Ich starre aus dem Fenster. Hinter mir reden die Menschen, die durch das Gebäude wuseln und Teenager herumscheuchen. Wenn es gut läuft, bringen sie den Teenagern auch noch etwas bei. Auch heute reden sie nicht mit mir. Nicht dass mich das überrascht.
Zwei Tische weiter sitzt die große Frau mit aschblondem Pferdeschwanz, die es nie für nötig hält, ihre Schüler zu begrüßen. Gleichzeitig wundert sie sich, warum sie es nicht schafft, ihren Zehntklässlern die Bedeutung deutscher Lyrik nahezubringen. “Es klappt nicht mal, wenn ich sie selber was schreiben lasse!” Der Junge, der – weil er ja immer nur Mist baut – direkt vor ihrem Pult sitzt, hat etwas vorgetragen, das mit wunderschönen Versen über eine Winterlinde anfing, nur damit dann am Ende Geschlechtsverkehr und Morde unter besagter Linde vorkamen. Sie überlegt laut, weitere Schritte einzuleiten, aber seine Eltern interessieren sich ja auch für nichts.
Am gleichen Tisch sitzt die schlanke Frau, die zwar ungefähr mein Alter hat, aber schon perfekt das versauerte Gesicht ihrer zwanzig Jahre älteren Kolleginnen draufhat. Sie unterrichtet den Jungen, der das Gedicht geschrieben hat, in Biologie und nimmt gerade Bäume durch. Ich schätze, der Junge ist so auf die Linde gekommen. Ich glaube, die Biologielehrerin könnte den Schülern so viele wichtige Infos vermitteln. Sie könnte ihnen erzählen, dass Winterlinden hier heimisch sind, erst ab Ende Juni blühen – das wären jetzt noch vier Monate –, 2016 Baum des Jahres waren, Quelle für Tees und Arzneimittel sind oder dass sich sogar die Gothic-Band ihres Neffen danach benannt hat, und nichts davon würde im Kopf der Schüler hängen bleiben, weil sie kein didaktisches Talent hat. Ich selbst weiß so was auch nicht aus der Schule.
Eigentlich sollte ich gerade nicht im Lehrerzimmer sitzen und darüber nachdenken, wie ich nie ins soziale Gefüge der Lehrkräfte passen werde, die sich hier unterhalten, scherzen, lachen, Tipps und Infos austauschen. Ich sollte auf den mir anvertrauten Schüler aufpassen, der gerade das pädagogische Angebot in der Turnhalle nutzt, weil es theoretisch möglich wäre, dass er wegen irgendetwas ausflippt und Schuleigentum malträtiert. Ich muss aber gerade darauf vertrauen, dass das diesmal nicht passiert. Ich kann das einfach nicht mehr. Ich habe keine Lust auf Ohrenschmerzen durch Kampfschreie, Schüler, die ihre Kommunikation nicht anders gestalten können, als laut zu sein, und den Aufsicht führenden Lehrer, der dem FSJler mitteilt, welche Schüler jetzt schon wieder was verbrochen haben und wie schlecht es der heutigen Pädagogik doch geht. Trotz des sich hinter mir abspielenden Geplauders glaube ich nicht, dass irgendwer gerne an dieser Schule ist. Auch ich habe die Freude nach dem dritten Wutausbruch meines Schülers aufgegeben. Aber solange ich nicht versetzt werden kann, bleibt mir keine andere Wahl, als in diesem Höllenloch zu sein. Ehe ich noch weiter darüber sinnieren kann, wie furchtbar mein Leben ist, gongt es und ich gehe Richtung Klassenzimmer.
Mein Kopf dröhnt. Es ist endlich 13 Uhr, aber mein Kopf dröhnt. Nach ein paar leeren Worten an meinen Schüler und seine Mutter schlurfe ich davon. Irgendwie erreiche ich den Bus, der mich zu meiner Wohnung bringt. Immer noch Schüler um mich rum, aber nun kann ich wenigstens Ohrenstöpsel benutzen, ohne dass irgendwer schief guckt. Die Strecke zieht sich, weil auf dem Weg eine Baustelle ist. Dass die Pubertiere hinter mir das Aussehen der Bauarbeiter kommentieren, registriere ich kaum.
In meinem kleinen Einzimmerapartment angekommen streife ich die Schultasche ab, schließe die Augen und atme tief durch. Dann gehe ich zur winzigen Küchenzeile und gieße mir einen Schluck Wasser ein. Langsam rinnt es meine Kehle runter. Ich habe nur eine Stunde Zeit, bis ich wieder losmuss. Mein bester Freund hat mich zu sich eingeladen. Er ist der Einzige, der mich ab und zu noch aus dem Haus zwingt, und das Einzige, auf das ich mich im Leben noch freue. Früher war ich aktiver, ging auf Demonstrationen, aber das hat sich alles irgendwann im Sande verlaufen.
Schnell schmeiße ich einige Lebensnotwendigkeiten in meinen Rucksack und fahre wieder los. Bus zum nächsten Bahnhof. Umstieg in einen Regionalexpress, der mich in die nächste Großstadt bringt. Ich sehe einige Schüler meiner Schule, aber die haben genauso wenig Bock auf mich wie ich auf sie.
Ich höre etwas Musik. Sie trägt dazu bei, dass mit fortschreitenden Kilometern Schule, Einsamkeit und Dorfleben hinter mir verschwinden und die Gedanken sich leeren. Gleichmütig ertrage ich Umstieg und weitere Bahnfahrt, die Schienenkilometer schieben sich unter mir vorbei wie eine Graubrotscheibe durch meinen Verdauungstrakt. Ohne große Leidenschaft in die eine oder andere Richtung nehme ich sie hin.
Irgendwann fährt der private Regionalzug an einem Supermarkt vorbei. Er ist der erste Ausläufer der Stadt, in die ich muss. Einfamilienhäuser, verschmutzte Wohnblocks und irgendwann immer mehr Häuser. Da der Zug pünktlich ist, was nicht oft vorkommt, schreibe ich dem Freund, den ich besuche, die voraussichtliche Ankunftszeit an seinem Haus. Dann sehe ich wieder aus dem Fenster.
Ein großer Hafen mit Containerkränen. Wenn ich nicht früher schon Bilder gemacht hätte, würde ich jetzt welche machen, für meinen Freund aus der Schweiz, der Kranbilder sammelt. Ob er wohl das große Kranballett kennt, das vor 25 Jahren am Potsdamer Platz in Berlin aufgeführt wurde? Oder die Nachbildung des Brandenburger Tors aus künsterisch bemalten Containern? Ich schreibe ihm und natürlich lautet die Antwort bei beidem Ja. Ich muss leicht grinsen, zum ersten Mal heute.
Wenig später kommt der Zug an. Ich fahre mit der U-Bahn, es sind nur wenige Stationen, dann bin ich direkt an der Wohnung meines besten Freundes. Ich klingle. Schnell öffnet er mir.
“Nina! Schön, dass du da bist!”, ruft Carsten und umarmt mich. Dann bittet er mich herein. Ich bemerke, dass sein Fernseher läuft.
“Seit wann stehst du auf Tennis?”, frage ich Carsten. Er mustert kurz den Fernseher und antwortet: “Seit ich bemerkt habe, dass die eine Spielern beim Abschlag immer einen orgastischen Schrei ausstößt.” Ich lache. “Nein, im Ernst, ich habe einfach durchgezappt, während ich auf dich und das Essen im Ofen gewartet habe.” Carsten ist der beste Koch der Welt, also freue ich mich.
Wir genießen den Auflauf, den er zubereitet hat. “Oh, das schmeckt mir so gut”, verkünde ich, und er sogleich “etwas anderes schmeckt mir aber gar nicht!”.
“Was ist denn los?”
“Seit du an dieser einen Schule arbeitest, wirkst du so niedergeschlagen und schlecht gelaunt.”
“Das wärst du auch, wenn du nonstop mit unfähigen Lehrern, Schülern mit Wutausbrüchen und Lärmproblemen und ständiger Unlust konfrontiert wärst. Und ich habe meinem Chef schon gesagt, dass ich da wegwill, aber er findet gerade nichts Neues.”
“Auf jeden Fall läuft etwas falsch, wenn du nur noch für die Schule und mich aus dem Haus gehst”, sagt er und gießt sich etwas Cola ein.
“Wofür sollte ich auch? Ich wohne mitten im Nirgendwo, wenn ich da vor die Tür trete, sehe ich nur nervige Bratzen von meiner Arbeit und die Freiwillige Feuerwehr.”
“Du könntest ja schauen, ob du wieder wie früher in einen Kampfsportverein eintrittst. Irgendwo gibt es bestimmt was.”
“Dann könnte ich dich auch wieder umlegen, wenn du mal wieder frech wirst”, sage ich und recke ihm mein Kinn leicht entgegen.
Er lacht leise. “So gefällst du mir viel besser.”
Ich lächle. “Vielleicht sollte ich mehr in deine Nähe ziehen, wäre ja vielleicht ganz gut für uns beide.”
“Zunächst haben wir erst mal das Wochenende”, antwortet Carsten gewohnt realistisch. Ich nicke und schaue aus der Balkontür in die untergehende Sonne, Kräne im Hintergrund.