sank, irgendwann taten es meine Augenlider ihr gleich. Jedenfalls schreckte ich hoch, als das Licht anging und Anna in der Tür stand.
„Was machst du denn hier?“
„Oh, äh…“ Ich sah mich um und rieb meine leicht feuchten Augen. „Es war so heiß in meinem Zimmer, da dachte ich, ich verzieh mich in die Küche.“
Mit hochgezogener Augenbraue entgegnete sie: „Wie wär’s erst mal mit Schuhe und Hose ausziehen? Und ich bin mir sicher, es gibt bessere Kühlungsmethoden, als die Wasserproduktion im Auge einzusetzen.“
Ich schluchzte los.
„Hey, was ist denn los? Das war doch nicht so gemeint. Was hast du denn?“ Anna setzte sich neben mich.
Zuerst kamen nur unzusammenhängende Leute aus mir raus.
„Was ist denn los? Erzähl’s mir doch.“ Anna streichelte mir die Wange.
„Dieser Idiot von Lukas und diese verdammte Schlampe von Kiki haben geknutscht!“
„Oh mein Gott! Wann ist das denn passiert?“
„Heute Nachmittag bei der Bandprobe. Ich hätt’s wissen müssen. Die haben sich ja schon so toll amüsiert heute!“, murmelte ich düster.
„Was meinst du damit?“, fragte Anna.
„Ha! Die haben sich so viel erzählt… so viel zusammen gelacht! Und dann…“ Ich schluchzte wieder. „Wieso tut er mir so was an?“
„Ich glaube nicht, dass er Gefühle für diese andere Frau hat.“
„Woher willst du das denn bitte wissen?“
„Ich bin mir sicher, dass er dich liebt. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass sie ihn überrumpelt haben könnte?“

„Wie meinst du das?“
„Ich will mal so fragen: Wie war denn seine Körpersprache bei dem Kuss?“
„Denkst du, ich hab darauf geachtet?“
„Sprich doch auf jeden Fall erst mal mit ihm. Ich bin mir sicher, ihr könnt das alles klären, vorausgesetzt, ihr sprecht miteinander.“
„Ich weiß noch nicht, ob ich das will.“ Ich entleerte meinen Nasenrotz lautstark in ein Taschentuch. „So, und jetzt geh ich richtig schlafen. Gute Nacht.“ Raus aus der Küche. Zimmertür zu. Welt aus.

Bedeutungsschwanger, Teil 5

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Dieses Telefonat hatte ich auf dem Weg von der Haltestelle nach Hause geführt. Eigentlich war es ein ganz normaler Tag gewesen. Bis auf die Tatsache, dass Aurélie nirgendwo zu sehen war. Ihre Sache. Früher war sie fest in unseren Alltag integriert gewesen, wie das eben so war bei guten Freunden, und jetzt war sie quasi weg. Nur noch für Freddy vorhanden. Und bald nicht mal mehr das.
Ich leerte ganz normal den Briefkasten, steuerte mit der daraus entnommenen Korrespondenz die Wohnung an und ging hinein. Gerade, als ich mein Zimmer aufschließen wollte, klingelte es an der Tür. Überrascht ging ich zur Gegensprechanlage. Anna steckte den Kopf aus ihrer Zimmertür.
„Hallo, wer ist da?“
„Hi, wir sind’s, Lea und Gero. Können wir raufkommen?“
„Öh, na klar, kommt ruhig her!“ Ich drückte den Türöffner und ein paar Sekunden später standen meine Schwester und ihr Freund in der Tür. Zur Begrüßung umarmtem Anna und ich sie herzlich.
Wir setzten uns in Annas Zimmer. Ich saß auf dem Bett. Anna hatte sich neben mir im Schneidersitz niedergelassen und umklammerte ihr Herzkissen. Sie sah aus, als hätte man ihr alles Blut aus dem Körper gesaugt.
Gut gelaunt fragte Lea: „Ist Aurélie noch nicht von der Uni wieder da?“
Betretenes Schweigen. Bis Anna zischte: „Die dumme Kuh kann bleiben, wo der Pfeffer wächst!“
Erschrocken fragte Lea, was mit unserer ehemals so guten Freundin geschehen war, dass Anna so etwas von sich gab.
„Tja, was soll ich sagen“, antwortete Anna. Sie sah meiner Schwester in die Augen. „Ich bin mit Kati zusammen, sie hat sich furchtbar darüber aufgeregt, das sei unnatürlich und so weiter, und dann hab ich sie aus der Wohnung geworfen.“
Lea und Gero standen die Münder offen. Meine Schwester ging kurz auf Anna zu und umarmte sie. „Mein Gott, Anna, das… hab ich ja gar nicht gewusst… und das mit Aurélie tut mir so wahnsinnig Leid!“
„Naja, was soll ich sagen. Immerhin eine weitere Idiotin enttarnt!“ Anna bemühte sich um ein Lächeln.
„Ich finde solche Leute furchtbar. Was soll denn bitte unnatürlich daran sein, wenn sich zwei Frauen lieben? Ist doch das Normalste von der Welt!“, regte sich Gero auf.
„Was ist jetzt eigentlich mit Freddy? Habt ihr den noch mal gesehen?“, erkundigte sich Lea.
„Ich hab grad noch mit ihm telefoniert“, erzählte ich.
„Echt? Was hat er so gesagt?“
„Dass sie nur noch bei ihm rumhängt, er sie mittlerweile unausstehlich findet und er sich von ihr trennen will.“ Ich guckte in der Runde herum.
Anna stand auf. Sie fuhr sich durch die Haare, ging zum Fenster, riss die Vorhänge auf, öffnete das Fenster, setzte sich wieder hin und machte einen auf erwartungsvolle Vorbeugung. „Na, warum seid ihr denn jetzt eigentlich hier?“
Blickaustausch. „Naja, ich weiß nicht, ob wir das jetzt noch verraten sollen“, gab Lea zu. Worauf Anna erwiderte: „Wieso nicht?“
„Nun ja… ist ja jetzt nicht grad ‘ne fröhliche Begegnung hier!“, warf Gero ein.
„Na und? Ich will nicht, dass ihr umsonst gekommen seid, und ich will auch nicht den Rest meines Lebens rumtrauern! Freuen wir uns lieber, dass Aurélie hier bald weg ist! Und jetzt sagt mir, wieso seid ihr hier?“, rief Anna mit einer solchen Energie, dass wir uns alle ungläubig anguckten.
Nachdem mehrere Blicke hin- und hergewechselt waren, sprachen Lea und Gero aus, was ihnen auf dem Herzen lag und der Grund ihres Besuches war:
„Wir heiraten!“
Zwei Worte, und doch so viel mehr als nur zwei Worte. Anna war die Erste, der in lauter Freude das Gesicht entrückte, nur Sekunden vor uns. Danach stürzten wir uns alle in die Arme, jubelten und freuten uns mit den Neuverlobten.
„Aber ihr wolltet doch gar nicht – du hast dich doch neulich noch mit Oma gestritten, weil du nicht wolltest!“
„Naja, es war nicht unbedingt so, dass ich nicht wollte, ich mag nur nicht zu etwas gezwungen werden!“ Leas Mund verzog sich zu einem Grinsen. „Und außerdem, denk mal an die ganzen Steuervorteile!“
„Ich finde ja nun nicht unbedingt, dass die allein ein Grund zum Heiraten sind“, mahnte Anna. „Wann genau soll die Hochzeit denn stattfinden?“
„Nächste Woche Freitag.“
Wir schauten uns erstaunt an. „So schnell? Gerade du?“
„Ja, ich bin immer wieder für Überraschungen gut“, schmunzelte meine Schwester.
„Aber wie habt ihr denn das geschafft? Das ist ja ‘ne richtige Blitzhochzeit!“, bemerkte Anna ganz richtig.
„Naja, ich wollte das Ganze halt unbedingt durchziehen, bevor…“ Lea senkte ihren Kopf Richtung übergroßen Bauch.
„Ja, aber, bist du denn verrückt?“, gab ich zurück. „Der Geburtstermin ist doch schon in zwei Wochen? Was musst du denn da unbedingt noch vorher heiraten?“
„Keine Sorge“, versicherte mir Lea, „die Kleine kommt genau am Sechzehnten zur Welt. Keinen Tag früher. Ich hab das alles mit der Gyn abgesprochen.“
So sicher war ich mir da nicht. „Naja, du warst schon immer dafür bekannt, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen.“

Der nächste Tag barg viele aufregende Begebenheiten und Aufgaben. Im Positiven wie im Negativen. Ich musste wieder einmal eine Runde Dienst im Café schieben, aber das war im Grunde keine wirkliche Arbeit, denn es machte viel Spaß und kurz vor Semesterende kamen nicht mehr so furchtbar viele Gäste. Nicht zuletzt gab es gut Geld dafür. Wer konnte das nicht gebrauchen?
Nach der Schicht hatte ich mich mit Kati verabredet; ich wollte mit ihr in die Stadt gehen. Da sie ein Händchen für Mode hatte, hatte sie sich bereit erklärt, bei der Wahl meiner Garderobe für nächste Woche Freitag zu helfen. Ich hatte davon ja überhaupt keine Ahnung. Shoppen war mir im Allgemeinen ein Graus.
Kurz, bevor meine Schicht endete, so eine halbe Stunde etwa, kam Kati ins Studentencafé, ließ sich auf einen Hocker am Tresen nieder und bestellte einen Kaffee.
„Na, wie isses?“, begrüßte ich sie.
„Ach, die ganze Welt verändert sich so schnell!“, bekam ich zur Antwort.
Ich streute ein Kaffeepulverherz auf die Milchhaube. „Als hätte ich das nicht schon dreitausend Mal gehört in der letzten Zeit.“
Kati nickte lebhaft. „Ja, das stimmt aber auch. Ich hab ‘ne neue Freundin, ich verlier ‘ne gute Freundin, jetzt wird auch noch geheiratet…“
„Du bist übrigens auch herzlich eingeladen.“ Ich stellte den Kaffee vor ihr hin.
„Ich weiß nicht, ob ich kommen will.“ Missmutig starrte sie auf das Kakaopulverherz.
„Wieso nicht? Es wird sicher eine sehr schöne Feier. Und uns allen wird sicher was fehlen, wenn du nicht dabei bist.“
„Meinst du?“ Sie schaute auf. „Und wenn da wieder irgendwelche Idioten sind?“
„Auf die musst du scheißen!“, sagte ich in aller Deutlichkeit. „Sind nur nette Leute eingeladen. Aurélie darf also zum Beispiel schon mal gar nicht kommen.“
„Na dann.“
„Du darfst jetzt ja nicht den Fehler machen und dich eingraben! Hat deine Liebste übrigens auch gesagt.“
„Wann das denn?“
„Na, gestern Abend.“
Sie schlürfte einen großen, großen Schluck von ihrem Kaffee. Und dann sah sie mich wieder an. „Eigentlich hast du Recht.“ Kurzer Blick auf die Uhr. „Dann gehen wir also mal gleich los, um für dich nach den umwerfendsten Hochzeitsoutfits zu gucken, die es gibt.“ Jetzt lächelte Kati sogar.
Nach einem kurzen Blick auf die Wanduhr beschloss ich ebenfalls, dass es Zeit war, loszufahren, hing die Schürze an die Wand und wir machten uns auf den Weg.

An diesem Nachmittag hatte ich gelernt, dass Shoppen durchaus unterhaltsam sein konnte, vorausgesetzt, man nahm jemanden mit, der dafür geeignet war, und besuchte die richtigen Läden. Bis jetzt war ich eigentlich fast nur in Familienbegleitung unterwegs (wie toll das ausgehen kann, weiß sicherlich jeder junge Erwachsene), und die wenigen Male, die ich mich seit meiner Volljährigkeit in Läden gewagt hatte, waren immer einhergegangen mit furchtbarer Beleuchtung in viel zu kleinen Umkleidekabinen und mit noch kleineren Klamotten. Wenn man manche Geschäfte besuchte, konnte man echt glauben, auf der Welt gebe es nur noch Frauen mit Größe 36 oder kleiner.
Aber an diesem frühen Sommernachmittag war alles anders. Ich hatte eine kompetente Beraterin dabei, die Verkäuferinnen kümmerten sich auch um mich, und außerdem gingen wir nicht in die Massengeschäfte; da gab es sowieso nicht das, was wir suchten. Dutzende Teile hatten wir ausprobiert, bis ich zwei schicke Teile gefunden hatte. Eins davon in Leas Wunschfarbe Rot. Da etwas Schönes zu finden, war eine Heidenarbeit. Ich dachte eigentlich immer, Rot würde mir überhaupt nicht stehen. Doch schließlich hatte ich etwas Passendes gefunden und es sah sogar ganz gut aus.
Ich konnte es gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen. Ich wusste nämlich, dass Lukas zu Hause bereits auf mich wartete. Er hatte mir geschrieben, dass er etwas früh dran war, um mich für die Bandprobe abzuholen. Also öffnete ich die Tür, brüllte ein „Hallo, ich bin da!“ in die Wohnung und verzog mich sogleich mit meinen Einkäufen in die Toilette. Zuerst wollte ich ihm mein wunderschönes Kleid zeigen, das für die kirchliche Hochzeit gedacht war. Ich streifte es also über und lief in die Küche, aus der ich seine Stimme vernahm. „Hallo, wie findest…“ Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken.

Bedeutungsschwanger, Teil 4

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Lukas und ich verbrachten einen schönen Nachmittag zusammen. Wir liefen ein wenig durchs sonnige Frankfurt, aßen ein bisschen Eis und kuschelten in meinem Bett. Die Sonne schien und bruzzelte ordentlich. Jedenfalls ließ sie offenbar die Gehirne einiger Mitmenschen ordentlich braten, wie ich nach dem Nachmittag leider denken musste.
Es hätte so schön sein können. Zeit mit Lukas verbringen, sich daran erfreuen, wie die Dinge so liefen. Und vor allem nicht das erleben, was mir passierte.

Alle Menschen dieser Welt sind sicher schon mal sehr unangenehm aufgewacht. Ist mir auch schon öfters untergekommen. Aber selten war es so schlimm wie an diesem Tag.
Lukas und ich kuschelten in meinem Bett und hatten es sehr gemütlich. So gemütlich, dass wir nach einer Weile einfach wegdösten. Ich hatte es nicht mal gemerkt, bis Aurélie in mein Zimmer stürmte wie ein Stier in die Arena. Ich musste daran denken, wie ich neulich im Fernsehen einen durchgedrehten Stier gesehen hatte, der das Publikum attackierte. Lukas und ich schreckten hoch.
„Was ist denn los?“, murmelte ich.
„Ich kann kaum glauben, dass diese hinterlistige Schlampe so etwas Ekliges macht!“, schrie sie schon fast und streckte mir einen Gegenstand entgegen, der mir in meinen noch verschlafenen Augen so vorkam wie Annas Handy.
„Wie bitte? Zeig mal her!“, antwortete ich und riss Aurélie das Teil aus der Hand. Gierig las ich das, was auf dem Display angezeigt wurde. Eine SMS von vor ein paar Stunden.
Ich bin so froh, dass ich dich kennen gelernt habe. Ich hoffe, wir können viel Zeit miteinander verbringen. Ich liebe dich. Kati.
Ungläubig wie noch nie in meinem Leben starrte ich Aurélie an. „Und was ist jetzt genau dein Problem?“
„Also, ich bitte dich! So was ist doch total ekelhaft! Mädchen und Mädchen, bah! Und überhaupt – so was zu machen, ohne uns das zu sagen. Stell dir doch mal vor, wie oft sie uns nackt gesehen hat und sich wahrscheinlich noch daran aufgegeilt hat!“ Sie schüttelte sich. Ich mich innerlich auch.
„Sag mal, hast du sie noch alle? Es ist überhaupt nicht unnatürlich, wenn zwei Frauen was für einander empfinden! In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich? Und wie würde es dir eigentlich gehen, wenn dir jeder Kerl pauschal unterstellen würde, du würdest dich an ihm aufgeilen? Sag mal, geht’s noch?“ Meine Stimme steigerte sich fast bis zum Überschlag. Lukas, der bis dahin nur still dagesessen und sich nicht getraut hatte, sich irgendwie zu äußern, stupste mich an und zeigte mit seinem Kinn auf die Tür. Und da stand Anna.
Ihr Mund stand offen. Das wäre mir wahrscheinlich auch so gegangen.
„Was… was machst du denn hier?“, stammelte ich hilflos. Ohne ein Wort ging sie zu mir und nahm mir das Handy aus der Hand. Dann starrte sie Aurélie an. Hasserfüllt. In ihren Augen bildeten sich Tränen.
„Raus!“, schrie Anna und zeigte auf die Zimmertür. „Raus mit dir! Ich will dich hier nie wieder sehen!“
Aurélies Blick war nicht zu deuten. Irgendwie leer. Jedenfalls schien es nicht so, als würde Anna ihr noch irgendetwas bedeuten.
Sie schnappte sich ihre im Flur liegende Tasche und verließ das Haus.
Anna klappte auf meinem Teppich zusammen. Sie weinte sich fast das Herz raus. Es kamen verheulte Wortfetzen aus ihr raus: „Wie kann sie nur… sie akzeptiert mich nicht… will sie nie wieder sehen!“
Um sie zu trösten, nahmen Lukas und ich sie in den Arm. Aber manchmal gibt es wohl einfach keinen Trost.

You’re too complicated
We should separate it
You’re just confiscating
You’re exasperating
This degeneration
Mental masturbation
Think I’ll leave it all behind
Save this bleeding heart of mine
It’s a matter of trust
Because you don’t care about us

Anna fühlte sich schrecklich. Es ist immer schrecklich, wenn du plötzlich feststellst, dass die Leute, mit denen jahrelang eine enge Freundschaft bestand, dich auf einmal verachten und ablehnen. Noch dazu aufgrund solch einer Sache. Wie geht man damit um, wenn man gerade damit angefangen hat, eine andere Seite an sich zu entdecken, mit der man selber noch nicht so recht umzugehen weiß und dann erhält man auch noch negative Reaktionen? Anna haute es ziemlich um, verständlicherweise. Mit Kati traf sie sich nur noch zu Hause, weil sie keine fremden Blicke mehr ertragen konnte.
Aurélie ließ sich nach dem Vorfall natürlich nicht mehr blicken. Wir legten auch keinen gesteigerten Wert drauf, zu wissen, wo sie war. Es war uns egal. Wir nahmen an, dass sie die meiste Zeit bei Freddy verbrachte.
Mir war aufgefallen, dass ich ihn, seit er mit Aurélie zusammen war, kaum noch gesehen hatte. Ein wahres Kunststück, wenn man bedachte, dass ich jetzt mit Aurélie zusammenwohnte. Sie saugte wohl seine ganze Zeit auf. Viel mehr als ein paar Gespräche waren da nicht zusammengekommen.
Besonders in Anbetracht der augenblicklichen Situation musste das dringend geändert werden. Ich rief ihn an.
„Steiner?“
„Sara hier, hallo. Na, wie geht’s?“
„Bescheiden, und dir?“
„Könnte besser sein. Wieso, was ist bei dir denn los?“
„Ich könnte mich erschießen. Aurélie hängt nur noch bei mir rum und schimpft und hetzt die ganze Zeit, dass meine Ohren schon am Bluten sind.“
Dann war meine Vermutung also richtig gewesen.
„Lass mich raten: Es hat was mit Anna zu tun, stimmt’s?“
„Ja, genau. Mal ehrlich, es ist mir mittlerweile ein Rätsel, wie ich diese Frau jemals lieben konnte.“
Ich war überrascht, so etwas zu hören, und dann auch wieder nicht. „Und was willst du jetzt unternehmen? Ist sie grade bei dir?“
„An sich schon, aber sie ist grad einkaufen.“ Freddy atmete tief durch. „Was werde ich schon machen wollen? Ich seh da absolut keine Zukunft mehr. Wer will auch schon mit einer Frau zusammen sein, die so einen Scheiß redet und einem dann auch noch die ganze Zeit stiehlt? Ich werde die Sache beenden, bevor sie meine Minibutze komplett in Beschlag nimmt.“
„Gute Entscheidung“, antwortete ich. „Aber achte dabei auf deinen Ton, bevor du dir ihren heiligen Zorn zuziehst. Wer weiß, was dann noch passiert.“

Bedeutungsschwanger, Teil 2

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Den Nachmittag verbrachte ich damit, laut Musik zu hören. Hauptsächlich deshalb, weil mein Bruder dasselbe tat. Laute Musik war im Prinzip das Einzige, was gegen laute Musik half. Auch wenn meine Eltern das nicht einsehen wollten und es weiterhin mit Ermahnungen versuchten. Wenigstens gaben die restlichen Familienmitglieder Ruhe.
Irgendwann brüllte ich „Tschau!“ ins Zimmer meines Bruders, verabschiedete mich von allen anderen Familienmitgliedern herzlich und ging zurück zum Bahnhof. Ich war ziemlich gut drauf.
Ich wollte mich nämlich mit Lukas treffen. Das war zuletzt irgendwie untergegangen, im Uni-Stress et cetera. Jetzt hatten wir endlich frei. Aber das war nicht der einzige Grund, warum wir uns treffen wollten.
Er hatte mich vor drei Tagen aufgeregt angerufen und gesagt, es gäbe wunderbare Neuigkeiten. Und dass er mich zum Essen einladen wollte. Ich konnte mir nun überhaupt nicht vorstellen, worum es ging, aber ich freute mich auf jeden Fall auf einen schönen Abend mit meinem Freund.
Vor dem Rendezvous machte ich noch einen Zwischenstopp in der WG, um mich ein wenig aufzuhübschen. Ich wollte ja gut aussehen. Ich lief die knapp über siebzig Stufen hoch, öffnete die Tür und ließ die Tasche auf den Boden fallen. Im selben Augenblick streckte Anna den Kopf durch ihre Zimmertür. „Hi, Sara! Na, wie geht’s?“ Mir fielen sofort ihr Elan und ihre gute Laune auf, die in ihrer Stimme lagen. Dann schritt sie auch noch aus der Tür und drehte sich einmal im Kreis. „Na, wie findest du mein neues Outfit?“
Mir blieb der Mund offen stehen. „Wow, du siehst unglaublich aus!“
In der Tat konnte ich es einfach nicht glauben. Anna hatte ihr Erscheinungsbild komplett verändert. Normalerweise immer in der klassischen Sweatjacke-Jeans-Kombination gekleidet, war sie jetzt in ein rosafarbenes, ärmelloses Kleid und Ballerinas verpackt. Und das war nicht alles. Statt die Haare wie üblich in ein Haargummi nach hinten zu binden, waren sie offen. So fiel mir erst auf, wie lange Haare Anna eigentlich hatte. Sogar ihre Brille hatte sie weggelassen. Trug sie Kontaktlinsen? Jedenfalls musste Anna ihre Augen nicht zusammenkneifen, um mich zu sehen.
Wieso hatte sie sich so verändert? „Wow, du hast deinen Stil komplett verändert… was ist los?“
„Ach, ich fühle mich so glücklich, ich könnte die Welt umarmen!“, freute sich Anna und tänzelte auf dem Flurteppich herum. Das war für sie höchst ungewöhnlich. Nicht, dass sie sonst immer rumlief wie sieben Tage Regenwetter, aber explosiv gute Laune kam nun auch nicht gerade oft vor…
„Was ist denn los?“
„Ich habe gleich ein Date!“
Anna ein Date? Das war aber nun wirklich ungewöhnlich. In den fast zehn Jahren, die ich sie nun schon kannte, hatte sie sich noch kein einziges Date gehabt. Sie war nicht mal verliebt gewesen. Klar, ein bisschen verknallt schon, aber nie war es was Richtiges gewesen. Ich hatte ja auch sehr lange liebestechnisch nichts am Laufen gehabt, aber ich war ja immerhin tausend Mal verliebt gewesen…
„Ich freue mich schon so. Sehe ich eigentlich hübsch aus? Oder soll ich doch noch mal ein anderes Teil anprobieren?“
„Du siehst toll aus. Aber mit wem hast du dich denn verabredet?“
Annas Gesichtsausdruck rutschte ins Eigenartige. So zwischen geheimnisvoll und glücklich. „Ist ein Geheimnis!“, sagte sie dann auch dazu passend. „Ich will das erst sagen, wenn was draus wird.“
„Wieso? Hast du eine Affäre mit einem Politiker und keiner soll’s erfahren?“
„Nee, aber es ist eben mein Geheimnis.“ Ihr Lächeln verschwand kurz, um gleich darauf wiederzukommen. „So, ich muss gleich los, ich hoffe –“ In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. „Ja? – Ja, ich bin’s, was gibt’s?“ Sie verschwand in ihrem Zimmer…
Wieso zur Hölle verschwand sie zum Telefonieren in ihr Zimmer? Das hatte sie doch sonst auch nicht für nötig gehalten. Was hatte das nur wieder alles zu bedeuten?
Kopfschüttelnd ging ich in mein Zimmer, zog mein kleines schwarzes Kleid mit den Pailletten drauf an und schminkte mein Gesicht ein bisschen. Gerade, als ich mein Spiegelbild ein letztes Mal betrachten wollte, flog die Tür plötzlich auf und Anna stürmte herein. „So, ich muss jetzt los. Ich freu mich schon so auf sie! Äh, ich meine, auf die Person. Bis dann!“ Drückte mir einen Schmatzer auf die Wange und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.
Meine beste Freundin verhielt sich so irre wie noch nie. Ich hatte aber auch nicht mehr viel Zeit, um darüber nachzudenken, denn schon klingelte Lukas an der Haustür, um mich abzuholen.

Er hatte sich einen Anzug angezogen, worüber ich mich sehr freute. In Anzügen sah er nämlich unheimlich gut aus. Ob das der einzige Grund war, aus dem er jetzt in Schwarz und Weiß und Krawatte steckte?
Vorm Restaurant stiegen wir von seinem Roller runter. „Ist irgendwas?“, fragte Lukas. „Du siehst so konfus aus.“
„Schon gut, reden wir gleich drüber.“
Das Restaurant war ziemlich schick. Ich war fast ein bisschen eingeschüchtert.
„Wie war denn dein Tag, Sara?“, fragte Lukas mich, als wir uns auf den Stühlen niederließen.
„Ach, frag nicht.“
„Wieso, was war denn los?“
„Meine Familie spielt verrückt und Anna dreht durch vor Liebe.“
„Was haben sie denn gemacht?“
Ich trank einen Schluck Orangensaft. „Die werdenden Eltern streiten sich über jeden Scheiß zur Zeit. Sogar über so lächerliche Sachen wie die Wandfarbe fürs Kinderzimmer. Lea will Rosa, Gero ist dagegen. Und was alles noch schlimmer macht: Oma will unbedingt, dass die beiden heiraten.“ Ich sprach das Wort so aus, als hielte ich das für etwas total Schlimmes.
„Was ist denn daran so schlimm?“, fragte Lukas und zuckte mit den Achseln.
„Keine Ahnung“, antwortete ich und zuckte nun meinerseits mit den Achseln. „Die beiden sind vielleicht auch nicht so unbedingt fürs Heiraten… Aber vielleicht hätten sie sich noch dazu entschlossen, wenn Oma jetzt nicht so angekommen wäre. So waren sie natürlich dagegen. Du weißt ja, besonders Lea hasst es, wenn man ihr etwas aufzwingen will.“
„Naja, um ehrlich zu sein, hätte ich das schon erwartet bei deiner Oma“, gab er zu. „Sie kommt halt noch aus einer Generation, in der das so üblich war. Und jetzt muss ihrer Meinung nach das Kind wohl legitimiert werden.“
„Tjaja, da hast du wohl Recht“, pflichtete ich ihm bei. „Jedenfalls gab es zu Hause einen Riesenzoff. Und was alles nicht besser gemacht hat, war Pauls verspätetes Erscheinen beim Essen. Der Kleine kommt wohl grad in die Pubertät und so, jedenfalls soll so was in letzter Zeit häufiger vorkommen. Und er läuft jetzt rum wie einer dieser Unterstufengangster.“
„Buah, schrecklich!“ Lukas verzog sein Gesicht.
„Ja, das kannst du wohl sagen. Und natürlich hat er auch so ein Monsterhandy. All das hat natürlich nicht dazu beigetragen, die Stimmung zu heben.“
„Kann ich mir lebhaft vorstellen.“
Jetzt brachte uns die Kellnerin die Vorspeise. Sie schmeckte sehr gut. „Ich freue mich, dass du mich zum Essen eingeladen hast. Haben wir schon länger nicht gemacht“, sagte ich und lächelte ihn an. Er nahm meine Hand. „Ja, und es ist nicht einfach so. Ich habe tolle Neuigkeiten!“
„Echt? Welche denn?“
„Es ist so unglaublich!“
„Na, was denn? Nun erzähl schon!“, forderte ich Lukas ungeduldig und lächelnd auf.
Er schien zu zögern. Schließlich entschloss er sich aber doch dazu, es mir zu erzählen. „Erinnerst du dich noch daran, wie ich mit diesem Typen gesprochen habe, dem der Club in der Rosenstraße gehört?“
„Ja, warum?“
„Er fand uns total cool und wir werden bald regelmäßig dort auftreten! Jeden Freitagabend!“
„Wow, das ist ja toll!“ Ich freute mich für ihn.
„Und das ist noch nicht alles: Wir haben endlich einen neuen Bassisten!“
Jetzt hechtete ich so halb über den Tisch, um ihn zu drücken. Dabei hätte ich fast meinen Orangensaft umgestoßen. Lachend setzte ich mich wieder hin. „Das sind ja wirklich gute Neuigkeiten!“
„Hast du nicht Lust, zur ersten Probe vorbeizukommen? Ich bin mir sicher, du würdest dich mit ihr verstehen.“
„Mit ihr?“ Ich war verwundert.
„Ja. Es ist eine Sie.“
„Gibt ja nicht viele Frauen, die Bass spielen, oder? Wie heißt sie denn?“
„Kiki.“
Kiki, bei dem Namen klingelte irgendwas in meinem Kopf, ich konnte aber nicht genau sagen, was.
„Entschuldigst du mich bitte kurz? Ich muss eben für kleine Jungs“, sagte Lukas plötzlich. Zerstreut antwortete ich: „Jaja, geh nur.“ Dann setzte ich meine Gedanken fort…
Kiki, wieso kam mir dieser Name bekannt vor?
War es jemand, den er aus der Schule kannte? Aus der Uni? Eine Verwandte?
Lukas kam zurück und rieb sich freudig die Hände. „Du glaubst mir gar nicht, wie sehr ich mich auf die erste Probe freue! Echt super, dass ich Kiki wieder getroffen habe. Und was wir uns nicht alles zu erzählen hatten! Nach all der Zeit.“
Und da fielen mir die Tomaten von meinen Augen.
Kiki war seine Exfreundin.
Im Gegensatz zu mir hatte er vor mir schon Beziehungen gehabt, und ich wusste das. Es hatte mich im Grunde nie besonders interessiert. Aber jetzt wurde ich doch unruhig…
„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass Kiki deine neue Bandkollegin ist?“
„Wieso sollte ich?“ Er schien unsicher.
„Wieso solltest du“, echote ich. „Vielleicht, weil es mich doch ein klein bisschen interessiert, wenn du mit deiner Exfreundin ZUSAMMENSPIELST?“
„Bitte beton das Wort nicht so!“
„Wie denn sonst?“
„Sara!“, rief er. Er ergriff meine Hand. „Bitte. Sie ist nur eine gute Freundin. Da passiert nicht. Sie hat doch selbst einen Freund. Ich würde doch nie eine andere wollen als dich!“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich. Ich liebe dich doch, wie könnte ich da je was mit einer anderen anfangen?“

Krümelmonster, Teil 8

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Irgendwie bekam ich Hannes an dem Tag gar nicht zu Gesicht. Na gut, das konnte vielleicht daran liegen, dass wir nicht die gleichen Studienfächer hatten oder dass er einfach keine Lust auf die Vorlesungen hatte. Verständlich. Hatte ich auch selten.

Ich hatte auch eigentlich keine Zeit, mich darüber zu wundern, denn als ich just aus dem riesigen Unigebäude gehen wollte, stand plötzlich Lea vor mir.

„Hey, was machst du denn hier?“, fragte ich erstaunt und umarmte meine Schwester.

„Ach, ich wollte dich einfach abholen“, antwortete sie.

„Dann bis später“, verabschiedete sich Anna, die bis dahin mit mir gegangen war.

„Bis später“, winkten wir ihr und liefen dann gemeinsam die Robert-Mayer-Straße entlang.

„Du hast mir ja gar nicht Bescheid gesagt, was ist denn los?“, erkundigte ich mich bei ihr.

„Na jaaa…“ Sie seufzte. „Ich wollte nur mal wissen, wie es dir geht.“

„Wie es mir geht? Und da kommst du extra vorbei, anstatt mir ‘ne SMS zu schreiben oder anzurufen?“

„Na ja, ich hab mich doch schon ziemlich lange nicht mehr bei dir gemeldet, oder?“

Wenn sie zwei Tage als lang bezeichnen wollte, dann hatte sie vermutlich Recht. Was war mit Lea?

„Komm, du bist doch nicht hergekommen, um zu fragen, wie’s mir geht. Das könntest du doch auch telefonisch machen. Also, was stimmt nicht mit dir?“

Jetzt blieb Lea stehen und ließ sich damit fast von einem Fußgänger anrempeln, der sie mürrisch anguckte. „Ich bin zu dir gekommen“, antwortete sie nun mit bewegter Stimme, „da ich heute zum Arzt wollte.“

Da war auch ich plötzlich aufgeregt. „Hast du dich jetzt endlich durchgerungen?“

„Ja, habe ich.“ Lea atmete tief durch. „Ich hab mir ein Ärztehaus in der Dominikanerstraße ausgesucht. Ich wollte nicht zu Hause zum Arzt gehen.“

„Das kann ich verstehen.“

Wir kamen an der U-Bahn-Station an.

„Wo willst du jetzt hin? Zu mir nach Hause oder irgendwen besuchen?“

„Na ja“, antwortete Lea, „ich wollte eigentlich direkt zum Arzt gehen. Gero kommt auch, der wartet an der Brücke auf mich.“ Gero, das war ihr Freund, den ich ziemlich selten zu Gesicht bekam; das war auch schon so gewesen, als ich noch bei meinen Eltern gewohnt hatte.

Schweigend gingen wir zur Brücke. Und tatsächlich stand Gero am anderen Ende. Er schaute uns an und trug wie üblich seine schwarze Jacke und das Armycap.

„Hi, Mädels“, sagte er nur und küsste Lea auf den Mund. Das erste Mal, dass ich wieder was von ihm gehört hatte, seit ein paar Wochen. Obwohl ich ihn Samstag und Sonntag gehört hatte.

Zu dritt liefen wir die zwei Kilometer zum Arzt. Ja, zu Fuß, das konnte ich irgendwie selbst nicht glauben. Außerdem sprach keiner von uns ein Wort, bis wir angekommen waren.

In meinem Kopf lief ein sehr komischer Gedankenfilm ab, mit Hannes, Anna und Lea in den Hauptrollen und Gero als Nebendarsteller. Ich ließ den ganzen Tag Revue passieren. Erst die Sache mit Hannes und die Tatsache, dass wir heute Morgen nebeneinander aufgewacht waren. Und jetzt, wo meine Schwester neben mir lief, sorgte ich mich um sie.

Wenn sie wirklich Diabetes hatte, so, wie sie vermutete, dann wäre das doch nicht gefährlich, oder? Wir hatten das in der Schule behandelt und ich wusste, dass man das in den Griff kriegen konnte. Aber würde sich Leas Leben dadurch nicht grundsätzlich verändern? Würde das nicht ihren ganzen Lebensplan umschmeißen, wenn sie immer Broteinheiten zählen musste und sich ständig Insulin spritzen musste?

Ich war ziemlich besorgt, aber als wir vor dem Ärztehaus ankamen, nahm ich sie kurz beiseite.

„Hab keine Angst. Du bist bestimmt nicht krank und wenn doch, dann ist es zwar ernst, aber nicht todernst. Das kannst du… irgendwie in den Griff kriegen. Ich helf dir dabei.“

„Danke, Kleine“, antwortete Lea und umarmte mich. Dann gingen wir gemeinsam ins Ärztehaus.

Lea musste, was ziemlich ungewöhnlich ist, nicht besonders lange warten und kam fast sofort dran. Zusammen mit einigen älteren Damen saßen Gero und ich im Wartezimmer der Hausarztpraxis, die im Ärztehaus untergebracht war, und ich blätterte in irgendwelchen Illustrierten, die schon Wochen alt waren. Nachdem ich den xten Bericht über ein sich trennendes Schauspielerpärchen gelesen hatte, verlor ich die Lust und legte die Zeitungen beiseite.

Die alten Omas waren inzwischen weg. Ich starrte angestrengt auf das mir gegenüber an der Wand hängende impressionistische Gemälde. Mir fiel auf, dass dasselbe Bild früher auch in der Schule gehangen hatte, im Krankenzimmer. Mann, wie ich es dort gehasst hatte…

Plötzlich ertönte neben mir ein lautes Seufzen und ich sah, wie Gero sich das Gericht rieb.

„Oh, ich hoffe wirklich, dass sie nicht krank ist. Ich weiß, dass sie das nicht aushalten würde…“, murmelte Gero.

„Ja, sie war schon immer ziemlich empfindlich…“

Oh, ein Gespräch zwischen uns. Hatten wir uns überhaupt schon mal so richtig unterhalten?

„Das war sie schon früher, ja. Als ich sie angesprochen habe, dachte sie zuerst, ich wäre irgendso ein Irrer, und hat mich total ignoriert.“

„Wie lange ist es schon her, dass du Lea angesprochen hast?“

„Zwei Jahre müssten es jetzt sein.“ Gero nahm seinen Kopf zurück und dachte angestrengt nach. „Ja, letzte Woche waren es genau zwei Jahre.“ Er lachte. „Wir hatten diesen Unikurs zusammen. Es ging irgendwie um Shakespeare oder so was. Ich habe sie gefragt, ob ich ihr nachhelfen soll.“

„Und da hat sie Nein gesagt?“

„Ja, wahrscheinlich waren meine Worte etwas unglücklich gewählt. Obwohl ich gar nicht mehr genau weiß, was ich gesagt habe. Aber irgendwann ließ sie sich dann von mir zu einem gemeinsamen Kaffee im Studentencafé überreden. Und ungefähr einen Monat später waren wir dann zusammen. Ich könnte dir sogar noch den Tisch zeigen, an dem Lea und ich damals gesessen haben. Kennst du den Tisch hinten rechts in der Ecke, wo das Herz eingeritzt ist?“, fragte er.

Ich nickte. „Ich arbeite ja dort.“

„Oh, wirklich? Ich habe dich ja schon lange nicht mehr dort gesehen.“

„Ja, ich habe in der letzten Zeit viel um die Ohren gehabt wegen diesen Politikseminaren. Aber morgen will ich wieder hin. Da fällt diese eine Vorlesung aus, also habe ich den ganzen Tag Zeit.“

„Und du studierst also Politik?“

„Ja“, seufzte ich. „Ich hatte in der Schule Supernoten darin und fand es auch ganz interessant, aber so als Vollzeitstudium… ätzend.“

„Das ist nur am Anfang so. So ab dem zweiten Semester gewöhnt man sich daran.“

„Dann wird’s ja Zeit.“

Wir lachten beide.

Eine ganze Weile unterhielten wir uns noch. Als ich gerade anfangen wollte, die Geschichte mit Freddy in Paris zu erzählen, riss plötzlich jemand die Tür auf und ich sah, wie Lea auf einer Trage herausgebracht wurde.

Krümelmonster, Teil 7

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Es war Hannes.

Er war ein Bild von einem Mann.

Er hatte einen Traumkörper. Hatte nicht mal irgendjemand erwähnt, dass er Sport studierte?

Da er mir den Rücken zugewandt hatte, bemerkte er mich nicht. Er seifte sich gerade mit diesem unheimlich gut riechenden Männerduschgel ein.

Das Seifenwasser rannte ihm Blasen werfend den Rücken herunter. Wie gebannt starrte ich auf diese Rinnsale.

Mein Gehirn sagte mir, dass ich den Vorhang jetzt besser schließen sollte. Aber ich konnte nicht.

Und da drehte er sich um.

Er sah mich an.

Ich sah ihn an.

Das Wasser rannte seinen Körper runter.

Absurderweise bemerkte ich gerade, dass er grüne Augen hatte. Ich erinnerte mich plötzlich an einen Augenblick vor sechs Jahren, in dem Anna und ich im Klassenraum der damaligen 9c über unsere Traummänner diskutiert hatten. „Und er muss auf jeden Fall grüne Augen haben!“, hatte ich damals zu ihr gesagt, das wusste ich ganz genau.

Er sah mich immer noch an.

„Oh, äh, hi, ich wollte nur, äh, duschen…“, stammelte ich.

Er sah mir intensiv in die Augen. So intensiv hatte mich noch nie in meinem Leben jemand angesehen. „Weißt du, dass du unheimlich attraktiv aussiehst?“

„Das Gleiche kann ich von dir behaupten…“

Ich ließ mein super duftendes Orangenblütengel und den dämlichen Waschlappen fallen. Mit einem leisen Geräusch kamen sie unten an. In dem Augenblick war kein Laut mehr zu hören, nirgendwo.

Dann ging alles ganz schnell. Er fasste mich am Hals und zog mich in die Duschkabine, an sich und küsste mich intensiv. Mit Zunge. Das hatte ich überhaupt noch nie getan. Die Dusche verteilte ihr Wasser über uns und machte mich samt Handtuch total nass. Aber das war mir egal. In meinem Kopf explodierten Funken. Er wanderte mit seinen Lippen vom Mund zur Wange, den Hals herunter, und wieder zurück. Mit der einen Hand hielt er mich im Arm, mit der anderen drehte er das Wasser ab.

Wir stolperten über den Zimmerflur und pressten dabei die Körper eng aneinander, sodass mein Handtuch weiterhielt, obwohl es sich eigentlich schon gelöst hatte. Mehrmals liefen wir dabei gegen die Wand, denn die Augen hielt ich beim intensiven Küssen geschlossen. Irgendwie schaffte er es, die Zimmertür zu öffnen und uns beide auf sein riesiges Bett fallen zu lassen. Er zog mir das Handtuch, das schwer wie Blei auf mir lag, vom Körper. Dabei kam er nicht nur zufällig an meine Brüste, die er streichelte und mit der Zunge liebkoste. Es fühlte sich so gut an. Seine Hände berührten mich am ganzen Körper und ließen mich glauben, ich wäre im Paradies. Es fühlte sich an, als bestünde ich aus einem Eisberg, in dem ein Feuer war, der den Berg zum Schmelzen brachte. Meine Hände gingen auf Erkundungsreise und wanderten auf seiner Haut herum. Sie war gleichzeitig heiß und kalt, genauso wie ich. Ich bewegte meine Hände vom Rücken, auf dem ich einige erregte Kratzer hinterließ, zu seiner unteren vorderen Mitte und tastete mich dort entlang. Auch das hatte ich noch nie gemacht und es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Eigentlich hatte ich es mir nie richtig vorgestellt. Trotzdem schien es ihm zu gefallen, denn er stöhnte auf und wurde auf einmal noch wilder. Er küsste mich von meinen Brüsten abwärts, über die Hüften bis auf die Beine und die Innenseiten meiner Schenkel hoch. Mir liefen Schauer über den Rücken. Jetzt streichelte er mich in der unteren Mitte meines Körpers und brachte dort Gefühle zum Vorschein, die ich noch nie gehabt hatte und so unendlich gut taten. Ich massierte seinen ganzen Körper, besonders die eben erwähnte Stelle, und er bäumte sich auf und ließ mich seine gesamte Männlichkeit spüren. Wir wurden beide immer lauter und immer erregter. Jetzt langte er mit der rechten Hand unter sein riesiges Bett, dessen Breite wir voll auskosteten, und streifte sich das, was er dort fand, über. In einen Pariser verpackt, fühlte er mit seinen wundervollen Händen kurz vor und war in mir. Es war in jeder Hinsicht, so sagten die Franzosen, wie ein kleiner Tod. Es tat weh, aber das merkte ich kaum, weil ich so unter Strom stand und sich in meinem Kopf ein ganzes Feld von Blumen auftat, ich schloss die Augen und mir entfuhr ein lauter, lustvoller Schrei. Irgendwann sank ich ermattet zusammen und er ließ sich neben mich fallen. Er küsste mich auf beide Seiten meines Halses und dann auf den Mund.

„Na, hat es dir gefallen?“, fragte er mich und streichelte dabei über meine Haare.

„Es war das Schönste, was ich je erlebt habe“, seufzte ich glücklich.

„Hast du denn überhaupt schon mal…?“, fragte er mich und betonte dabei das hast auf eine besondere Weise.

„Nein. Aber ich könnte mir nicht vorstellen, dass es jemals schöner werden könnte…“, antwortete ich und schloss die Augen. Es war bereits ziemlich spät, das Erste, was ich wieder bewusst mitbekam.

„Du bist ja ziemlich müde, meine Hübsche“, flüsterte er mir ins Ohr.

„Du hast mich auch ins Schwitzen gebracht“, murmelte ich und zwinkerte ihm zu. „Machst du das eigentlich immer?“

„Was meinst du?“

„Mit einer anderen schlafen, obwohl du vergeben bist?“

Jetzt setzte er sich auf und vergrub sein Gesicht in beiden Händen. „Die Beziehung mit Kati ist immer schwieriger geworden. Ich habe mit ihr Schluss gemacht und sie ist heute Morgen gefahren. Sie wird nie wiederkommen. Und wenn ja, dann ist es mir egal, denn sie bedeutet mir überhaupt nichts mehr.“

In dem Augenblick knallte eine Tür. Wir beide zuckten zusammen, besannen uns aber wieder auf uns beide.

„Dass sie einen Mann wie dich nicht zu schätzen weiß, war ja klar“, brummte ich und lächelte ihn an.

Dann gähnte ich. „Du solltest wirklich schlafen. Sonst kommst du morgen nicht rechtzeitig in die Uni, meine Hübsche“, wisperte er mir zu.

„Die Uni ist mir so was von egal“, rief ich und zog ihn zu mir runter, da ich ihm noch einen Gute-Nacht-Kuss geben wollte, und was für einen…

 

Am nächsten Morgen war mein ganzes Leben irgendwie anders. Habt ihr, verehrte Leser, mal den Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“ gesehen? Dort fand die Protagonistin Selbsterfüllung, indem sie einem Menschen, der früher in ihrer Wohnung gelebt hatte, Schätze aus seiner Kindheit zukommen ließ. Sie ging durch Paris, die Sonne schien, und sie war vollkommen im Einklang mit sich selbst. Genauso ging es mir jetzt. Ich lief durch Frankfurt, die Sonne schien für mich, obwohl es in Wahrheit bestimmt regnete, und ich fühlte mich unheimlich toll. Die Uni überstand ich wie nichts, stellte in der Vorlesung Dutzende Fragen, war also unheimlich präsent, arbeitete sogar gerne in meiner eigentlich aufgezwungenen Arbeitsgruppe mit. Sonst fand ich meine Kommilitonen immer voll nervig, aber jetzt fand ich sie so interessant wie sonst was. „Was ist denn mit dir los?“, fragte dieses blonde Mädchen, dessen Namen ich nie wusste, und ich antwortete: „Ich bin heute einfach supergut drauf.“

In der Mittagspause traf ich in der Mensaschlange, dessen Länge mir natürlich überhaupt nichts ausmachte, auf Anna.

„Sag mal, was ist denn mit dir los?“, wollte sie neugierig wissen.

„Das bleibt mein kleines Geheimnis“, antwortete ich und zwinkerte ihr, immer noch dauergrinsend zu.

Irgendwann verriet ich es ihr schließlich. „Hannes und ich haben, du weißt schon…“ Kicher!

„Nein, nicht wirklich, oder?“ Anna riss die Augen vor Erstaunen weit auf.

„Doch!“ Ich nickte grinsend mit dem Kopf.

„Wie, ernsthaft?“

„Ja, natürlich ernsthaft!“

Anna machte immer noch große Augen. Doch dann erfolgte nicht die Reaktion, die ich erwartet hätte. Ich dachte eigentlich, sie würde jetzt so etwas sagen wie: „Wow, du hast zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen? Toll!“ Oder so etwas in der Art. Stattdessen kam von ihr nur der Kommentar: „Au Backe!“ und sie nahm ihr Gesicht in ihre Hände.

„Was ist denn los?“, fragte ich, nun nicht länger lächelnd.

„Du fragst mich, was los ist?“ Anna schaute mich an. „Du verschwendest deine Jungfräulichkeit an so einen Typen? Stadtbekannter Casanova? Der hatte schon mit so ziemlich jeder Frau an der Uni was, einige Dozentinnen mit eingeschlossen. Und jetzt kommst du an und lässt dich auch noch in seinem Portfolio auflisten? Oh Mann, ich hätte dich eigentlich für intelligenter gehalten.“

„Ich weiß doch auch nicht, was da passiert ist“, verteidigte ich mich. „Es war höhere Gewalt. Der kam einfach so in mein Zimmer und hat mich vollgequatscht und ich hab ihn rausgejagt… Aber als wir uns dann in der Dusche getroffen haben, da…“

„Wie, ihr habt euch in der Dusche getroffen?“, wollte Anna wissen.

„Na ja, ich wollte halt duschen gehen und da hab ich den Vorhang aufgerissen, und er stand da nackt und dann kam eins zum anderen…“, erzählte ich.

„Eins kam zum anderen, soso. Na ja, ich hoffe nur, dass es dir nicht am Ende so geht wie all den anderen armen Tussis.“

„Wie meinst du das?“

„Nun ja“, sagte Anna und nahm sich einen Teller Gemüsemaultaschen von der Anrichte, „der reißt halt ständig eine auf und lässt sie dann wieder fallen.“

Während ich mir ebenfalls Gemüsemaultaschen auftat, fragte ich: „Glaubst du, das hat mich in dem Moment interessiert? Ich hab ja auch nicht darüber nachgedacht, ob Hannes und Kati jetzt noch zusammen sind oder nicht.“

Wir bezahlten unser Essen und nahmen unser Besteck.

„Das weiß man bei den beiden nie so genau. Die haben so eine On-Off-Beziehung…“ Anna setzte sich an einen Tisch und ich tat es ihr gleich. „Alles, was ich dir sagen wollte, ist doch: Pass auf, dass du dich nicht in den Typen verliebst, der ist gefährlich. Und nimm dich in Acht vor Kati. Mit der ist überhaupt nicht gut Kirschen essen.“

„Ich wollte doch nicht gleich eine Beziehung mit ihm anfangen“, lachte ich. „Und vor der dummen Pute hüte ich mich doch. Die kann mir gar nichts.“